Meinung

SPD-Mitgliedervotum: Warum ich trotz aller Bedenken mit Ja gestimmt habe

Mit deutlicher Mehrheit haben sich die SPD-Mitglieder für eine Koalition mit CDU und CSU ausgesprochen. Auch Christian Wolff hat dafür gestimmt – obwohl er große Bedenken gegenüber dem Bündnis hat. Vor allem zwei Dinge sieht er als Hypothek für die künftige Koalition.

von Christian Wolff · 30. April 2025
Rund 84 Prozent der SPD-Mitglieder haben dem Koalitionsvertrag mit der Union zugestimmt.

Klares Ergebnis: Rund 84 Prozent der SPD-Mitglieder haben dem Koalitionsvertrag mit der Union zugestimmt.

Das Ergebnis ist eindeutig: Bei einer Beteiligung von (nur!) 56 Prozent der SPD-Mitglieder haben 169.725 (84,6 Prozent) der Regierungsbeteiligung der SPD grünes Licht gegeben. 30.912 SPD-Mitglieder (15,4 Prozent) lehnen eine Koalition mit der CDU/CSU ab. Damit bejahen fast die Hälfte der 358.000 SPD-Mitglieder eine Regierungsbeteiligung der SPD. Ich selbst habe auch mit JA gestimmt. JA, die SPD soll auf der Grundlage des Koalitionsvertrages in die neue Bundesregierung eintreten. Mein JA habe ich nicht abhängig davon gemacht, dass ich den im Koalitionsvertrag ausgehandelten Kompromissen zustimme.

Es ist keine andere Regierungsbildung möglich

Für mich war entscheidend: Aufgrund des Ergebnisses der Bundestagswahl ist keine andere Regierungsbildung möglich als durch eine Koalition zwischen den demokratischen Parteien CDU, SPD und CSU. Eine solche Regierungsbildung abzulehnen, bedeutet: die Rechtsnationalisten von der AfD noch stärker zu machen, als sie sind. Darum musste für mich auch das gewichtige Argument gegen eine Regierungsbeteiligung der SPD zurücktreten: das mit 16,4 Prozent katastrophale Wahlergebnis für die SPD, ein Misstrauensvotum gegen die Politik der stärksten Partei in der bisherigen Bundesregierung.

Unabhängig vom diesen mehr pragmatischen Argumenten liegen aber auf der Regierungsbildung und der zukünftigen Bundesregierung zwei schwere Hypotheken: die konkrete Ausgestaltung der Migrationspolitik und das gigantische Aufrüstungsprogramm, das noch vom alten Bundestag beschlossen wurde und nun Eingang gefunden hat in den Koalitionsvertrag. Beides ist für mich als Sozialdemokraten eine Zumutung.

Hypothek Migration

Gradmesser für die Migrationspolitik sind nicht die Fensterreden, die gehalten und mit denen vor allem Vorurteile gegen Geflüchtete geschürt werden, sondern die Maßnahmen, die tatsächlich getroffen werden. Niemand wird Einspruch erheben, dass Geflüchtete, die eine schwere Straftat begangen haben, abgeschoben werden können. Tatsächlich aber sind schon viel zu viele gut integrierte Geflüchtete abgeschoben worden bzw. sind von Abschiebung bedroht und werden unter „illegal“ subsumiert.

Doch der eigentliche Missstand spielt sich woanders ab: Derzeit sitzen 2.600 Afghaninnen und Afghanen mit rechtsverbindlichen Aufnahmezusagen durch die Bundesregierung in Pakistan fest. Auf Druck der CDU/CSU wurden die von der geschäftsführenden Bundesregierung geplanten Ausflüge nach Deutschland gestoppt, nachdem Mitte April noch einmal eine Maschine mit Afghan*innen in Leipzig landete. Bei den Afghan*innen handelt sich um Personen, die als besonders gefährdet gelten. Sie haben sich in Afghanistan für Menschen- und Frauenrechte eingesetzt, waren in gesellschaftlichen Organisationen tätig oder als sogenannte Ortskräfte bis 2021 bei der Bundeswehr und anderen deutschen Organisationen beschäftigt. Ihr Leben wird von den Taliban bedroht.

