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Kolumbien: „Gustavo Petro hat seine Gegenspieler oft überrascht.“

Bei den Regionalwahlen in Kolumbien haben die konservativen Parteien gewonnen. Was das für die linke Regierung von Präsident Gustavo Petro bedeutet und warum sein Erfolg auch im Interesse Deutschlands ist, sagt Oliver Dalichau von der Ebert-Stiftung.
von Kai Doering · 31. Oktober 2023
Kolumbiens Präsident Gustavo Petro am Sonntag bei der Stimmabgabe in Bogotá: Versuchen, an den Moment der Wechselstimmung anzuknüpfen
Kolumbiens Präsident Gustavo Petro am Sonntag bei der Stimmabgabe in Bogotá: Versuchen, an den Moment der Wechselstimmung anzuknüpfen

Dass die kolumbianische Linke um Gustavo Petro im vergangenen Jahr die Präsidentschaftswahl in Kolumbien gewann, kam für viele überraschend. Wie sehr hat sich das Land im vergangenen Jahr verändert?

Die Kolumbianer*innen haben durch die Wahl von Gustavo Petro und seiner Vizepräsidentin Francia Márquez für alle sichtbar einen politischen Wandel unterstützt. Dieser Prozess begann jedoch schon viel früher. Ein Beispiel für die aktuelle positive Veränderung ist die Steuerreform: Reiche, zahlen endlich ihren Anteil und leisten einen faireren Beitrag zu den Staatseinnahmen. Wichtiger Meilenstein war aber davor schon der Friedensvertrag von 2016 zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung sowie der daraus resultierende Friedensprozess. Obwohl es hier Fortschritte gab, kam es auch zu Rückschlägen, wie das gescheiterte Referendum über den Vertrag, die Nichtumsetzung z.B. einer Agrarreform und die bis heute nicht aufgearbeiteten Morde an ehemaligen Kämpfern und sozialen Führungspersönlichkeiten.

Die Folgen der Corona-Pandemie haben das Land ebenfalls geprägt. Der frühere Präsident Ivan Duque wurde aufgrund seiner Unfähigkeit, Lösungen anzubieten, in dieser Zeit zum unbeliebtesten Präsidenten aller Zeiten. Seine Amtszeit war von Korruption, Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte und einer klientelistischen Politik geprägt. Zudem wurden Abhörskandale bekannt, die mit zu den Demonstrationen für ein sozialeres Kolumbien führten. Im März 2022 konnte Petros Bündnis, der „Pacto Historico“, die Stimmung nutzen und bei den Kongresswahlen zur stärksten Fraktion werden. Er gewann zwar keine eigene Mehrheit und war und ist weiterhin auf Kooperationen mit den traditionellen Parteien angewiesen.

Veränderungen zeigen sich aber auch anderswo: Viele Mitglieder der Regierung kommen aus sozialen Bewegungen. Dies hat in einigen Nichtregierungsorganisationen zu Nachwuchsproblemen geführt. Die notwendigen Veränderungsprozesse sind aber auch sonst enorm: Petro muss einen Reformstau bewältigen, während die Ministerien immer noch von den Beharrungskräften vergangener Regierungen dominiert werden.

Welche Folgen hat das?

In der Vergangenheit wurde hier oft nur über Sicherheitsthemen diskutiert – dies wurde hauptsächlich von der politischen Rechten orchestriert. Jetzt finden auch andere Themen wie bezahlbarer Wohnraum, Bildungschancen-, -gerechtigkeit und der Schutz der Umwelt ihren Weg in die Debatten. Auch dies ist der Erfolg Petros und der gesellschaftlichen Realität. Dies stört vor allem die traditionellen Parteien, die in vielen Provinzen immer noch großen Einfluss haben. Sie nutzen jeden Fehler aus und versuchen, die Unzufriedenheit zu schüren, indem sie suggerieren, dass alles unter ihrer Führung besser gewesen wäre. Mit diesem Vorgehen erfüllen ihre Rolle als konstruktive Opposition nicht und bieten keine Antworten auf Zukunftsfragen. Sie sind aktuell weder eine personelle noch inhaltliche Alternative.

Im Streit über die Arbeitsmarkt- und die Gesundheitspolitik hat Petro im April die Koalition mit Liberalen und Konservativen aufgekündigt. Welchen Einfluss hatte das auf das Ansehen der Regierung?

