Inland

Gemischte Reaktionen auf Koalitionsvertrag: „Es hätte mehr Mut gebraucht“

SPD und Union haben ihren Entwurf für einen Koalitionsvertrag vorgelegt. Noch während der Pressekonferenz am Mittwoch trudelten erste Reaktionen von Wirtschaft und Verbänden ein – von Erleichterung bis Enttäuschung ist alles dabei.

von Lea Hensen · 10. April 2025
CDU, CSU und SPD haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt.

CDU, CSU und SPD haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt.

Das war wohl zu erwarten: Die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU waren schwierig, insbesondere in Fragen von Wirtschaft, Migration und Finanzen lagen die Positionen deutlich auseinander. Entsprechend unterschiedlich wird auch der Entwurf zum Koalitionsvertrag bewertet, den die Parteivorsitzenden am Mittwoch vorstellten.

„Der Anfang ist gemacht, mehr Mut muss folgen.“

CDU-Chef und Kanzleranwärter Friedrich Merz hatte vorab eine Wende in der Wirtschaft angekündigt. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) blickt jedoch mit gemischten Gefühlen auf die von SPD und Union geplanten Maßnahmen. Die Parteien hätten „nicht konsequent die Stärkung der Wirtschaft zum Maßstab gemacht“, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian in einem Statement. „Je rauer der Wind von außen bläst, desto dringlicher ist es, dass wir unser Land gemeinsam wieder zu einem Stabilitätsanker machen“, sagte er. „Der Anfang ist gemacht, mehr Mut muss folgen.“ Die DIHK kritisiert vor allem, dass die Unternehmenssteuer erst 2028 reformiert werden soll. „Insgesamt reicht das vorliegende Paket allein nicht, um eine echte Trendwende zu schaffen“, so das Fazit.

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger lobte das Tempo, mit dem sich die Parteien auf den Koalitionsvertrag geeinigt hätten. „Diese Geschwindigkeit brauchen wir auch im Regierungshandeln. Deutschland muss schneller, besser und wettbewerbsfähiger werden“, erklärte Dulger. Der BDA-Chef lobte die Pläne zur Senkung der Energiepreise und der Unternehmenssteuer. „Dass das Lieferkettengesetz abgeschafft werden soll, ist eine großartige Nachricht.“ Hingegen habe es die Koalition versäumt, mit einer Reform der Sozialversicherungssysteme steigende Abgaben zu verhindern. Ähnlich sieht das Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH). Der Koalitionsvertrag erhalte „wirksame Medizin, aber auch bittere Pillen“, der sozialpolitische Teil sei sanierungsbedürftig, bevor die Koalition überhaupt ihre Arbeit aufnehme. Immerhin: Beim Bürokratieabbau seien die Parteien ambitioniert.

„Leider kein Wachstumsprogramm“

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sieht im Ergebnis der Koalitionsgespräche das „Maximum des Machbaren“. Die Ökonom*innen kritisieren, dass Rentenkosten aus Steuermitteln finanziert werden sollen, begrüßen aber die deutlichen Verschärfungen beim Bürgergeld sowie die Pläne, die Höchstarbeitszeit wöchentlich und nicht täglich zu messen. Mit Blick auf eine schwarz-rote Steuerpolitik heißt es: „Es hätte mehr Mut gebraucht, um Deutschlands Ruf als Hochsteuerland schnell zu korrigieren und einen größeren steuerpolitischen Beitrag zum Weg aus der Krise zu leisten.“ 

Laut dem Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) fehlt es dem Koalitionsvertrag an Ambitionen. DIW-Präsident Marcel Fratzscher sagte: „Der Koalitionsvertrag von Union und SPD ist ein Kompromiss, der den Status quo weitgehend beibehält und zentrale Zukunftsfragen unzureichend adressiert.“ Nach Meinung der Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer dürfte die Wirtschaftswende von Merz wohl deutlich bescheidener ausfallen als erwartet. „Das ist leider kein Wachstumsprogramm“, sagte Schnitzer.

Lob für die Wirtschaftspläne kam dagegen vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). „Endlich gibt es klare Perspektiven für Beschäftigte und Wachstum“, sagte DGB-Chefin Yasmin Fahimi, auch mit Blick auf das vereinbarte Sondervermögen für Infrastruktur von 500 Milliarden Euro. Die Gewerkschafschefin begrüßte das Bundestariftreuegesetz und die Sicherung des Rentenniveaus bei 48 Prozent, reagierte aber mit Unverständnis auf die Pläne, den Acht-Stunden-Tag durch eine Wochenarbeitszeit zu ersetzen. „Vor Beliebigkeit und Aktionismus bei der Änderung des Arbeitszeitgesetzes können wir daher auch die neue Bundesregierung nur warnen“, sagte sie.

Gewerkschaften kritisieren Wochenarbeitszeit

Diese Haltung teilen die Gewerkschaften IG Metall und ver.di. Änderungen am Arbeitszeitgesetz öffneten Tür und Tor für Missbrauch, erklärte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke. „Das Arbeitszeitgesetz schützt Menschen, die ohnehin unter prekären Bedingungen arbeiten müssen – deshalb darf es nicht ausgehöhlt werden.“ Dennoch enthalte der Koalitionsvertrag auch „wichtige Weichenstellungen für die Zukunft, etwa bei Investitionen und der Stabilisierung der gesetzlichen Rente“. Lücken gebe es mit Blick auf die Kommunalfinanzen. Die Abschaffung des Lieferkettengesetzes sei zudem „ein fataler Rückschritt“. 