Es liegt Wort- und Rechtsbruch vor

Der Stop der Ausflüge ist ein rechtlicher, politischer und menschlicher Skandal der besonderen Art. Denn bei den Menschen, die jetzt in Pakistan von Abschiebung nach Afghanistan bedroht sind, handelt es sich nicht um sogenannte illegale Migrant*innen. Sie sind im Besitz einer rechtsverbindlichen Aufnahmezusage durch die Bundesregierung. Sie sind entsprechend überprüft worden. Hier liegt also Wort- und Rechtsbruch vor. Besonders verwerflich ist, dass CDU und CSU bewusst auf Zeit spielen und kalt berechnend davon ausgehen, dass die Afghan*innen sehr bald von Pakistan nach Afghanistan abgeschoben werden und dann dort in Gefängnissen oder sonstwie verschwinden.

Das ist so verwerflich, dass man es kaum fassen kann, dass zu einer solchen Handlung eine Partei fähig ist, die sich „christlich“ nennt. Gleichzeitig ist es ein Alarmsignal dafür, in welch menschenverachtenden Geist Migrationspolitik betrieben wird. Die SPD muss in der neuen Bundesregierung darauf dringen, dass hier nicht jedes Maß des Anstands verlorengeht. Außerdem muss darauf geachtet werden, dass das Recht hier nicht unter die Räder kommt.

Hypothek Aufrüstung

Noch der alte Bundestag hat Ende März 2025 durch eine Änderung des Grundgesetzes Ausgaben für Rüstung/Militär in unbegrenzter Höhe ermöglicht. Gleichzeitig ist Deutschland laut des Jahresberichtes des Friedensinstituts SIPRI 2024 mit 88,5 Milliarden Dollar weltweit an die vierte Stelle der Rüstungsausgaben gerückt. Insgesamt sind 2024 die Ausgaben für Rüstung weltweit auf die unvorstellbare Summe von 2,72 Billionen Dollar gestiegen, das sind knapp zehn Prozent mehr als 2023. Nun wird immer angeführt, dass die Ausgaben für das Militär der Friedenssicherung dienen. Tatsache ist aber, dass die exorbitante Steigerung der Rüstungsausgaben mit vermehrten Kriegen und Bürgerkriegen korrespondieren.

Dieser Widerspruch zeigt auf: Ausgaben für das Militär tragen nicht dazu bei, dass Konflikte entschärft, befriedet werden. Im Gegenteil: Sie führen zu Ausbreitung kriegerischer Handlungen mit all den Kolleteralschäden, die menschliches Miteinander verunmöglichen: Zerstörung von Körper und Seele vor allem junger Menschen, der natürlichen Lebensgrundlagen und der Infrastruktur vor Ort. Hinzu kommt, dass weltweit der Rüstungssektor abseits der Entscheidungsgremien wie Parlamente und Regierungen ein gefährliches, zumeist unkontrolliertes Eigenleben führt. Dieses ist Quelle von Korruption, Planwirtschaft, Verschwendung, Überteuerung und kriminellen Machenschaften – einmal völlig abgesehen davon, dass die jetzigen Möglichkeiten von Rüstungsproduktion und -exporten das Primat des Politischen aushebeln.

Die Grundwerte der SPD müssen zum Leitmotiv werden

Was politisch aber völlig offen und sich als höchst gefährlich erweisen kann: Wie will man verhindern, dass der gesamte Militärsektor eines Tages bestimmt und gesteuert wird von extremistischen Kräften wie der AfD? Das heißt: Der wichtigste Beitrag für Erhaltung des Friedens, der auch von der neuen Bundesregierung zu leisten ist, besteht darin, die freiheitliche Demokratie zu schützen und auszubauen. Das aber ist zuerst und vor allem keine militärische, sondern eine politische Aufgabe.

JA, die Bildung der neuen Bundesregierung sehe ich als einen ersten, notwendigen Beitrag, die Demokratie zu stärken. Darum habe ich dem Koalitionsvertrag trotz aller Bedenken zugestimmt. Aber ich erwarte von der SPD, dass sie gerade in der Migrations- und Friedenspolitik ihre Grundwerte zum Leitmotiv werden lässt. Eigentlich müsste das auch den beiden Parteien möglich sein, die das „C“ mit Namen führen.

