Warum die neue Bundesregierung Lateinamerika nicht vernachlässigen darf
Im Koalitionsvertrag von SPD und Union spielt Lateinamerika keine Rolle. Dabei ist eine enge Zusammenarbeit mit den Staaten dort auch für Deutschland wichtig. Ein Land könnte dabei eine Schlüsselrolle spielen.
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Unterstützer von Präsident Gustavo Petro in Bogota: Deutschland und Kolumbien verbinden weiterhin viele Interessen.
Während Europa gerade in der multipolaren Welt aufwacht und nach verlässlichen Partnern sucht, bleibt Lateinamerika im druckfrischen schwarz-roten Koalitionsvertrag nahezu unsichtbar. Lediglich ein Satz erwähnt die „strategische Partnerschaft mit Brasilien sowie die Zusammenarbeit mit wichtigen Partnerländern wie Mexiko, Argentinien und Kolumbien“, die „ausgebaut und vertieft werden“ soll. Diese diplomatische Pflichtübung wird jedoch weder der wachsenden geopolitischen Bedeutung der Region noch dem spezifischen Potenzial einzelner Länder gerecht. In Zeiten, in denen China seinen Einfluss in Lateinamerika ausbaut, Russland seine Verbindungen reaktiviert und die USA mit einer unberechenbaren Trump-Administration zurückkehren, braucht Deutschland ein kohärenteres Bekenntnis für diese zunehmend umworbene Region.
Kolumbien – als einziges lateinamerikanisches NATO-Partnerland mit einer progressiven Regierung – bietet dabei besondere Chancen für eine vertiefte Zusammenarbeit, die weit über Wirtschafts- oder Militärinteressen hinausgehen, sondern gemeinsame Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Multilateralismus und nachhaltige Entwicklung in den Mittelpunkt stellen.
Gegenseitiges Verständnis als Grundlage
Die nachhaltige Finanzierung gemeinsamer Projekte erfordert eine kontinuierlich verbesserte Koordinierung zwischen deutschen und europäischen Entwicklungsprogrammen. Dazu könnte gehört, Aktivitäten und Ressourcen gezielter zu bündeln, um Überschneidungen zu vermeiden, die Sichtbarkeit zu erhöhen und Entwicklungszusammenarbeit wirksamer vor Kritik zu schützen. Ein solches Zusammenspiel basiert auf der Fähigkeit, einander zuzuhören und Verständnis füreinander zu entwickeln. Die kolumbianische Regierung bemüht sich, die deutsche Perspektive zu verstehen – etwa bezüglich der aus kolumbianischer Sicht zu zurückhaltenden deutschen Kritik an der israelischen Regierung Netanjahu beim brutalen Vorgehen im Gaza-Krieg. Umgekehrt sollte Deutschland die komplexen Herausforderungen Kolumbiens besser verstehen und keine vorschnellen Urteile fällen.
Ein bedauerlicher Rückschritt ist für Kolumbien daher die Aufgabe der feministischen deutschen Außenpolitik der Ampel-Regierung. Gerade in einem Land, in dem Frauen in bewaffneten Konflikten besonders litten, wo indigene Frauen mehrfache Diskriminierung erfahren und wo Frauenorganisationen maßgeblich zum Friedensprozess beigetragen haben, war dieser Ansatz mehr als symbolische Politik.
Die Aufgabe gilt nicht nur als falsches Signal, sondern gefährdet auch konkrete Fortschritte vor Ort. Das 2016 unterzeichnete Friedensabkommen mit den Rebell*innen der FARC gilt international als Meilenstein für die Einbeziehung von Geschlechtergerechtigkeit. Deutschland sollte deshalb trotz des formalen Abschieds von einer feministischen Außenpolitik weiterhin gezielt Frauenrechtsorganisationen unterstützen, sowie Gender-Mainstreaming fördern.