Die IG Metall nannte Investitionen, die Förderung neuer Technologien und soziale und persönliche Sicherheit einen richtigen Weg. „Abbau von Rechten, Flexibilisierung zulasten Beschäftigter und Kürzungen sind es nicht", sagte die Erste Vorsitzende Christiane Benner. „Wir werden die weiteren Schritte an einigen Stellen unterstützend, an einigen Stellen kritisch begleiten“, so Benner. 

Gemischte Reaktionen gibt es auch auf die sozialpolitischen Vorhaben von Schwarz-Rot. Verena Bentele, Präsident des Sozialverbands VdK, lobte die geplante Stabilisierung des Rentenniveaus und die Erweiterung der Mütterrente. „Enttäuschend, weil zu unkonkret“, blieben aber die Pläne zur Stärkung pflegender Angehöriger. Deutlich kritischer fiel die Reaktion der Arbeiterwohlfahrt (AWO) aus. AWO-Präsident Michael Groß sieht im Koalitionsvertrag „keine Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt“ und sprach „all denen, die unter dem angekündigten ‚Politikwechsel‘ leiden werden“ Solidarität aus – Armutsbetroffene und deren Kinder, Migrant*innen und Geflüchtete. Die Verschärfungen in der Migrationspolitik seien ein „Frontalangriff auf das Asylrecht“, die Rückabwicklung des Bürgergelds bewertete Groß als falsch, auch fehlten Steuerreformen, um den Sozialstaat zu stärken. Dafür würden endlich Spielräume für Investitionen in die soziale Infrastruktur geschaffen.

Pflegebranche reagiert enttäuscht

Thomas Greiner, Präsident vom Arbeitgeberverband Pflege (AGVP), nannte den Koalitionsvertrag „für die Altenpflege eine einzige Enttäuschung“. Der Vertrag enthalte kein Wort zur Sicherung der Pflegeheime und kein Wort zur wirtschaftlichen Situation der Einrichtungen. Die neue Regierungskoalition sollte man deswegen „GeKo“, also „Gestern-Koalition“, nennen. „Die Pflegepolitik von Schwarz-Rot katapultiert uns zurück in die 50er-Jahre“, so Greiner.

Zu den gesundheitspolitischen Vorhaben äußerte sich der geschäftsführende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Sein Ministerium wird zukünftig von der CDU geführt, Lauterbach wird sein Amt also nicht fortführen. „SPD und Union finden die richtigen Antworten auf die großen gesundheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit: fehlendes Personal, Qualitätsmängel, steigende Kosten, mehr Bedarf“, schrieb der SPD-Politiker auf X und ergänzte: „Kein Geheimnis, ich hätte als Minister gerne weitergearbeitet. Ich bin aber sicher, dass mein Nachfolger diese Aufgaben erfolgreich bewältigen wird und wünsche dabei viel Glück und Erfolg.“

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) nannte den Koalitionsvertrag einen „Hochrisiko-Vertrag für das Klima und den Naturschutz“. In vielen Bereichen sei ein Rückschlag zu befürchten. „Verantwortung für Deutschland heißt, den Kurs klar auf den Schutz von Klima und Natur zu setzen. Die neue Regierung aber will zentrale Errungenschaften aushöhlen und rückabwickeln“, erklärte der Vorsitzende Olaf Bandt. „Das zentrale Gesetz für die Wärmewende soll abgeschafft werden und es bleibt offen, was die schwarz-rote Alternative sein soll“, sagte er mit Blick auf die geplante Reform des Gebäudeenergiegesetzes. Die Fortsetzung des Deutschlandtickets sei dagegen ein Erfolg. 

 „Menschenrechtliches Armutszeugnis“

Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbunds, begrüßte die Verlängerung der Mietpreisbremse um weitere vier Jahre. Enttäuschend sei aber, dass die Koalition sich „auf keine konkreten Maßnahmen zur Begrenzung von Mieterhöhungen einigen konnte, weder ein Mietenstopp oder Deckel, noch eine reduzierte Kappungsgrenze“. „Mit diesem Koalitionsvertrag kann Deutschland gut bauen“, sagte dagegen Robert Feiger, Vorsitzender der Gewerkschaft IG BAU. Feiger forderte zugleich mehr Tempo. „Denn jeden Tag baut der Bau Kapazitäten ab: Unternehmen gehen in Insolvenz.“  

Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) sieht Menschen mit Migrationsgeschichte im Koalitionsvertrag zu wenig berücksichtigt – ausdrücklich erwähnt würden sie nur in dem Abschnitt, in dem es um die Gewinnung von Soldat*innen geht. Von Muslim*innen sei gar nicht die Rede, kritisierte der Bundesvorsitzende Gökay Sofuoglu. Der Islam komme ausschließlich im negativen Kontext vor. Dass Deutschland als „einwanderungsfreundliches Land“ bezeichnet werde, sei allerdings ein Grund für Erleichterung. 

Besonders deutliche Worte kommen von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Der Koalitionsvertrag sei ein „menschenrechtliches Armutszeugnis“, teilte die Sektion der Organisation in Deutschland mit. SPD und Union würden „Angst schüren und die Gesellschaft spalten“, um den Abbau von Rechtsstaatlichkeit zu rechtfertigen. Generalsekretärin Julia Duchrow nannte es „Doppelstandards“, wenn die Koalitionäre einerseits „Familien in den Mittelpunkt stellen“ wollten, dann aber den Familiennachzug von subsidiär Schutzberechtigten aussetzten. Die Organisation lehnt insbesondere die Einstellung humanitärer Aufnahmeprogramme sowie die geplanten Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien ab, wo den Menschen Todesstrafe und Folter drohen.

Aktuelle Entwicklungen zur Bundestagswahl und den Koalitionsverhandlungen gibt es zum Nachlesen in unserem Newsticker.

Autor*in
Lea Hensen
Lea Hensen

ist Redakteurin des „vorwärts“.

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