Der Text erschien zuerst im Blog des Autors.

Autor*in
Christian Wolff
Christian Wolff

ist evangelischer Theologe und seit 2014 als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig. Seit 1970 ist er Mitglied der SPD.

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7 Kommentare

Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Fr., 02.05.2025 - 09:27

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rumzueiern. Das scheint mir symptomatisch zu sein, um sich für eine spätere Erklärungsnot in alle Richtungen abzusichern. Ich habe zugestimmt, punkt aus. Glaubt denn jemand an Zustimmungs- oder Übereinstimmungswerte von 100 %? Wo gibt es die schon. Selbst bei Debbie Harry gibt es wenige, die ihre herausragende Schönheit bestreiten.
Also, tut bitte nicht so als ob und steht zu dem, was ihr macht

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Fr., 02.05.2025 - 09:30

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Christian Wolff hat wieder einen großartigen Beitrag vorgelegt, von dem ich (nahezu) jeden Satz übernehmen würde. Vielleicht darf ich gerade deshalb ein paar Anmerkungen machen.

Das „katastrophale Wahlergebnis für die SPD“ bei der letzten Bundestagswahl – etwa 36% der bisherigen SPD-Wähler haben „ein Misstrauensvotum gegen die Politik der stärksten Partei in der bisherigen Bundesregierung“ abgegeben – ist ein „gewichtiges Argument gegen eine Regierungsbeteiligung der SPD“. Es trägt aber nicht, weil die Ablehnung der Regierungsbeteiligung „die Rechtsnationalisten von der AfD noch stärker machte, als sie (ohnehin schon) sind“: Und das kann niemand wollen. Wolff nennt diese Abwägung „ mehr pragmatische Argumente“; er hätte auch von Verantwortungsethik sprechen dürfen.

Aus dem „Misstrauensvotum gegen die Politik der stärksten Partei“ durch die Wahl und den ihm damit aufgezwungenen Skrupeln bei der Mitgliederabstimmung leitet Wolff seine Forderung ab,

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Fr., 02.05.2025 - 09:34

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„die Grundwerte der SPD müssen zum Leitmotiv (für die neue Regierungsarbeit) werden“. Er macht die „Grundwerte“ fest an der „Hypothek Migration“ und an der „Hypothek Aufrüstung“. Ich frage (eingeengt) nach den „Grundwerten der SPD“ in Sachen „Aufrüstung“.
2024 gaben die Staaten 2.720 Mrd. US$ für Rüstung aus. Die USA allein 997 Mrd. US$ (36,7%). Geradezu bescheiden dagegen, brachte es die BRD gerade mal auf 88,5 Mrd. US$ (3,3%) - und, nur mal zum Vergleich, die Russische Föderation kam auf 149 Mrd. US$ (5,5%). (Die Statista-Daten berücksichtigen nicht die Kaufkraft-Unterschiede in den Ländern.) Wenn in Kürze -Trump, Rutte, Merz und Pistorius verlangen von den Nato-Staaten eine massive Aufrüstung - die Nato-Vorgabe auf mindestens 3% vom BIP angehoben wird, dann bedeutet das für die BRD jährliche Militärausgaben von mindestens 130 Mrd. €. Damit die im Bundeshaushalt nicht jährlich ausgewiesen werden müssen (u. a.), hat der bisherige Bundestag noch schnell beschlossen,

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Fr., 02.05.2025 - 09:38

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alle über 1% vom BIP hinausgehenden Militärausgaben in einem noch nicht benannten Sondervermögen zu verstecken. Gehört dieser Tatbestand schon irgendwie zu den „Grundwerten der SPD“?
Wolff kommt in seiner Kritik an den „ermöglichten Ausgaben für Rüstung/Militär in unbegrenzter Höhe“ ohne Hinweis auf den Angriffskrieg Putins aus, obwohl der seit Februar 2022 das Verhalten nicht nur der SPD steuert. Klingbeil hat daraus sogar die Konsequenz gezogen, der SPD ein neues (Teil-) Parteiprogramm zu verordnen und „unsere eigene Rolle in der Welt neu zu definieren“ (Sozialdemokratische Antworten …, 20.01.2023). Wir, die SPD, (manchmal meint „wir „aber auch EU und Nato,) sollen „eine regelbasierte internationale Ordnung“ durchsetzen, jedenfalls „kommt Deutschland dabei eine ganz zentrale Rolle zu“ (S. 1). „Die eigene Stärke ist eine Grundvoraussetzung für Frieden und den Einsatz für eine regelbasierte Ordnung. Die eigene Stärke definiert sich aber auch über militärische Fähigkeiten“ (S. 5).

