Parteileben

Lothar Binding: Der Mann mit dem Zollstock hört auf

Mit der Bundestagswahl enden für Lothar Binding auch 23 Jahre im Parlament. Den meisten wird er wohl als „Mann mit dem Zollstock“ in Erinnerung bleiben. Dabei verdanken ihm gerade Nichtraucher*innen eine Menge.
von Kai Doering · 26. September 2021
Gerechtigkeit ist sein Maßstab: Nach 23 Jahren im Bundestag hört der SPD-Abgeordnete Lothar Binding auf.
Gerechtigkeit ist sein Maßstab: Nach 23 Jahren im Bundestag hört der SPD-Abgeordnete Lothar Binding auf.

Lothar Binding hat gern das letzte Wort. „Dann kommt man zwar meistens nicht ins Fernsehen, aber man kann auf alle seine Vorrednerinnen und Vorredner reagieren“, erklärt er seine Taktik. Wie viele Reden er in seinen 23 Jahren im Bundestag gehalten hat, weiß Binding nicht. Aber die allermeisten hat er erst während der Debatte im Plenum geschrieben – „um auf die Argumente meiner Vorredner zu reagieren“. Auf einem Tisch in seinem Bundestagsbüro stapeln sich kleine Kärtchen, auf denen Binding seine Reden der vergangenen Wochen notiert hat.

Es ist ein Vormittag im Juni. Lothar Binding sitzt bereits seit mehreren Stunden an seinem Schreibtisch in der zweiten Etage des Jakob-Kaiser-Hauses. Viele Bundestagsabgeordnete haben hier ihr Büro. Durch unterirdische Gänge gelangt man in wenigen Minuten ins Reichstagsgebäude – zumindest, wenn man so lange Beine hat wie Lothar Binding.

Viel Schlaf braucht Lothar Binding nicht

Der 71-Jährige hat sein Büro um halb acht betreten, nachdem er es um 20 vor drei in der Nacht verlassen hat. „Normalerweise mache ich um zwei Schluss und mache dann noch einen Umweg mit dem Rad auf dem Weg nach Hause“, erzählt er. Mit wenig Schlaf auszukommen, hat er sich bereits vor langer Zeit angewöhnt. Nach einer Lehre zum Starkstromelekriker in den 60er Jahren holte er auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur nach. „Da hieß es, morgens um sieben auf der Baustelle zu sein, nachdem man abends in der Schule gesessen hatte.“

„Dafür kann ich aber auf Kommando schlafen. Innerhalb von 30 Sekunden bin ich weg.“ Den wenigen Schlaf gleicht Lothar Binding mit Kaffee aus. Viel Kaffee. Mindestens zehn Tassen trinkt er am Tag, am liebsten Instant. Ein anderes Laster hat er dagegen schon vor Jahren aufgegeben. Es gab eine Zeit, da rauchte Binding mehr als vier Packungen Zigaretten am Tag. Erfahren kann man das in der Rubrik „10 Geheimnisse über Lothar Binding“ auf seiner Internetseite. Dort steht aber auch, dass er inzwischen als „Vater des Nichtraucherschutzes“ in Deutschland gilt.

Vom Kettenraucher zum Nichtrauer*innen-Schützer

„Dass man heute nicht mehr in Gaststätten rauchen darf, hat viel mit mir zu tun“, sagt Binding dazu selbst. 2006 war er im Bundestag Initiator eines parteiübergreifenden Gruppenantrags zum Nichtraucherschutz. Dieser gilt als Anstoß und Grundlage des Nichtraucherschutzgesetzes, das der Bundestag 2007 beschloss. Zahlreiche Länder folgten, zum Teil sogar mit strengeren Regelungen. Wie es zum Wandel kam, erklärt Binding ganz sachlich: „Das Deutsche Krebsforschungszentrum ist in meinem Wahlkreis.“ 2008 hat er ein Buch darüber geschrieben. „Kalter Rauch. Der Anfang vom Ende der Kippenrepublik“ lautet der Titel. Einige Exemplare stehen noch in seinem Büro im Regal. Der Großteil seiner Bücher ist im Juni bereits in Kisten verpackt. Bis zur Bundestagswahl muss alles ausgeräumt sein, denn nach 23 Jahren im Bundestag hört Binding auf.

„Ich kandidiere nicht mehr für den Bundestag, damit junge Leute ins Parlament kommen“, nennt Binding einen Grund, nicht erneut anzutreten. Statt Binding kandidiert die 28-Jährige Schreinerin Elisabeth Krämer in Heidelberg. Wie Binding 1998 und 2002 stehen ihre Chancen gut, den Wahlkreis direkt zu gewinnen. Seine volle Unterstützung hat sie.

Jungen Menschen eine Chance geben, das war schon immer Bindings Ansatz. Gemeinsam mit seiner Frau hat er in Hessen eine Jugendbildungseinrichtung aufgebaut, das Haus, in dem sie untergebracht ist, selbst renoviert. „Ich werde vieles vermissen, habe ja aber eine tolle neue Perspektive“, sagt er. Das Haus solle nämlich weiter ausgebaut werden.

Der erste Zollstock war noch selbst bemalt

Der Bildungsansatz wird bei ihm aber auch in der Politik immer wieder sichtbar. Auf Youtube gibt es mittlerweile legendäre Videos, in denen Binding etwa die Vermögenssteuer äußerst anschaulich erklärt. Meistens darf dabei auch ein Werkzeug nicht fehlen, für das der Diplom-Mathematiker Binding mittlerweile berühmt ist: der Zollstock. An den richtigen Stellen geknickt, illustriert er mal die Vermögensverteilung in Deutschland, mal die Steuerbelastung einzelner Bevölkerungsgruppen.

Wann genau er das erste Mal einen Zollstock in einer politischen Rede verwendet hat, weiß Lothar Binding selbst nicht mehr so genau. „Es wird wohl 2008 gewesen sein“, sagt er. Das erste Exemplar besitzt er aber immer noch. Mit roter und schwarzer Farbe sind einige Stellen markiert. „Ich habe damals erklärt, wer schuld ist an der Staatsverschuldung“, erinnert sich Binding. Inzwischen hat er eigene Zollstöcke herstellen lassen. „Gerechtigkeit ist mein Maßstab“ steht darauf.

Klar, dass sie auch zum Einsatz kamen als er im Juli und August durch Deutschland tourte. Mehr als 60 Städte besuchte Binding in seiner Funktion als Vorsitzender der SPD-Arbeitsgemeinschaft 60 plus und erklärte auf Markplätzen, warum eine Vermögenssteuer gerecht und Staatsschulden nicht unbedingt etwas Schlechtes sind. Den Bus fuhr er meist selbst. Zum Abschied aus dem Parlament will Lothar Binding auch noch viele Zollstöcke verschenken: u.a. an die Pförtner*innen des Bundestags.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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