Debatte

Michael Müller: Noch nie war die Entleerung der Politik so deutlich

Alle Parteien versprechen den großen Wandel, doch nichts passiert. Die wichtigste Herausforderung unserer Zeit wird verdrängt: Die Grenze des Wachstums ist erreicht. In Folge entkoppelt sich die Ökonomie von der Gesellschaft. Gerade die SPD ist gefragt, die Zukunft zu gestalten.
von Michael Müller · 9. November 2017
Bundestag Reichstag
Bundestag Reichstag

Von außen betrachtet wirkt die SPD aus der Zeit gefallen – altbacken, ausgelaugt und strukturkonservativ. Wo sind sie geblieben, die großen Debatten um Fortschritt, innere Reformen oder Entspannungs- und Weltpolitik? Welche Konsequenzen zieht sie aus der zentralen Aussage im Hamburger Grundsatzprogramm: „Das 21. Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert neuer Gewalt und erbitterter Verteilungskämpfe oder es wird ein Jahrhundert der Nachhaltigkeit“? Ist das heute, wo es darauf ankommt, vergessen?

Immer im Klein-Klein

Natürlich scheint nicht nur die SPD im Gestern stecken zu bleiben, sondern alle Parteien – die AfD sogar im Vorgestern. Zwar sprachen im vergangenen Bundestagswahlkampf alle Spitzenkandidaten von einem großen Wandel, der unserem Land bevorstünde. Aber danach kam nichts, wenn man den bekannten Ruf der FDP nach Anpassung an die Märkte außen vor lässt. Noch nie war die Entleerung der Politik so deutlich. Doch angesichts der Zwänge der Globalisierung wird vor allem von der SPD, der Partei des Friedens, der Demokratie und der Gerechtigkeit, viel mehr erwartet. Aber sie bleibt im Klein-Klein, unterscheidet sich wenig von den anderen etablierten Parteien.

Bei Schriftsteller Antonio Gramsci hieß es: „Alles hat ein Innen und ein Außen. Die Macht der Herrschenden ist immer auch die Ohnmacht der Beherrschten.“ Die SPD trägt einen gehörigen Anteil daran, dass das „System Merkel“ unser Land lähmt. Die Entpolitisierung trifft vor allem die SPD, die dem wenig entgegensetzt und deshalb dramatisch an Zustimmung verliert. Aber unser Land braucht eine starke linke Volkspartei, genauso die Europäische Union, zumal Europa seit zehn Jahren nicht aus dem Krisenmodus herauskommt.

Gefahren erkannt

Auf die Finanzmarktkrise folgten die Krisen des Euros und Griechenlands, der Brexit und der Auftrieb von Separatisten, die wachsenden Spannungen mit Russland und die globalen Fluchtbewegungen. Doch die größte Herausforderung unserer Zeit wird noch immer verdrängt: die Grenzen des Wachstums und die Folgen ihrer Überschreitung. Tatsächlich erleben wir die Geburt einer neuen Ära, leiden an den Wachstumsschmerzen des tief greifenden Wandels, der in erster Linie von einem kapitalgesteuerten gewinnorientierten Kapitalismus ausgeht. Mit ihm geht einher, dass die Ökonomie immer weniger sozial und ökologisch in die Gesellschaft eingebunden ist. Demokratie und Politik werden geschwächt.

Weil immer mehr Menschen die Gefahren erkennen oder zumindest unsicher sind, wie es weitergeht, gibt es eine große und wachsende Zahl an Menschen, die sich politisch engagieren. Das zeigen die großen Demonstrationen gegen die Freihandelsabkommen, das Engagement gegen den Klimawandel oder die Ablehnung des Rassismus. Ein eindeutiges Zeichen ist auch die große Zahl der Menschen, die sich für ein starkes Europa oder gegen die Erhöhung der Rüstungsausgaben einsetzen. Es müsste die Stunde der Politik sein und insbesondere die Stunde der Sozialdemokratie.

Es geht um Gerechtigkeit

Aber der Widerspruch wird größer: Die Wissenschaft kommt zu dem Ergebnis, dass die Menschheit in eine neue geologische Epoche eingetreten ist, in das Anthropozän, in dem der Mensch den größten Einfluss auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde hat. Damit ist sogar die ökologische Selbstvernichtung unserer Zivilisation denkbar geworden. Und die 23. Weltklimakonferenz in Bonn warnt davor, dass die Erderwärmung sich dramatisch beschleunigt. Doch die sozial-ökologische Transformation, um die es gehen muss, hat im Wahlkampf keine Rolle gespielt und spielt im Leitantrag für den SPD-Bundesparteitag auch keine Rolle.

Die SPD scheint leider nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Doch die Herausforderungen richten sich in erster Linie an die Sozialdemokratie, die ihre programmatische Idee des Fortschritts neu füllen muss, denn wir erleben die Geburt einer neuen Ära. Im Kern geht es um Gestaltungs- und Gerechtigkeitsfragen. Politisch sein heißt deshalb, längerfristige Entwicklungen zu erkennen, Zusammenhänge zu verstehen und Perspektiven aufzuzeigen. Die SPD muss der Krise unserer Zeit eine ganzheitliche Vision des Fortschritts entgegenstellen. Dafür muss sie soziale und ökologische Gerechtigkeit und mehr Demokratie miteinander verbinden.

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Autor*in
Michael Müller

war Sprecher der SPD in der Klima-Enquete des Deutschen Bundestages und ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde.

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