SPD-Mitgliedervotum: Warum ich trotz aller Bedenken mit Ja bestimmt habe
Mit deutlicher Mehrheit haben sich die SPD-Mitglieder für eine Koalition mit CDU und CSU ausgesprochen. Auch Christian Wolff hat dafür gestimmt – obwohl er große Bedenken gegenüber dem Bündnis hat. Vor allem zwei Dinge sieht er als Hypothek für die künftige Koalition.
imago
Klares Ergebnis: Rund 84 Prozent der SPD-Mitglieder haben dem Koalitionsvertrag mit der Union zugestimmt.
Das Ergebnis ist eindeutig: Bei einer Beteiligung von (nur!) 56 Prozent der SPD-Mitglieder haben 169.725 (84,6 Prozent) der Regierungsbeteiligung der SPD grünes Licht gegeben. 30.912 SPD-Mitglieder (15,4 Prozent) lehnen eine Koalition mit der CDU/CSU ab. Damit bejahen fast die Hälfte der 358.000 SPD-Mitglieder eine Regierungsbeteiligung der SPD. Ich selbst habe auch mit JA gestimmt. JA, die SPD soll auf der Grundlage des Koalitionsvertrages in die neue Bundesregierung eintreten. Mein JA habe ich nicht abhängig davon gemacht, dass ich den im Koalitionsvertrag ausgehandelten Kompromissen zustimme.
Es ist keine andere Regierungsbildung möglich
Für mich war entscheidend: Aufgrund des Ergebnisses der Bundestagswahl ist keine andere Regierungsbildung möglich als durch eine Koalition zwischen den demokratischen Parteien CDU, SPD und CSU. Eine solche Regierungsbildung abzulehnen, bedeutet: die Rechtsnationalisten von der AfD noch stärker zu machen, als sie sind. Darum musste für mich auch das gewichtige Argument gegen eine Regierungsbeteiligung der SPD zurücktreten: das mit 16,4 Prozent katastrophale Wahlergebnis für die SPD, ein Misstrauensvotum gegen die Politik der stärksten Partei in der bisherigen Bundesregierung.
Unabhängig vom diesen mehr pragmatischen Argumenten liegen aber auf der Regierungsbildung und der zukünftigen Bundesregierung zwei schwere Hypotheken: die konkrete Ausgestaltung der Migrationspolitik und das gigantische Aufrüstungsprogramm, das noch vom alten Bundestag beschlossen wurde und nun Eingang gefunden hat in den Koalitionsvertrag. Beides ist für mich als Sozialdemokraten eine Zumutung.
Hypothek Migration
Gradmesser für die Migrationspolitik sind nicht die Fensterreden, die gehalten und mit denen vor allem Vorurteile gegen Geflüchtete geschürt werden, sondern die Maßnahmen, die tatsächlich getroffen werden. Niemand wird Einspruch erheben, dass Geflüchtete, die eine schwere Straftat begangen haben, abgeschoben werden können. Tatsächlich aber sind schon viel zu viele gut integrierte Geflüchtete abgeschoben worden bzw. sind von Abschiebung bedroht und werden unter „illegal“ subsumiert.
Doch der eigentliche Missstand spielt sich woanders ab: Derzeit sitzen 2.600 Afghaninnen und Afghanen mit rechtsverbindlichen Aufnahmezusagen durch die Bundesregierung in Pakistan fest. Auf Druck der CDU/CSU wurden die von der geschäftsführenden Bundesregierung geplanten Ausflüge nach Deutschland gestoppt, nachdem Mitte April noch einmal eine Maschine mit Afghan*innen in Leipzig landete. Bei den Afghan*innen handelt sich um Personen, die als besonders gefährdet gelten. Sie haben sich in Afghanistan für Menschen- und Frauenrechte eingesetzt, waren in gesellschaftlichen Organisationen tätig oder als sogenannte Ortskräfte bis 2021 bei der Bundeswehr und anderen deutschen Organisationen beschäftigt. Ihr Leben wird von den Taliban bedroht.