Förderung des Friedensprozesses
Ein Blick auf Kolumbiens Politik offenbart dabei die Prioritäten, die zugleich Chancen für Deutschland darstellen:
Ein bewährter Schwerpunkt liegt in der Unterstützung des Friedensprozesses mit den FARC-Rebell*innen, der 2016 erreicht wurde. Erfolgreiche Beispiele sind zum Beispiel Versöhnungsprogramme, die Opfer und Täter*innen zusammenführen, sowie Integrationsmaßnahmen für ehemalige Kämpfer*innen durch Berufsbildung und Mikrokredite. Ebenso zählt die Stärkung zivilgesellschaftlicher Organisationen und historisch marginalisierter Bevölkerungsgruppen zu den positiven Ansätzen. Die Zusammenarbeit mit der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden illustriert, wie ein Austausch auf Augenhöhe gelingen kann. Ergänzend könnte die Stärkung lokaler Kapazitäten durch Wissenstransfer die wirtschaftliche Basis solcher Initiativen festigen – etwa durch die Integration von Ökotourismus oder nachhaltiger Landwirtschaft. Dies würde nicht nur die kolumbianische Demokratie stärken, sondern auch nachhaltige Entwicklung fördern.
Diese Maßnahmen sollten nicht nur fortgeführt, sondern an die Herausforderungen der polarisierten Gesellschaften angepasst werden. Denn ein stabiles Kolumbien hat globale Auswirkungen: Es reduziert Migrationsdruck, mindert den Drogenhandel und die damit einhergehende Gewalt – auch in europäischen Metropolen – und schafft gleichzeitig Investitionssicherheit für die deutschen Unternehmen im Land.
Nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz
Wie die Kursveränderungen der schwarz-roten Koalition die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Lateinamerika beeinflussen werden, bleibt abzuwarten. Im Mittelpunkt steht die geplante Anpassung der Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit auf ein „angemessenes“ Niveau, wie es im Koalitionsvertrag formuliert wurde. Die drastische Forderung der Union nach einer Reduzierung der Quote an öffentlichen Entwicklungsleistungen, international Official Development Assistance (ODA) genannt, auf 0,35 Prozent des BIP (statt der international vereinbarten 0,7 Prozent) ist im Vertrag nun nicht enthalten, doch bleibt die zukünftige Finanzierung unklar.
Zwar plant die Koalition, die Lücken in der staatlichen Entwicklungsfinanzierung verstärkt durch die Mobilisierung privater Investitionen zu schließen, doch dieser Ansatz könnte die Zusammenarbeit grundlegend verändern. Private Investitionen können weder qualitativ noch quantitativ als Ersatz für staatliche Entwicklungszusammenarbeit dienen, sondern höchstens als Ergänzung.
Deutschland hat ein eigenes Interesse an der Zusammenarbeit mit Kolumbien: Die Unterstützung des Landes auf dem Weg zur CO₂-Neutralität dient nicht nur globalen Klimazielen, sondern wird sich spätestens mit zunehmender Sichtbarkeit der Klimakrise auch wirtschaftlich und politisch rentieren. Für Kolumbien geht der Schutz des Amazonas weit über Umweltfragen hinaus, da er auch die territoriale Kontrolle über Regionen betrifft, die häufig unter dem Einfluss illegaler Gruppen stehen.
Energiewende und Arbeitsrechte
Das Energiethema sollte ebenfalls ein zentraler Punkt der Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern bleiben. Kolumbien verfügt neben großen Vorkommen an Erdöl, Erdgas und Kohle auch über bedeutende Vorkommen an Nickel, Blei, Platin, Smaragden, Eisenerzen, Phosphaten sowie Gold und Kupfer. Eine koordinierte Rohstoffpartnerschaft sollte daher diskutiert werden. Eine gerechte Energiewende benötigt zudem die aktive Beteiligung der Gewerkschaften. Deutschland sollte seine Erfahrungen, insbesondere aus der Kooperation mit Südafrika, dementsprechend stärker einbringen. Notwendig sind konkrete Maßnahmen zur Förderung flächendeckender gewerkschaftlicher Beteiligung sowie sektorenübergreifender kollektiver Tarifverhandlungen. Ein sicheres Umfeld für Arbeitnehmerrechte muss zentraler Bestandteil wirtschaftlicher Zusammenarbeit und der deutschen Unternehmen sein.
In Bezug auf Handelsabkommen bietet das Mercosur-Abkommen – dem Kolumbien nicht angehört – einen wichtigen Diskussionsraum für nachhaltige Handelsbeziehungen. Die geplante Abschaffung des deutschen Lieferkettengesetzes bei gleichzeitiger Geltung europäischer Standards eröffnet die Möglichkeit, kolumbianischen Unternehmen die deutschen Implementierungsstrategien zu vermitteln. So könnten sie europäische Märkte erschließen, ohne von neuen Handelsbarrieren ausgeschlossen zu werden.
