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Aufbruch in Kolumbien? Wie Gustavo Petro das Land wachgerüttelt hat

Im August wurde Ex-Guerillero Gustavo Petro als Präsident von Kolumbien vereidigt. Seitdem hat er das Land rasant verändert. Doch die Widerstände, die er zu überwinden hat, sind groß. Droht Petro zu scheitern?
von Oliver Dalichau · 23. November 2022
Seit gut drei Monaten im Amt: Kolumbiens Präsident Gustavo Petro
Seit gut drei Monaten im Amt: Kolumbiens Präsident Gustavo Petro

Zum ersten Mal in 200 Jahren hat Kolumbien einen progressiv-linken Regierungschef und ein paritätisch besetztes Kabinett. Entgegen konservativer Schreckensszenarien ist das Land bisher jedoch nicht zusammengebrochen, im Gegenteil. Die Regierung Gustavo Petros hat bereits wichtige Reformvorhaben umgesetzt: etwa gesetzliche Impulse zur Wiederbelebung des Friedensprozesses mit den FARC-Guerilla, eine Steuerreform, die für sozialen Ausgleich steht, Initiativen zur Landumverteilung und die Ratifizierung des Escazú-Abkommens, des ersten regionalen Umweltabkommen in Lateinamerika.

Die anhaltend hohe Inflation, flächendeckende Arbeitslosigkeit, steigende Auslandsschulden, die Folgen der Pandemie und ein nie gekannt starker US-Dollar bedrohen jedoch die Akzeptanz der Regierung. Das enorme Haushaltdefizit führt dazu, dass nicht alle Vorschläge aus dem Wahlprogramm umgesetzt werden können. Dennoch hat Gustavo Petro in seinen ersten 100 Tagen das Land und die Region wachgerüttelt.

Breites Parteienbündnis unterstützt den Präsidenten

Anders als noch zu Beginn der Legislaturperiode zu erwarten war, stützt Petro sich mittlerweile auf ein breites Mehrheitsbündnis im Parlament. Dieses basiert auch auf personellen und inhaltlichen Absprachen mit den traditionellen Parteien. So ist der Außenminister ein bekennender Konservativer, der Finanzminister ein ehrwürdiger Liberaler und die Arbeitsministerin Mitglied der Kommunistischen Partei. Auch der erfahrene und elitennahe Parlamentspräsident Roy Barreras, trug maßgeblich dazu bei, dass die Mehrheit bislang zusammenhielt. Ob sie jedoch bis zu den nächsten Kongresswahlen in 2026 Bestand hat, bleibt offen. Einige Beobachter*innen vermuten, dass bereits im nächsten Jahr die Regierungsmehrheit verloren geht und die „Flitterwochen“ zwischen Präsident Petro und dem Kongress vorbei sein könnten.

Auch der Zusammenhalt von Petros Wahlbündnis, des „Pacto Histórico“ (Historischer Pakt), ist weiterhin bedeutend. Gerade die Unterstützung durch Vizepräsidentin Francia Márquez, die das neu einzurichtende Ministerium für Gleichstellungsfragen führen soll, ist wichtig, um den Rückhalt der zivilgesellschaftlichen Basis zu sichern. Sollte dieser ausbleiben, käme das einem Scheitern von Petros Regierung gleich. Die Rückkehr einer konservativen oder ultrarechten Regierung wäre vorgezeichnet und die Krise des Landes umso größer. Bis jetzt sind die rechten Parteien noch nicht in der Lage, von der Bevölkerung als Alternative wahrgenommen zu werden.

Ein „vollständiger Friede“ als Ziel

Unter Petros Amtsvorgänger wurde der Friedensprozess mit der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, deutsch Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) systematisch sabotiert, Absprachen mit ehemaligen Kämpfer*innen wurden nicht umgesetzt. Der Staat verlor weiter an Einfluss und die Gewalt kehrte sichtbar in viele Landesteile zurück: Im Durchschnitt wurde seit Unterzeichnung des Friedensvertrags im Jahr 2016 alle sechs Tage ein*e ehemalige FARC-Kämpfer*in ermordet, zusätzlich zu 930 ermordeten sozialen Führungspersönlichkeiten und mehr als 260 Massakern an der Zivilbevölkerung allein in der Regierungszeit von Iván Duque. Andere FARC-Mitglieder schlossen sich daher wieder dem bewaffneten Kampf an.

Vor diesem Hintergrund ist Gustavo Petro angetreten, den „vollständigen Frieden“ (paz total) in Kolumbien herzustellen. Anfang November unterzeichnete er das entsprechende Gesetz dazu und seine Regierung versucht seitdem, den Friedensvertrag mit der FARC vollständig umzusetzen.

