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Lage in Israel und Gaza: „Diesen Zielkonflikt gab es von Anfang an“

Nach der Wiederaufnahme der israelischen Angriffe auf den Gaza-Streifen spitzt sich die Lage dort zu. Im Interview sagt Ralf Melzer, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Israel, welche Strategie die Regierung von Benjamin Netanjahu verfolgt – und warum es kurzfristig keine Aussicht auf Frieden gibt.

von Kai Doering · 9. April 2025
Demonstrationen gegen die Regierung in Jerusalem: Israel ist extrem polarisiert.

Demonstrationen gegen die Regierung in Jerusalem: Israel ist extrem polarisiert.

Nach einer mehrwöchigen Waffenruhe mit der Hamas greift die israelische Armee seit Mitte März wieder Ziele im Gaza-Streifen an. Was ist das Ziel dieser Aktion?

Nach israelischen Angaben ist das Ziel dasselbe wie zu Beginn des Krieges nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023: die Hamas komplett auszuschalten. Dazu wird offenbar jetzt ein zweiter Korridor gezogen, der die Stadt Rafah im Süden des Gaza-Streifens komplett abschneiden soll. Es gibt aber auch wieder Militäraktionen im Norden des Gaza-Streifens. Die Militäroperationen sollen zum einen der Befreiung der Geiseln dienen, die sich noch immer in der Gewalt der Hamas befinden, und zum anderen der Zerschlagung der Hamas. Dass die Hamas noch immer eingeschränkt handlungsfähig ist, hat sich bei der zynischen Inszenierung der Geisel-Übergaben gezeigt und auch daran, dass es in letzter Zeit wieder vereinzelt Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen gegeben hat.

59 Geiseln sind noch in der Hand der Hamas, 35 von ihnen wurden mittlerweile für tot erklärt. Was bedeuten die erneuten Angriffe für sie?

Vor allem, dass sie extrem gefährdet sind. Und nur sehr wenige Geiseln konnten bisher durch militärische Aktionen direkt befreit werden. Sicherheitsexperten haben von Anfang an gewarnt, dass militärischer Druck sogar eher das Gegenteil bewirken könnte. Genau diese Befürchtung ist eingetreten. Das zeigt, dass die beiden genannten Kriegsziele in einem Widerspruch zueinander stehen. Diesen Zielkonflikt gab es von Anfang an, und je länger der Krieg dauert, desto mehr spitzt er sich zu. Hinzu kommt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in Israel fordert, dass die Rückholung der Geiseln absolute Priorität haben muss. Die massiven Proteste gegen die Regierung und gegen Ministerpräsident Netanyahu unterstreichen das. Viele glauben nicht, dass Netanyahu wirklich alles tut, um die Geiseln zurückzuholen.

Ralf
Melzer

Es stehen sich in der Bevölkerung zwei Lager mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber.

Die Menschen in Israel und Palästina, aber auch darüber hinaus hatten große Hoffnungen in die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas gesetzt. Woran ist sie gescheitert?

Der Übergang von der ersten und zur zweiten Phase des mit der Hamas vereinbarten Waffenstillstands war schon vorher als kritischer Punkt identifiziert worden. Es wurde auch von Anfang an kritisiert, dass nicht mit einem Schlag alle Geiseln zurückgeholt werden konnten, weil befürchtet wurde, dass es zwischen Israel und der Hamas keine Einigung über die Details der Umstände geben würde, unter denen die zweite Phase und damit die Freilassung der verbliebenen Geiseln umgesetzt werden konnte – zu Recht, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Ohne die komplette Entmachtung der Hamas als Voraussetzung für die Umsetzung der zweiten Phase war Netanyahu nicht bereit, den Krieg zu beenden. Außerdem ordnet Netanyahu alles dem eigenen Machterhalt unter. Und dem dient auch die Fortsetzung des Krieges.

Wie wird die Fortsetzung der Angriffe auf den Gaza-Streifen in der Bevölkerung in Israel aufgenommen?

Sehr gespalten. Das Land ist extrem polarisiert. Das war es schon vor dem Terrorangriff vom 7. Oktober und hat sich etwa in den Protesten gegen die sogenannte Justizreform entladen, die auch jetzt wieder zurück auf der politischen Agenda ist. Es stehen sich in der Bevölkerung zwei Lager mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber. Die Demarkationslinie ist in hohem Maße die Person Netanyahu. Seine Regierung mit ihren in Teilen rechtsextremen nationalreligiösen Kräften polarisiert ebenso wie die Geiselfrage, die innenpolitisch das alles dominierende Thema ist. Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung gibt der Rückholung aller Geiseln die Priorität und fordert die Beendigung des Krieges. Gleichzeitig gibt es aber auch einen Teil der Bevölkerung, der die Fortsetzung des Krieges unterstützt. Und dann gibt es noch eine kleine, aber laute Minderheit, die sogar eine Wiederbesiedlung des Gaza-Streifens fordert.

Ist das realistisch?

Nein, ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird. Aber wirklich ausschließen lässt sich in der momentanen Situation gar nichts. Jedenfalls zeigt sich, wie weit die Meinungen in der Bevölkerung auseinandergehen und wie die Polarisierung dazu führt, dass sich die beiden Lager unversöhnlich gegenüberstehen. Ich erwarte, dass Netanjahu versuchen wird, weiter das zu betreiben, was er bereits die ganze Zeit getan hat: den Konflikt irgendwie zu managen, statt eine Lösung zu suchen, obwohl dieser Ansatz mit dem 7. Oktober eigentlich krachend gescheitert ist. Bis auf weiteres läuft es vermutlich darauf hinaus, dass Israel weiter massiven Druck auf den Gazastreifen ausüben wird, wodurch die katastrophale humanitäre Lage dort andauern dürfte.