Reformierte Drogenpolitik und Sicherheitskooperation
Besonders wichtig ist die Unterstützung Kolumbiens bei der Entwicklung einer ganzheitlichen Drogenpolitik. Der jahrzehntelange, von den USA favorisierte „Krieg gegen Drogen“ ist schon vor langer Zeit gescheitert. Repressive Ansätze lösen weder Konflikte, noch dämmen sie den Drogenanbau ein oder stoppen die Umweltzerstörung. Den Krieg wieder aufzunehmen, wie es aus Washington nun vorgeschlagen wird, widerspricht damit den Interessen Kolumbiens und Europas.
Kolumbien strebt eine internationale Neubewertung der Drogenpolitik an, die auch die unverhältnismäßige Last der Produzentenländer anerkennt. Im eigenen Interesse sollte Deutschland Initiativen zur Förderung alternativer Entwicklungsprogramme für Kokabauern unterstützen und sich für eine evidenzbasierte Drogenpolitik – die frei von der Ideologie der Konservativen ist – einsetzen. Als bedeutendes Zielland für Kokain würde eine Reform der kolumbianischen Drogenpolitik nicht nur die Sicherheitslage in deutschen Städten verbessern, sondern auch Ressourcen im Strafverfolgungs- und Gesundheitswesen einsparen. Dazu gehört die Neubewertung des Kokablattes sowie die Regulierung des bislang von der organisierten Kriminalität dominierten Schwarzmarktes.
Migration und Bildungsaustausch
Migration und Fachkräfteaustausch bieten ebenfalls Potenzial für eine vertiefte Zusammenarbeit. Ein auf das deutsche Fachkräfteeinwanderungsgesetz zugeschnittenes Migrationsprogramm könnte eine Win-win-Situation schaffen: legale Migrationswege sowie einen kulturellen und wirtschaftlichen Austausch, der beiden Gesellschaften zugutekommt.
Angesichts des Fachkräftemangels in Deutschland könnte ein gezieltes „Kolumbien-Programm“ den Arbeitsmarkt in spezifischen Bereichen entlasten. Besonders im Gesundheits- und Pflegesektor sowie in technischen Berufen sollte sich durch beschleunigte Verfahren und Sprachkurse eine schnelle Integration erreichen lassen. Kolumbien hat mit der Aufnahme von rund 2,7 Millionen geflüchteten Menschen aus Venezuela wertvolle Erfahrungen gesammelt, die auch der Bundesrepublik nützlich sein könnten.
Zudem eröffnet die hohe Nachfrage nach Studienplätzen an deutschen Hochschulen eine Gelegenheit für kulturellen und wissenschaftlichen Austausch. Diese Nachfrage kann nicht nur den individuellen Aufstieg fördern, sondern auch den Gedanken stärken, dass solche Entwicklungen ganze Gesellschaften voranbringen. Dies könnte in Kolumbien einen positiven Wandel anstoßen und Deutschland daran erinnern, die eigenen Werte sozialer Durchlässigkeit weiter zu fördern.
Fundament einer künftigen Partnerschaft
Der weltweite chaotische Rückzug der US-amerikanischen Entwicklungsagentur USAID hat in Kolumbien eine Lücke hinterlassen, die dringend geschlossen werden muss. Er gefährdet nicht nur den Friedensprozess mit der FARC, sondern auch Umweltschutzmaßnahmen und die Gesundheitsversorgung historisch benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Deutschland und Europa dürfen diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen. Mehr Kooperation, nicht weniger, sollte das Ziel der neuen Bundesregierung sein – die Absenkung der ODA-Quote darf nicht das letzte Wort bleiben.
Die Bundesregierung sollte ihre Zusammenarbeit mit Kolumbien weiterhin im Dialog mit den Partnern in Bogotá gestalten und sich an gemeinsamen Interessen orientieren. Die schwarz-rote Koalition hat vier Jahre Zeit, um die Beziehungen zu Kolumbien nachhaltig zu vertiefen.
Die Überzeugung, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und multilaterale Strukturen bessere Lösungen bieten als Abschottung und Wirtschaftsbeschränkungen, sollte auch künftig das Fundament dieser Partnerschaft bilden.