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30 Jahre AG SPD 60 plus: „Wir schauen mit Erfahrung auf die Welt“

Die Arbeitsgemeinschaft 60 plus in der SPD feiert in dieser Woche ihr 30-jähriges Bestehen. Warum es sie gibt und was sie auszeichnet, erklärt ihr Bundesvorsitzender Lothar Binding im Interview.

von Jonas Jordan · 17. Oktober 2024
Lothar Binding ist seit 2017 Bundesvorsitzender der AG 60 plus in der SPD.

Lothar Binding ist seit 2017 Bundesvorsitzender der AG 60 plus in der SPD.

Die SPD gibt es seit 161 Jahren, die Arbeitsgemeinschaft 60+ wird in diesem Jahr erst 30 Jahre alt. Warum?

Es gab mehrerer Gründungsversuche und stets eine Diskussion darüber, ob die SPD dann mit zu vielen Gesichtern auftritt. Hans-Ulrich Klose hat für eine Arbeitsgemeinschaft plädiert, die Parteispitze war gegen diese „Zerfaserung“. Es gab damals aber schon andere Arbeitsgemeinschaften wie die Jusos oder die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Jurist*innen (ASJ), die in diesem Jahr ihr 70-jähriges Bestehen feiert. Zugleich bekamen die Alten in der gesellschaftlichen Debatte durch zunehmende Altersarmut und Altersdiskriminierung eine größere Bedeutung. Dadurch wurde klar, dass man bestimmte Gruppen in der Gesellschaft besonders beachten und schützen sollte.

Und dann gab es einen Parteitagsbeschluss für die Gründung einer AG 60+?

Genau, der Antrag wurde nach langem Hin und Her beschlossen.

Hans-Ulrich Klose

Hans-Ulrich Klose war von 1991 bis 1994 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Er initiierte die Gründung der Arbeitsgemeinschaft 60 plus in der SPD und war ihr erster Bundesvorsitzender.

Vor 30 Jahren machte sich der SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose für die Gründung der Arbeitsgemeinschaft 60 plus in der SPD stark.

Inzwischen liegt das Durchschnittsalter der SPD-Mitglieder bei mehr als 60 Jahren. Warum braucht es trotzdem eine eigene Organisation für Seniorinnen und Senioren?

Wir schauen mit unserer Erfahrung auf alle Themen dieser Welt, aber wir bekennen uns auch dazu, dass wir alt sind. Es braucht eine erhöhte Sensibilität für das Thema Alter. Für jedes Alter. Wenn wir eine gute Verkehrspolitik vertreten, dann ist sie für Familien gut, für Frauen, Jugendliche, für Leute, die zur Arbeit müssen, für Kinder und auch für alte Leute. Wenn wir Friedenspolitik machen, ist das keine Friedenspolitik für die alten, sondern für alle. Wir schauen auf dieselben politischen Themen wie alle, aber eben aus einem anderen Raumwinkel und kommen deshalb auch gelegentlich zu anderen Problemlösungsvorschlägen. 

Kevin Kühnert hat als Juso-Vorsitzender mal gesagt, Juso zu sein, sei keine Frage des Alters. Ist das bei der AG 60+ genauso?

Ja. Ich wurde in Baden-Württemberg 2009 Landesvorsitzender, als ich 59 war. Es ist eine Frage, wie man sich inhaltlich positioniert, worum man sich kümmert. Zugleich wird die Gesellschaft insgesamt älter. Da ist es von Vorteil, wenn auch in der SPD die Älteren sichtbar sind, also die AG SPD 60 plus. Zum Beispiel am Infostand. Wenn ein älterer Mensch an den Infostand kommt, sucht er instinktiv erst mal jemanden mit grauen Haaren beziehungsweise aus seiner Alterskohorte.

Lothar 
Binding

Unser Hauptvorteil ist: Die meisten von uns wollen nicht mehr Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin werden. Deshalb können wir bestimmte Prozesse mit einer gewissen Entspanntheit beobachten und entsprechend agieren.

Unterscheidet sich die Parteiarbeit der AG 60 plus in ihren Kommunikations- und Aktionsformen von der der übrigen SPD?

Wir machen sehr viele Bildungsveranstaltungen, Fachvorträge. Übrigens kein PowerPoint – Flipchart. Sie helfen uns, selbst fit zu werden und dienen auch der innerparteilichen Diskussion, der Identifizierung von Problemlagen und ihrer Lösungsmöglichkeiten. Der Vorteil von uns: Wir wissen, wie es ist, wenn man jung ist, aber die Jüngeren wissen nicht, wie es ist, älter zu sein. 