Es liegt Wort- und Rechtsbruch vor
Der Stop der Ausflüge ist ein rechtlicher, politischer und menschlicher Skandal der besonderen Art. Denn bei den Menschen, die jetzt in Pakistan von Abschiebung nach Afghanistan bedroht sind, handelt es sich nicht um sogenannte illegale Migrant*innen. Sie sind im Besitz einer rechtsverbindlichen Aufnahmezusage durch die Bundesregierung. Sie sind entsprechend überprüft worden. Hier liegt also Wort- und Rechtsbruch vor. Besonders verwerflich ist, dass CDU und CSU bewusst auf Zeit spielen und kalt berechnend davon ausgehen, dass die Afghan*innen sehr bald von Pakistan nach Afghanistan abgeschoben werden und dann dort in Gefängnissen oder sonstwie verschwinden.
Das ist so verwerflich, dass man es kaum fassen kann, dass zu einer solchen Handlung eine Partei fähig ist, die sich „christlich“ nennt. Gleichzeitig ist es ein Alarmsignal dafür, in welch menschenverachtenden Geist Migrationspolitik betrieben wird. Die SPD muss in der neuen Bundesregierung darauf dringen, dass hier nicht jedes Maß des Anstands verlorengeht. Außerdem muss darauf geachtet werden, dass das Recht hier nicht unter die Räder kommt.
Hypothek Aufrüstung
Noch der alte Bundestag hat Ende März 2025 durch eine Änderung des Grundgesetzes Ausgaben für Rüstung/Militär in unbegrenzter Höhe ermöglicht. Gleichzeitig ist Deutschland laut des Jahresberichtes des Friedensinstituts SIPRI 2024 mit 88,5 Milliarden Dollar weltweit an die vierte Stelle der Rüstungsausgaben gerückt. Insgesamt sind 2024 die Ausgaben für Rüstung weltweit auf die unvorstellbare Summe von 2,72 Billionen Dollar gestiegen, das sind knapp zehn Prozent mehr als 2023. Nun wird immer angeführt, dass die Ausgaben für das Militär der Friedenssicherung dienen. Tatsache ist aber, dass die exorbitante Steigerung der Rüstungsausgaben mit vermehrten Kriegen und Bürgerkriegen korrespondieren.
Dieser Widerspruch zeigt auf: Ausgaben für das Militär tragen nicht dazu bei, dass Konflikte entschärft, befriedet werden. Im Gegenteil: Sie führen zu Ausbreitung kriegerischer Handlungen mit all den Kolleteralschäden, die menschliches Miteinander verunmöglichen: Zerstörung von Körper und Seele vor allem junger Menschen, der natürlichen Lebensgrundlagen und der Infrastruktur vor Ort. Hinzu kommt, dass weltweit der Rüstungssektor abseits der Entscheidungsgremien wie Parlamente und Regierungen ein gefährliches, zumeist unkontrolliertes Eigenleben führt. Dieses ist Quelle von Korruption, Planwirtschaft, Verschwendung, Überteuerung und kriminellen Machenschaften – einmal völlig abgesehen davon, dass die jetzigen Möglichkeiten von Rüstungsproduktion und -exporten das Primat des Politischen aushebeln.
Die Grundwerte der SPD müssen zum Leitmotiv werden
Was politisch aber völlig offen und sich als höchst gefährlich erweisen kann: Wie will man verhindern, dass der gesamte Militärsektor eines Tages bestimmt und gesteuert wird von extremistischen Kräften wie der AfD? Das heißt: Der wichtigste Beitrag für Erhaltung des Friedens, der auch von der neuen Bundesregierung zu leisten ist, besteht darin, die freiheitliche Demokratie zu schützen und auszubauen. Das aber ist zuerst und vor allem keine militärische, sondern eine politische Aufgabe.
JA, die Bildung der neuen Bundesregierung sehe ich als einen ersten, notwendigen Beitrag, die Demokratie zu stärken. Darum habe ich dem Koalitionsvertrag trotz aller Bedenken zugestimmt. Aber ich erwarte von der SPD, dass sie gerade in der Migrations- und Friedenspolitik ihre Grundwerte zum Leitmotiv werden lässt. Eigentlich müsste das auch den beiden Parteien möglich sein, die das „C“ mit Namen führen.
Der Text erschien zuerst im Blog des Autors.
Wolfgang Zeyen
ist evangelischer Theologe und seit 2014 als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig. Seit 1970 ist er Mitglied der SPD.