Friedenspapier aus der SPD: Warum ich das „Manifest“ nicht unterschreibe
Das Russland-Manifest bleibt Antworten auf wichtige Fragen schuldig, seine Verfasser*innen sind der Vergangenheit verhaftet. Dabei gehen Forderungen unter, die durchaus berechtigt sind.
IMAGO/Panama Pictures
Eine Demonstrantin fordert mit ihrem Schild Stopp der Waffenlieferung.
Es ist mehr als überfällig, dass innerhalb der Sozialdemokratie über die zukünftige „Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa“ eine breite Debatte stattfindet – gerade angesichts der fatalen Rede von der „Kriegstüchtigkeit“ (Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius) und eines gigantischen Aufrüstungsprogramms, das die schwarz-rote Bundesregierung auf den Weg bringen will. Beides widerspricht meines Erachtens den Grundanliegen sozialdemokratischer Friedenspolitik. Dies zur Sprache zu bringen und damit eine notwendige Debatte auszulösen, ist das Verdienst des Manifestes „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“.
Dennoch kann ich nach sorgfältiger Analyse des Papiers dieses nicht unterzeichnen – und dies aus einer Reihe von Gründen:
„Heute leben wir leider in einer anderen Welt“, heißt es in der Mitte des Manifestes. Zuvor werden die Ost- und Friedenspolitik von Willy Brandt und der Helsinki-Prozess der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE), der 1975 die friedliche Konfliktlösung zwischen Ost und West festlegte, beschworen. Die Frage ist: Was ist der Bezugspunkt für die „andere Welt“ und des „leider“? Sehnt sich irgendjemand in die Zeit des Kalten Krieges zurück? Wurde nach der Friedlichen Revolution 1989/90 nicht sofort wieder auf den Vorrang von militärischer Interventionspolitik vor langfristig angelegten Friedensprozessen wie der KSZE gesetzt? Man denke nur an den ersten Golfkrieg 1991 und den Krieg Russlands gegen Tschetschenien 1995.
Freiheitsbewegungen in Sowjetunion unerwähnt
Auf diese Fragen gibt das Manifest keine Antwort. Auch werden mit keinem Wort die Sicherheitsinteressen der Staaten des früheren „Warschauer Paktes“ und der früheren Sowjetunion thematisiert. Mit keinem Wort ist vom Recht der drei baltischen Staaten, der Ukraine, Belarus, Georgiens, Moldaviens und ihrer Bevölkerungen die Rede, ihre Souveränität und Integrität zu verteidigen, in einem freiheitlichen, demokratischen Staat leben zu wollen und selbst zu bestimmen, welchem Staaten-Bündnis sie angehören wollen.
Stattdessen wird sehr einseitig betont, „schrittweise … zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland (zurückzukehren)“. Von den politischen Freiheitsbewegungen in Ländern, die einmal zum Herrschaftsbereich der Sowjetunion gehört haben, ist in dem Papier mit keinem Wort die Rede. Welche Rolle sollen denn die baltischen Staaten, die Ukraine, Belarus, Georgien, Moldavien in einer europäischen Sicherheitsarchitektur spielen? Eine solche Frage wird noch nicht einmal gestellt. So drängt sich leider der Eindruck auf, dass wieder einmal diese Staaten lediglich als Manövrier- und/oder Verhandlungsmasse betrachtet werden. Gerade die Sozialdemokratie sollte aber bedenken, dass der entscheidende Schritt zur Friedlichen Revolution 1989/90 von den Bürger*innen der DDR, Polens, Tschechiens und vieler anderer Länder ausging. Sie wollten nicht mehr Behandelte der Großmächte sein, sondern als freie Menschen in einem demokratischen Europa leben können.
Europäische Union spielt kaum eine Rolle
Leider bleibt in dem Manifest völlig unberücksichtigt, dass seit über zehn Jahren sowohl Putin-Russland wie Trump-Amerika versuchen, die Europäische Union (EU) systematisch zu zersetzen bzw. in ihrer Existenz zu zerstören. Dies geschieht vor allem durch eine Stärkung der Parteien und Bewegungen, die in den Ländern der EU eine rechtsnationalistische, demokratiefeindliche Politik implementieren wollen. Dass diese gefährliche Entwicklung in dem Manifest völlig ausgeblendet wird, ist nur damit zu erklären, dass die Verfasser (leider wenig Verfasserinnen) und Unterzeicher*innen des Manifestes völlig gefangen sind in der Vergangenheit und ihre Überlegungen auf Russland fokussieren. Von daher ist es erklärlich, dass bis jetzt kein namhafter Sozialdemokrat geschweige denn eine Sozialdemokratin aus Ostdeutschland das Manifest unterzeichnet haben.