In dieser Selbstreflexion können wir eine lange Geschichte überblicken und gewisse Entwicklungen sortieren und reflektieren, die in der Partei passieren oder geplant sind. Unser Hauptvorteil ist: Die meisten von uns wollen nicht mehr Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin werden. Deshalb können wir bestimmte Prozesse mit einer gewissen Entspanntheit beobachten und entsprechend agieren. Das machen wir nicht über die Öffentlichkeit, also öffentlichen Druck, sondern durch innerparteiliche Überzeugungsarbeit. Mich ärgert es manchmal etwas, wenn der Eindruck entsteht, es bewege sich erst etwas in Folge öffentlicher Druckmomente. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Konkretes Beispiel: die von den USA geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen allein in Deutschland. Da glaubt unser Bundesvorstand, dass die Debatte mit größerer Vorsicht geführt werden sollte, auf breiter gesellschaftlicher Basis und nach intensiver Diskussion im Bundestag. Es sollte nicht eilfertig, ohne tiefere Kenntnis über die Folgen und erst nach sensibler Abwägung entschieden werden. Das sagen wir auch mit Blick darauf, wie sich die SPD entwickelt, wie sie sich in der Gesellschaft positioniert, wie treu sie ihren Grundsätzen bleibt. Darauf können wir achten, weil wir nicht im Alltagsgeschäft gebunden sind. 

Sehen Sie bei dem Thema einen Generationenkonflikt in der SPD?

Es gibt keinen Generationenkonflikt. Der wird von Leuten künstlich erzeugt, die den wahren Konflikt verschleiern wollen. Der wahre Konflikt besteht zwischen Arm und Reich und nicht zwischen Jung und Alt. Auch die Jungen können kein Interesse haben, dass die Rüstungsindustrie expandiert, aber 20 Prozent der Jugendlichen keinen Abschluss haben, der sie befähigt, einen Beruf zu erlernen.

Welche Themen sind darüber hinaus für die AG SPD 60 plus wichtig?

Eine große Rolle spielen Gerechtigkeitsfragen. Wenn zum Beispiel Pensionärinnen und Pensionäre anteilig einen Inflationsausgleich bekommen, Rentnerinnen und Rentner jedoch nicht, obwohl die Pensionen im Durchschnitt dreimal so hoch sind wie die Rente, ist das ungerecht. Dabei wissen wir, dass der Durchschnitt der größte Lügner ist, weil er die Armut verschweigt und den Reichtum versteckt.

Lothar Binding ist Finanzexperte und Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft 60+ in der SPD.
SPDings – der „vorwärts“-Podcast

SPDings – der „vorwärts“-Podcast, Folge 28 mit Lothar Binding

23 Jahre lang saß Lothar Binding für die SPD im Bundestag. Doch auch nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament bleibt der Finanzexperte als Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft 60+ deutschlandweit aktiv. Immer mit dabei: der Zollstock, seit vielen Jahren das Markenzeichen des Heidelbergers.

Verfügbar auf: Spotify radiopublic Pocket Casts Google Podcasts

War die Corona-Pandemie mit Blick auf die vergangenen 30 Jahre die größte Zäsur für die AG 60+, weil sich die Parteiarbeit von heute auf morgen komplett in den digitalen Raum verlagert hat?

Hinsichtlich der Anforderungen an unsere Arbeit war es eine große Aufgabe, weil wir mit Online-Konferenzen nicht sehr vertraut waren. Aber ich habe gestaunt, mit welcher Geschwindigkeit die Vorstände und die Mitglieder sich darauf einlassen und damit umgehen konnten – nicht selten war anfangs im Hintergrund auf dem Bildschirm noch eine Enkelin oder ein Enkel zu sehen. Insgesamt ist die Sehnsucht nach persönlichen Kontakten und unmittelbaren Austausch in dieser Zeit jedoch sehr stark gewachsen.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus diesen Erfahrungen?

Wir brauchen viel mehr Schulungen, um auch unsere Mitglieder, immerhin mehr als die Hälfte aller Mitglieder in der SPD, stärker in die Social-Media-Welt führen. Denn die Älteren wählen zu 35 Prozent die SPD, also sozial und demokratisch, hier wäre der engere Austausch mit jungen Leuten, die zu unter 10 Prozent SPD, aber zweistellig rechtsextrem wählen, wichtig. Hier haben wir noch eine riesige Aufgabe. Unser Ehrgeiz muss es sein, in den nächsten Jahren uns in diese Welt viel stärker einzufinden, um Politik für jedes und mit jedem Alter machen zu können.

Bei der Landtagswahl in Brandenburg hat die SPD in der Altersgruppe der über-70-Jährigen 49 Prozent der Stimmen geholt. Werden die Alten mit Blick auf die Bundestagswahl zum Faustpfand für die SPD?

Wir tun gut daran, uns um die Generation 60 plus zu kümmern, dürfen aber keinesfalls die Jungen vergessen. Wir müssen schauen, was wir im Moment falsch machen, wenn wir die Jungen nicht mehr erreichen. Sie brauchen eine Perspektive, die sie gegen die Fakenews aus beispielsweise dem chinesischen Videoportal TikTok immun macht und sie wieder Vertrauen in unsere Partei schöpfen lässt. 

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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