Ralf
Melzer

Von Seiten der Regierung sind bisher keine wirklichen, auch nur ansatzweise klaren, überzeugenden Konzepte für den „Day-after“ vorgelegt worden.

Wie positioniert sich die Opposition in Israel?

Die Opposition ist klar positioniert gegen die Regierung, gegen Netanyahu und für Neuwahlen. Das ist eine Forderung, die bereits seit dem 7. Oktober 2023 im Raum steht. Dieser Tag war eine nationale Katastrophe und eine Zeitenwende, auch wenn der Begriff in Deutschland inzwischen etwas überstrapaziert ist. Die Forderung von vielen Menschen war und ist, dass der Premierminister die politische Verantwortung für die Fehler übernimmt, die im Vorfeld dieses Terrorangriffs der Hamas gemacht wurden. Bisher spricht wenig dafür, dass er noch beabsichtigt, das zu tun. Die Opposition ist sich auch einig, dass die Rückholung der Geiseln absolute Priorität haben muss. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei Yair Golan steht dabei an vorderster Front der Protestbewegung. Denn es ist klar, dass es ohne neue Mehrheitsverhältnisse in der Knesset keinen Politikwechsel in Israel geben wird.

Hat Netanjahu einen Plan für die Zeit nach dem Krieg?

Danach sieht es nicht aus. Von Seiten der Regierung sind bisher keine wirklichen, auch nur ansatzweise klaren, überzeugenden Konzepte für den „Day-after“ vorgelegt worden. Solche Konzepte gibt es nur von der Opposition und von progressiven Thinktanks, also von den Kräften, die der Regierung entgegenstehen. Dieses Fehlen politischer Strategien für die Zeit nach dem Krieg ist auch einer der Kritikpunkte von vielen Sicherheitsexperten: Sie argumentieren, dass letztendlich die taktischen militärischen Erfolge wertlos werden, wenn die derzeitige Situation nicht in einen konstruktiven politischen Prozess überführt wird. Ohne diesen kann man den Menschen im Gaza-Streifen aber keine Alternative zum Terrorregime der Hamas bieten.

Der Gesprächspartner

Dr. Ralf Melzer leitet seit 2023 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Israel. Davor war er u.a. als Leiter des Regionalbüros Dialog Südosteuropa und der FES-Büros in Tunis und München tätig.

Ralf Melzer

In den vergangenen Tagen gab es auch im Gaza-Streifen Proteste – gegen die Hamas. Wie bewerten Sie das?

Das zeigt, dass die Menschen im Gaza-Streifen mehr und mehr verstehen, dass die Hamas ihnen keine Zukunftsperspektive bietet. Die Bevölkerung im Gaza-Streifen leidet seit Beginn der Herrschaft der Hamas unter diesem Regime. Und angesichts der massiven Zerstörung und der Perspektivlosigkeit sowie der humanitären Katastrophe fordern mehr und mehr Menschen völlig zu Recht, dass sich etwas ändern muss. Die Menschen, die da protestieren, tun das unter Einsatz ihres Lebens. Ihr Mut ist sehr zu bewundern.

Welche Perspektive gibt es für die Menschen in Gaza?

Man kann nur hoffen, dass sobald wie möglich politische Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen der Wiederaufbau, politische Reformen und ein Weg Richtung palästinensischer Selbstbestimmung eingeschlagen wird. Das wird sehr wahrscheinlich nicht ohne eine wie auch immer geartete internationale Militärpräsenz gehen, sicherlich auch unter Beteiligung von arabischen Staaten. Und es muss die palästinensische Autonomiebehörde einbezogen werden. Diese wird sich allerdings reformieren müssen, um ihre politische Funktion im Westjordanland und auch im Gazastreifen wahrnehmen zu können.

In der Westbank ist es zuletzt immer wieder zu Übergriffen gegen die palästinensische Bevölkerung gekommen. Wie groß ist die Gefahr, dass der Konflikt um Gaza auch das Westjordanland erfasst?

Es kommt nahezu täglich zu Übergriffen. Die militante Siedlerbewegung im Westjordanland mit dem rechtsextremen Sicherheitsminister Ben-Gvir im Rücken schafft hier Fakten. Die Lage im Westjordanland ist längst schon eskaliert. Hier gibt es ebenso massive militärische Maßnahmen der israelischen Armee, und die Anspannung ist sehr hoch. Auch der Waffenstillstand mit der Hisbollah ist brüchig, und der Konflikt mit dem Iran befindet sich in einer Art Warteschleife. Momentan ist leider nicht erkennbar, dass sich die Lage kurzfristig beruhigen wird.

Sie sehen also keine Chance für Frieden?

Auf kurze Sicht nicht. Obwohl wie gesagt eigentlich alles für eine konstruktive Lösung auf dem Tisch liegt.Tragfähige Konzepte für eine Zwei-Staaten-Lösung gibt es ja bereits seit Langem. Das sind keine Szenarien, die sich von heute auf morgen umsetzen lassen, aber es wäre wichtig, einen Prozess zu beginnen, der in diese Richtung führt. Dafür braucht es allerdings auf beiden Seiten andere gesellschaftliche Mehrheiten und mutige Personen in politischer Verantwortung, die die eigene Bevölkerung von der Notwendigkeit überzeugen, nach vorne zu schauen und Kompromisse einzugehen.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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