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NaturFreunde-Chef Müller: „Wir brauchen eine neue Idee von Fortschritt“

Seit 30 Jahren ist der SPD-Umweltpolitiker Michael Müller Vorsitzender der NaturFreunde. Gerade wurde er für zwei weitere Jahre im Amt bestätigt. Im Interview kritisiert er die Inhaltsleere der Ökologiebewegung und sagt, woran er bei der SPD leidet.

von Kai Doering · 30. April 2025
Michael Müller, Vorsitzender der NaturFreunde

NaturFreunde-Vorsitzender Michael Müller: Ich leide sehr darunter, dass die SPD in der Friedensbewegung kaum eine Rolle mehr spielt.

Am vergangenen Wochenende haben sich die „NaturFreunde“ zu ihrem Bundeskongress in Kaiserslautern getroffen. Das Motto lautete: „Unsere Zeitenwende: Frieden mit Mensch und Natur“ – ein bewusster Verweis auf die Aussagen von Olaf Scholz nach Russlands Angriff auf die Ukraine?

Ja, natürlich, denn wir können nicht nachvollziehen, dass die verhängnisvolle Militarisierung von Politik und Gesellschaft eine Zeitenwende sein soll. Stattdessen brauchen wir eine neue Idee von Fortschritt, wollen wir die Ideen der europäischen Moderne retten. Wir erleben die ökologischen Grenzen des Wachstums, wir erleben ein sehr viel kritischeres Verhältnis zum technischen Fortschritt, wir erleben eine Krise der liberalen Demokratie, wir erleben eine Verschiebung der Welt von West nach Ost und vieles mehr. Und in so einer Situation kann man die Zeitenwende nicht militärisch reduzieren. Und obendrein muss ich hinzufügen, dass das, was jetzt an Geld ausgegeben wird, um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erfüllen, vermutlich ausreichen würde, um den Klimawandel deutlich stärker zu begrenzen – und damit den größten Kriegsgrund der Zukunft.

Trotzdem ist die Weltlage wie sie ist, mit einem aggressiv auftretenden Russland und Staaten, die eher auf das Recht des Stärkeren setzen.

Das ist wahr, aber da muss man auch sehen, dass der Verteidigungsetat der NATO-Staaten ohne Amerika höher ist als der gesamte russische Staatshaushalt. Frankreich und Deutschland geben zusammen mehr fürs Militär aus als Russland. Das geht mir in der derzeitigen Diskussion häufig unter. Leider wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten historische Chancen verpasst, zu einer friedlichen Kooperation mit Russland zu kommen. Wie haben es nicht geschafft, zu einer „Europäisierung Europas“ und zu einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur zu kommen. Natürlich gibt es keine Rechtfertigung dafür, dass Russland diesen schrecklichen Krieg begonnen hat, aber jeder Krieg hat seine Geschichte und in diesem Fall gibt es ein Versagen auf beiden Seiten.

Michael
Müller

Ich leide sehr darunter, dass die SPD in der Friedensbewegung kaum eine Rolle mehr spielt.

Wie stellen Sie sich eine friedliche Lösung des Kriegs in der Ukraine vor?

Wir sollten uns auf das besinnen, was in der Vergangenheit in der UNO erfolgreich gewesen ist. In den 80er Jahren waren wir ja schon sehr viel weiter durch sozialdemokratische Ideen wie einen Dreiklang von Nord-Süd-Solidarität, Stichwort Brandt, gemeinsamer Sicherheit, Stichwort Palme und Nachhaltigkeit, Stichwort Brundtland. Das war eine Einheit für eine bessere Welt. Das alles spielt heute überhaupt keine Rolle mehr. Seit 2012 wird von konservativer Seite an einer Remedur des Bellizismus gearbeitet. Konkret auf die Ukraine bezogen verstehe ich nicht, warum der Westen nicht von Anfang an erklärt hat, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht infrage kommt. Der Vorschlag, den Donald Trump jetzt vorgelegt hat, ist dagegen sowohl für die Ukraine schlecht als auch für die Europäer. Aus dem russischen Angriffskrieg wird jetzt eine Ausbeutung der ukrainischen Ressourcen durch die Investmentfirma „BlackRock“.

Beim Bundeskongress wollen sich die „NaturFreunde“ vor allem mit ihrem eigenen Selbstverständnis und ihrem Programm für die kommenden Jahre beschäftigen. Welche Rolle wird der Frieden dort spielen?

Frieden ist eine der Gründungsideen der NaturFreunde. Am 3. Mai starten wir bereits unsere dritte NaturFreunde-Wanderung für Frieden und Abrüstung, diesmal Beginn in Den Haag in den Niederlanden und Ende in Bremen. In unseren Reihen hatten wir den Hitler-Attentäter Georg Elser und auch den Friedensnobelpreisträger Willy Brandt. Es gibt also viele Grundlagen, die wir wieder aufgreifen können. Ich leide sehr darunter, dass die SPD in der Friedensbewegung kaum eine Rolle mehr spielt.