Zunächst einmal half es der Regierung, sich neu zu organisieren und Vertrauen bei denen zu gewinnen, die sie unterstützt hatten. Diese Gruppen sind sehr vielfältig und wurden hier als „Nadies“, die Niemande, bezeichnet. Sie repräsentieren weite Teile der Bevölkerung: indigene Gruppen, Afro-Kolumbianer, die LSBTI-Gemeinschaft, Frauen, feministische Organisationen, Studierende, Künstler, Intellektuelle und Menschen mit oder ohne formellen Arbeitsvertrag. Die meisten von ihnen haben Petro auch gewählt, weil sie an sein Projekt für mehr soziale Gerechtigkeit glauben. Sie unterstützen auch seine Ideen eines umfassenden Friedens sowie eine nachhaltigere Drogenpolitik, anstatt nur auf eine Repression und Aufrüstung der Sicherheitskräfte zu setzen.

Es gab aber auch Menschen, die sich Sorgen machten, dass die Regierung „radikaler“ wird und dass die Ausgewogenheit – z.B. in der Finanzpolitik – fehlen würde. Die Regierungsumbildung war daher für alle überraschend: Die neuen Minister*innen stehen alle dem „Pacto Historico“ nahe. Dies spiegelt, trotz fehlender eigener Mehrheit, stärker die Wahlentscheidung für einen Wandel wider als das erste Kabinett.

Hat sich die Kabinettsumbildung ausgezahlt?

Nach einem weiteren halben Jahr ist von der Euphorie und den Erwartungen nicht mehr viel übriggeblieben. Die zweite Chance wurde nur unzureichend genutzt. Obwohl weniger Konflikte nach außen dringen, sind politische Initiativen zur sozialen Arbeitsmarkt-, Renten-, Agrar- oder Gesundheitsreform bisher erfolglos. Die meisten Unterstützer*innen, einschließlich der Gewerkschaften, haben Petro bislang nicht den Rücken gekehrt. Es herrscht jedoch eine Ernüchterung vor, die die meisten realisiert haben: Veränderungen erfordern Zeit und sind oft schwieriger umzusetzen, als es im Wahlkampf erscheinen mag.

Am vergangenen Wochenende fanden nun in Kolumbien Kommunal- und Regionalwahlen statt. Welche Bedeutung hat der Ausgang für die Regierung von Gustavo Petro?

Die Auswirkungen werden sich erst in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. Heute schon klar ist, dass sie bei diesen Wahlen keinen klaren Rückenwind erhalten hat. Festzuhalten bleibt, dass es sich um ein demokratisches Ereignis handelte, an dem 57,8 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen haben. Es wurden 20.000 politische Ämter neu besetzt, darunter 32 Gouverneursposten und mehr als 1100 Bürgermeisterämter.

Aus sozialdemokratischer Sicht ist es bedauerlich, dass die traditionellen Parteien, die hier oft als klientelistisch agieren, klar gewonnen haben. Viele nach außen „unabhängige“ Listen und Einzelkandidaten wurden ebenfalls von ihnen unterstützt. Der linke „Pacto“ hat bei diesen Wahlen verloren und stellt nur in drei der 32 Departamentos den Gouverneur. Auch in den wichtigsten Städten, wie Bogotá, Medellín, Cali und Bucaramanga, bleiben die einflussreichen Familien, Clans und traditionellen Parteien weiterhin an der Macht oder kehren zurück. Dies ist jedoch nicht unbedingt eine neue Entwicklung. Kolumbien ist in weiten Teilen ein konservatives, ländlich geprägtes Land. Hier regieren diese etablierten Parteien in der Regel auch, alternative Kräfte sind eben genau die historische Ausnahme.

Was bedeutet das konkret?

Frustrierend für Petros Bündnis ist sicherlich, dass ihr Kandidat Gustavo Bolivar in Bogotá mit nur 18,71 Prozent der Stimmen auf dem dritten Platz landete, weit hinter dem siegreichen Kandidaten des „Nuevo Liberalismo“, Carlos Fernando Galán, der mit 49 Prozent diese wichtige Abstimmung gewann. Verglichen mit den gut etablierten Parteiapparaten der rechten Parteien hatte der „Pacto Historico“ überall im Land Schwierigkeiten, seine Wähler ausreichend zu mobilisieren. Es ist jedoch nicht so deutlich, ob diese Wahlen nun wirklich als landesweites Referendum über das erste Jahr Petros angesehen werden können. In vielen Kommunen und Regionen dominierten lokale Themen und personenbezogene Wahlstrategien, während die nationale Politik weniger im Fokus stand.