Das Gesetz ermöglicht der Regierung zudem, Verhandlungen mit den rund 2000 Kämpfer*innen der Guerilla-Gruppierung ELN (Ejército de Liberación Nacional, Nationale Befreiungsarmee), Mitgliedern weiterer militanten Splittergruppen und sogar mit Drogenkartellen zu beginnen, auch um sie vor Gericht zu stellen. Die Opfern der Gewalt sollen in diesem Prozess besonders berücksichtigt werden, ebenso wie zivilgesellschaftliche Gruppen. Ob und mit welchem Ergebnis eine umfassende neue Friedensinitiative Erfolg haben wird, bleibt jedoch abzuwarten. Zu vielstimmig und divers sind aktuell die Vorstellungen bei allen Beteiligten.

Petros Initiative verdient jedoch bereits jetzt Anerkennung, da sie versucht, den multiplen Gewaltakteuren eine Perspektive zur Eingliederung in die Gesellschaft anzubieten. Auch die Öffnung der Grenzen und die Wiederbelebung der diplomatischen Beziehungen zu Venezuela spielt hierbei eine wichtige Rolle.

Eine Land- und eine Steuerreform

Flankiert werden die Friedensbestrebungen von einer kaum für möglich gehaltenen Einigung zwischen der Regierung Petro und der Föderation kolumbianischer Viehzüchter (Fedegán): In den kommenden Jahren sollen bis zu drei Millionen Hektar Land zu marktüblichen Preisen erworben und zu subventionierten Konditionen an landlose Bäuer*innen vergeben werden. Damit würde sich erstmals eine klare Perspektive für die zahlreichen Vertriebenen eröffnen und eine der zentralen Konfliktursachen der jahrzehntelangen Gewalt angegangen werden. Zweifel bestehen jedoch an der Umsetzung durch die liberale Landwirtschaftsministerin Cecilia Lopez, der Verfügbarkeit zusätzlicher Haushaltmittel, der heimischen und internationalen Unterstützung und daran, wie schnell und effektiv Landlose tatsächlich profitieren werden.

Bereits einen Tag nach seiner Amtseinführung stellte Petro seine Pläne für eine umfassende Steuerreform vor. Sie zielt darauf ab, Vermögende stärker zu besteuern, Steuervorteile für Unternehmen abzubauen und der Steuerhinterziehung den Kampf anzusagen. Damit erhofft sich die Regierung, die Sozialsysteme zu stärken und jährliche Mehreinnahmen in Höhe von ca. 4,4 Milliarden Euro zu generieren.

Anfang November ging diese wichtige Reform mit kleineren Änderungen durch beide Kammern des kolumbianischen Kongresses. Zusammen mit dem kurz zuvor verabschiedeten Haushalt für 2023 bildet sie ein wichtiges Herzstück der Reformen Petros – und zieht den Zorn der rechten Opposition auf sich. Aufeinander abgestimmt orchestrieren die rechten Kräfte Kolumbiens in den sozialen Netzwerken und auf der Straße den Frust der meist weißen wohlhabenden Oberschicht. Sollte es Petro nicht gelingen, dem etwas entgegenzusetzen, könnte der Eindruck eines unausgegorenen Regierungshandels die Oberhand gewinnen.

Klimaschutz und die weitere Reformagenda

Mit der Ratifizierung des Escazú-Abkommens, seiner Teilnahme an der Klimakonferenz COP27 in Ägypten und auch seiner Rede vor den Vereinten Nationen macht Gustavo Petro deutlich, wie mit ihm eine neue Umwelt- und Klimapolitik aussehen soll: Ein neuer Fonds gegen die Amazonas-Abholzung soll zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen beitragen. Die Abhängigkeit Kolumbiens von Rohstoffexporten ist allerdings weiterhin hoch und es bleibt abzuwarten, ob wie angekündigt keine neuen Förderlizenzen für Kohle und Gas vergeben werden.

Anpassungen im Gesundheitssektor und bei den Pensionen, ein neues Arbeitsgesetz, sowie die Demilitarisierung der Polizei stehen für die kommenden Monate auf der Tagesordnung. Aber auch eine Reform des Wahlsystems, die Erhöhung des Mindestlohnes, das Verhältnis zu den USA und anderen Verbündeten sind aktuell bedeutende Themen. Angekündigt ist auch die Abkehr vom gescheiterten „War on Drugs“ hin zu einer neuen Drogenpolitik, die auf Aufklärung und Regulierung statt Verbot setzt. Ohne weitere Unterstützung aus den USA und Europa wird die Regierung es jedoch schwer haben. Solidarität bleibt daher weiterhin das Gebot der Stunde.

Autor*in
Oliver Dalichau

ist Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien.

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