Welche Schwerpunkte setzen sich die „NaturFreunde“ darüber hinaus für die kommende Zeit?

Leider ist die Ökologiebewegung programmatisch ziemlich entleert, da sie es nicht geschafft hat, den gesellschaftsreformerische Sprung zu machen. Die Gesellschaft wurde über Jahrhunderte geprägt von der Idee, schneller höher weiter. Das funktioniert aber nicht mehr. Deshalb stellt sich die Gerechtigkeitsfrage neu, auch die Frage, wie wirtschaftliche Entwicklung organisiert werden muss. Leider gibt die Politik hier keine ausreichenden Antworten und ich finde auch die Koalitionsvereinbarung in dieser Frage nicht sehr überzeugend.

Michael
Müller

Unser Problem ist, dass wir, obwohl die NaturFreunde überparteilich sind, einen sozialdemokratischen Stempel tragen, aber viel zu wenig Unterstützung von SPD und Gewerkschaften erhalten.

Von anderen Umweltverbänden wurde der Koalitionsvertrag bereits kritisiert. Wie bewerten ihn die „NaturFreunde“?

Zunächst möchte ich noch etwas zur Ampel-Regierung sagen. Hier haben die Grünen im Klima- und Umweltbereich katastrophal versagt und ihre Ansprüche nicht mal im Ansatz eingelöst. Die Zuständigkeit fürs Klima wurde auf drei Ministerien aufgeteilt und statt eines Gesamtkonzepts gab es nur einzelne Maßnahmen, die nur eine geringe Wirkung entfalten konnten. Zudem haben die Grünen das Umweltministerium komplett demontiert. Deshalb bin ich froh, dass die SPD künftig wieder den Umweltminister stellen wird. Hier erwarte ich, dass sie aus einem sozialen Verständnis heraus ein umfassendes Konzept für die Klimapolitik entwickelt.

Wie sollte das konkret aussehen?

Ein wichtiger Ansatz wäre eine ökologische Industriepolitik und die Entwicklung einer ökologischen Dienstleistungspolitik. Der Umgang mit den Naturgütern muss nach einer Dienstleistungsstrategie unter den Oberzielen der Vermeidung, des Kreislaufs und des nachhaltigen Schutzes der natürlichen Mitwelt erfolgen.

Reichen die Vorschläge des Koalitionsvertrags dafür aus?

Der Koalitionsvertrag ist an vielen Stellen vage. Ich hätte mir gewünscht, dass die SPD deutlich stärker auf Fragen eingegangen wäre wie bessere Infrastruktur und Speichertechnologien für erneuerbare Energien sowie eine Kreislaufwirtschaft geschaffen werden. Ich würde auch die Energiebörse abschaffen, die den neuen Gegebenheiten nicht gerecht wird. Stattdessen wäre es wichtig, eine Effizienzrevolution mit Technologien zu fördern, die den Energieverbrauch deutlich reduzieren, auch über einen verringerten Mehrwertsteuersatz für Effizienztechnologien.

Nochmal zurück zu den „NaturFreunden“: Sie sind in diesem Jahr 30 Jahre Vorsitzender. Wie hat sich der Verband in dieser Zeit verändert?

Die Themen sind im Grunde dieselben geblieben, aber die Gewichtung hat sich verändert. In den letzten Jahren hat das Thema Frieden – auch durch Klimaschutz – deutlich an Bedeutung gewonnen. Ansonsten haben wir NaturFreunde als erste viele Verbindungen zwischen Ökologie und anderen gesellschaftlichen Feldern aufgegriffen, etwa der Frage des Wohnens. Unser Problem ist aber, dass wir, obwohl die NaturFreunde überparteilich sind, einen sozialdemokratischen Stempel tragen, aber viel zu wenig Unterstützung von SPD und Gewerkschaften erhalten. Beide haben die NaturFreunde nie als „ihre“ Umweltbewegung begriffen. Vielleicht ändert sich das eines Tages ja noch.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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6 Kommentare

Gespeichert von Helmut Gelhardt (nicht überprüft) am Sa., 03.05.2025 - 12:01

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Das Statement und Fazit von Michael Müller ist - leider - richtig!
Michael Müller und andere z.B. auch im BUND, NABU sind ' Einsame Rufer in der Wüste ' der komplexen, übergroßen sozialen und ökologischen Unvernunft aller Regierungskoalitionen auf Bundesebene der jedenfalls letzten 20 Jahre. Der neuen Groko unter Führung von BlackRock-Merz, CDU, und n i c h t Willy Brandt/Egon Bahr-fixiertem Lars Klingbeil traue ich keine entscheidende Verbesserung zu. Svenja Schulze mag sich aufrichtig mühen. Aber sie steht im engen Korsett dieses sehr defizitären Koalitionsvertrages. Das Programm der künftigen Groko ist fokussiert auf 'Kriegstüchtigkeit', Migrationsabwehr, Bürgergeld- und Mindestlohndiskreditierung, steuerliche Verschonung der Reichen und Superreichen und und und. Und die maßgeblichen Koalitionsvertragsverhandler der Bundes-SPD haben sich d e m ergeben.
Helmut Gelhardt, Mitglied der NaturFreunde, des BUND und des Sozialverbands KAB.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Sa., 03.05.2025 - 15:38