Exemplarischer Gewinner des Tages ist der konservative Frederico Gutiérrez (Fico) in Medellín, der noch bei den Präsidentschaftswahlen furios gescheitert war. Jetzt gewann er in der zweitgrößten Stadt des Landes mit 73,36 Prozent. Daher ist es durchaus möglich, dass er erneut als Präsidentschaftskandidat antreten wird. Leider gab es auch dieses Mal Gewalttaten vor oder während der Wahlen, Vertreibungen und Bedrohungen von Wählern. In verschiedenen Teilen des Landes wurden lokale Kandidaten ermordet, auch Wahlunterlagen wurden zerstört. Über 700 Kandidaten wurden aufgrund krimineller Aktivitäten ausgeschlossen. Es kam an einigen Orten zu Verhaftungen wegen Wahlmanipulationen, und trotz Strafandrohungen ist nicht auszuschließen, dass Stimmen gekauft wurden.

Die kolumbianische Gesellschaft ist noch immer vom Kampf gegen die FARC zerrüttet. Hat sich das bei den Wahlen bemerkbar gemacht?

Der langjährige Kampf gegen die FARC, ihre Abspaltungen und andere kriminelle Gruppierungen hinterlässt nach wie vor Spuren. Dies wurde jetzt auf unterschiedliche Weisen sichtbar. 144 Unterzeichner*innen des Friedensabkommens kandidierten, davon vier als Bürgermeister, die Übrigen als Abgeordnete für Gemeindeversammlungen. Tatsächlich konnte sich nur ein als Bürgermeister durchsetzen. Diese begrenzte politische Teilhabe der ehemaligen Kämpfer*innen verdeutlicht, dass ihre Integration nach wie vor eine Herausforderung darstellt. Es zeigt auch, dass die Gesellschaft weiterhin vor anhaltenden Spaltungstendenzen steht.

In einigen Provinzen haben Politiker gewonnen, die die Umsetzung der Friedenspolitik von Petro ablehnen. Auf lokaler Ebene muss diese jedoch koordiniert werden. Hier fehlt noch eine Strategie wie dieser Gegensatz aufgelöst werden kann. In meinen Augen fehlt es auch am Zuhören und der Suche nach Kompromissen. Diskussionen über Ideen werden oft von einigen Medien überdramatisiert. Zudem erhalten weniger wichtige Ereignisse überproportional viel Aufmerksamkeit, nur um dann rasch wieder in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.

Gustavo Petro setzt vor allem auf Ausgleich mit der FARC. Wird das in Kolumbien gutgeheißen?

Petros Ansatz, politische Guerillagruppen und kriminelle Banden zu integrieren und zu einer Verständigung zu führen, steht im krassen Gegensatz zu den Hardlinern, die auf Konfrontation setzen und damit bereits mehrfach gescheitert sind. Während dieses Thema nicht in allen Teilen gleichermaßen dominant war, könnte es an Bedeutung gewinnen, wenn es nicht gelingt, eine signifikante Anzahl der Kämpfer*innen für sein Projekt des umfassenden Frieden (Paz total) zu gewinnen: Geschlossene Wunden könnten aufreißen und erneut für Spannungen sorgen.

Gustavo Petro ist mit einer ambitionierten Reformagenda gestartet. Was davon lässt sich bis zur nächsten Präsidentschaftswahl in zwei Jahren noch umsetzen?

Um die Gesellschaft nachhaltig sozial gerechter zu gestalten, ist Petro weiterhin auf die Unterstützung des Kongresses angewiesen. Nur wenn es ihm dort gelingt, Mehrheiten zu gewinnen, kann von einem erfolgreichen Regierungsprojekt gesprochen werden. Das Potenzial für solche Veränderungen wurde bereits mit der verabschiedeten Steuerreform bewiesen. Er sollte versuchen, an diesen Moment der Wechselstimmung anzuknüpfen.

Petro benötigt auch regionale und internationale Unterstützung. Die Sozialdemokratie und Deutschland insgesamt sind politische Freunde Kolumbiens. Es ist daher auch unser Interesse, der Demokratie und des Friedens willen, dass seine Regierung erfolgreich ist. Wenn Petro jetzt versuchen sollte, ausschließlich durch Dekrete zu regieren, wird dies nicht erfolgreich sein. Es wäre zu erwarten, dass Entscheidungen vor kolumbianischen Gerichtsinstanzen landen und aufgehoben werden. Petro hat im Laufe seiner Karriere seine Gegenspieler oft überrascht. Solange die Allianz mit der Zivilgesellschaft intakt bleibt, ist vieles offen. Schließlich hat er auch einen Einfluss darauf, wer 2026 für die linken Kräfte antritt, um sein politisches Erbe fortzuführen und zu gewinnen.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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