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Fr., 02.05.2025 - 09:40

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Durchzusetzen ist sie vor allem „gerade in Konkurrenz zu Machtzentren wie China und Russland“ (S. 15), insbesondere gegen „China, eine Globalmacht, die Weltpolitik in ihrem Sinne zu formen gedenkt“ (S. 16). Immerhin ist die SPD nicht bescheiden bei der Auswahl ihrer Gegner – und unsere atomare Aufrüstung lugt aus allen Satz-Zwischenräumen. Die Russische Föderation ist ja nur eine Regionalmacht mit Atombomben – aber China? Und wenn wir es mit China (und Russland) aufnehmen wollen, bekommen wir es dann nicht auch noch mit Indien, Brasilien und Südafrika zu tun? Nimmt man die 16%-Partei der BRD ernst, dann ist doch nicht nur das politische, wirtschaftliche, militärische geographische Gewicht der Kombattanten in einem irrwitzigen Ungleichgewicht. Auch die Annahme, wir seien moralisch-ethisch berechtigt, eine Weltordnung zu gestalten, China aber nicht, ist doch rational nicht mehr zu begründen. Die einzige vernünftige Strategie in dieser Gemengelage ist,

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Fr., 02.05.2025 - 09:47

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eine für alle akzeptable regelbasierte Ordnung zu finden. Nur die wäre nachhaltig und könnte ohne die große Katastrophe erreicht werden. Massive Aufrüstung ist da keine sehr pfiffig Antwort - und sie hilft auch nicht. (Auch die barbarische Situation des Ukrainekrieges wäre vermutlich nicht entstanden, wenn unser wertegeleitetes, strategisches Interesse auch das strategische Interesse Russlands beachtet und einen Ausgleich gesucht hätte. Der Krieg lässt sich auch nicht anders dauerhaft befrieden, als hier angedeutet.)

Die politische Neuausrichtung der SPD durch Klingbeil aus dem Urknall Ukraine-Krieg kann nicht anders als militaristisch sein, jedenfalls dann, wenn das Narrativ über die Kriegsentstehung allein „imperiale Besessenheit“ ist. Die neuen „Grundwerte der SPD“ sind darum Kriegstüchtigkeit, Abschreckung, Konfrontation. Das sind nicht die „Grundwerte der SPD“, die Wolff „zum Leitmotiv“ der Regierungsarbeit machen will. Ich auch nicht. Beide werden wir sie aber bekommen.

Gespeichert von Peter Boettel (nicht überprüft) am Fr., 02.05.2025 - 09:48

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Mit knirschenden Zähnen habe ich zugestimmt. Natürlich passt mir vieles nicht:
-Merz als Kanzler, - Dobrindt als Innenminister, - AfD-Fan Spahn als Fraktionsvorsitzender der Union, - einige Minister*Innen der Union (hierzu s. u. Thema des Tages in Correctiv v. 28.04.),
immer noch keine Steuergerechtigkeit, was ich seit mehreren Wahlperioden kritisiere; Aushöhlung des Asylrechts, Kriegspolitik etc.,
Aber worin hätte die Alternative bestanden? Neuwahlen? neue Verhandlungen mit Zugeständnissen der SPD in anderen Bereichen (z.B. zum Mindestlohn, TariftreueG, Deutschlandticket)? CDU/CSU-Minderheitsregierung mit Unterstützung der AfD?
So ging es vermutlich vielen anderen Genossinnen und Genossen auch. Man kann nur hoffen, dass sich die SPD-Mitglieder in der Regierung nicht überrumpeln lassen wie es früher in derartigen Regierungen fast üblich war, (z.B. Heraufsetzung des Renteneintrittsalters als Zugeständnis v. Müntefering gegenüber Merkel ohne Gegenleistung!)