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SPD-Umweltpolitiker Michael Müller kommt mit einem Beitrag in den Vorwärts – ich spreche hier nur über die erste Hälfte seines Artikels –, mit dem er sowohl dem herrschenden Narrativ der SPD, als auch dem zentralen Narrativ all unserer Kriegstüchtigen widerspricht: „Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass Russland diesen schrecklichen Krieg begonnen hat, aber jeder Krieg hat seine Geschichte und in diesem Fall gibt es ein Versagen auf beiden Seiten“. Müller bezieht sich hier auf die historische Genese des Ukraine-Krieges, die sich zusammenfassen lässt auf die Nato-Strategie (, die EU verfolgt die gleiche Strategie,) der Osterweiterung und der russischen, die Nato als direkten Nachbarn zu verhindern. Nato und EU rechtfertigten ihre strategische Ausdehnung wertebasiert damit, dass die neuen Mitglieder das so wollten. Die Russische Föderation bestand schnörkellos-profan auf ihren dadurch gefährdeten Sicherheitsinteressen. Alle unsere Verantwortlichen wussten,

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Sa., 03.05.2025 - 15:42

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dass für die Russische Föderation die Aufnahme der Ukraine (und Georgiens) in die Nato der casus belli sein würde. Das hinderte die aber nicht daran, deren Nato-Beitritt seit 2008 (Nato-Gipfel in Bukarest) zielstrebig zu verfolgen. Heinrich August Winkler („Die Legende von der versäumten Chance“, 27. Juni 2022) beschreibt die zugespitzte strategische Situation so: „Versuche, mit Moskau über eine andere Form von Sicherheit (als die Nato-Aufnahme) für ehemalige Sowjetrepubliken wie die Ukraine oder Georgien ins Gespräch zu kommen, gab es nicht, ... der Westen hätte seine Prinzipien verraten“. Die unterschiedlichen strategischen Vorstellungen über den Status der Ukraine, neutral oder nato-gebunden, waren der entscheidende Grund dafür, dass sich das Konfliktfeld in einem Krieg entlud. Diese Auflösung des Konfliktfeldes haben wir nicht zu verantworten, wir hätten sie aber verhindern können - das ist das Versagen auf unserer Seite. Dieses Versagen nicht anzuerkennen,

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Sa., 03.05.2025 - 15:45

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nicht anerkennen zu müssen, hilft uns „imperiale Besessenheit“ Putins als alleinigen Kriegsgrund festzusetzen. Das ist unser Narrativ. Und Narrative ersetzen nun mal Fakten.

SPD-Umweltpolitiker Michael Müller „leidet sehr darunter, dass die SPD in der Friedensbewegung kaum eine Rolle mehr spielt“ - es ist eigentlich noch schlimmer: Die Friedensbewegung spielt in der SPD „kaum mehr eine Rolle“. Der Grund dafür ist, dass „nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem hat“ (Klingbeil 21.6.22), die sich als „grundlegende Neupositionierung sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik“ (Klingbeil, 19.10.22) in den „Sozialdemokratischen Antworten …“ (Berlin, 20.01.2023) nachlesen lässt. Für die SPD „ist es Zeit, unsere eigene Rolle in der Welt neu zu definieren und mehr Verantwortung für zu übernehmen für … eine regelbasierte internationale Ordnung“.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Sa., 03.05.2025 - 15:49

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Diese unsere Führungsrolle bringt uns „in Konkurrenz zu Machtzentren wie China und Russland, die andere Werte und Ziele verfolgen“. Natürlich ist „die eigene Stärke dafür eine Grundvoraussetzung“, und die „definiert sich aber auch über militärische Fähigkeiten“. Dass das auch eigene atomare Fähigkeiten einschließt, ist zwingend. Etwas zupackender: „Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen (Klingbeil 21.6.22), oder, wie es im letzten SPD-Wahlprogramm so treffend formuliert wurde: „Für uns sind militärische Stärke und Diplomatie zwei Seiten der gleichen Medaille“ (S. 54). Abgerundet wird dieser Bellizismus durch Pistorius` Forderung nach einer „kriegstüchtigen“ Gesellschaft.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Sa., 03.05.2025 - 15:50

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Dass nur von „konservativer Seite an einer Remedur des Bellizismus gearbeitet“ wird, ist leider eine völlig unzutreffende Beschreibung der SPD. SPD-Umweltpolitiker Michael Müller muss leidensfähiger werden, vielleicht sollte er sich gar Bombenfestigkeit antrainieren, denn bekanntlich überzieht uns Putin 2028/29 mit Krieg.
Die SPD wird vorbereitet sein.

„Wir brauchen eine neue Idee von Fortschritt“