Besonders kritisch sehe ich, dass in dem Manifest die Europäische Union kaum eine Rolle spielt. Zwar wird die „Herstellung einer eigenständigen Verteidigungsfähigkeit der europäischen Staaten unabhängig von den USA“ gefordert. Aber dass gerade angesichts des Zerstörungsfeldzuges eines Donald Trump gegen die amerikanische Demokratie, seiner imperialen Ansprüche gegenüber Panama, Grönland und Kanada und der kriegerischen Aggression Russlands gegenüber seinen westlichen Nachbarländern die Europäische Union gestärkt werden muss, ist für die Autoren des Manifestes offensichtlich kein Thema. Ebenso wird das Problem, dass der rechtsnationalistische Autokratismus, der sowohl in den USA wie in Russland die Politik bestimmt, mit keinem Wort thematisiert. Darum findet auch die wichtigste Verteidigungswaffe in der Auseinandersetzung mit dem Autokratismus mit imperialem Anspruch keine Erwähnung: nämlich für soziale Gerechtigkeit und freiheitliche Demokratie einzutreten.
Wichtige Forderungen gehen unter
Diese Mängel führen leider dazu, dass die beiden Forderungen in dem Manifest, die absolut berechtigt sind, fast untergehen: Erstens, das schon erwähnte Schlagwort von der „Kriegstüchtigkeit“, mit dem nur eine gefährliche Kriegsrhetorik in der Gesellschaft befeuert wird, und zweitens die mit irrwitzigen Summen ausgestattete Hochrüstung.
Letztere lässt sich allein schon dadurch eingrenzen, dass die EU ihre „eigenständige Verteidigungsfähigkeit“ entwickelt. Ebenso muss jede Bundesregierung gegenüber der Bevölkerung Rechenschaft darüber ablegen, warum die in der EU derzeit veranschlagten Gelder für die Verteidigung und die Anzahl der Soldat*innen in der EU nicht ausreichen sollen. Beides übersteigt in der Summe die Zahlen Russlands deutlich (EU: 1,5 Mio Soldaten, Russland: 1,3 Mio aktive Soldaten; EU: 330 Milliarden Euro, Russland: 150 Milliarden Dollar).
Von der Debatte in der SPD erwarte ich, dass natürlich historische Erfahrungen herangezogen werden. Das kann aber nicht bedeuten, dass diese zum Erklärungsschlüssel für gegenwärtige Entwicklungen deklariert werden. Darum wäre es sicher hilfreich gewesen, wenn man an der Erstellung dieses Manifestes, das in meinen Augen vor allem eine ü70 und westdeutsche Veranstaltung ist, jüngere Parteimitglieder und Politiker*innen aus Ostdeutschland und vom Angriffskrieg Russlands besonders betroffene Osteuropäer*innen beteiligt hätte. Im Mittelpunkt zukünftiger europäischer Verteidigungspolitik aber sollte stehen:
Aufgabe der Sozialdemokratie ist eine andere
Die Stärkung und der Ausbau der EU, um sich unabhängig von den USA und Russland als Friedensprojekt zu etablieren. Eine Verteidigung des sozialen Zusammenhalts und der freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie gegen den Rechtsnationalismus. Eine europäische Friedensordnung, in der die Souveränität und Integrität der Staaten anerkannt und verteidigt werden – insbesondere dadurch, dass nationale Grenzen anerkannt werden und gleichzeitig ihre Bedeutung verlieren. Und eine Beschränkung der Rüstungsausgaben auf das absolut notwendige Minimum.
Eine zentrale Frage aber bleibt am Schluss: Wie wollen wir als und in der EU und NATO das verteidigen, was Länder wie Russland, USA, Ungarn in ihrem Einflussbereich bekämpfen: freiheitliche Demokratie, gesellschaftliche Vielfalt, Rechtsstaatlichkeit? Darauf eine Antwort zu finden, ist Aufgabe der Sozialdemokratie.
Der Text erschien zuerst im Blog des Autors.
Wolfgang Zeyen
ist evangelischer Theologe und seit 2014 als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig. Seit 1970 ist er Mitglied der SPD.
Kommen jetzt auch Meinung für das Manifest?
Der Autor des Artikels täuscht eine Debatte jedenfalls nur an. Es wäre die Aufgabe der Befürworter einer drastischen Aufrüstung (wie dem Genossen Vorsitzenden Klingbeil) eine konsistente Sicherheitsarchitektur zu entwickeln, BEVOR man Abermilliarden an Steuergeld über die Rüstungsindustrie und Militär ausgießt. Denn diese gibt es bis heute nicht, ebenso wenig wie eine konsistente Militärstrategie für die Bundeswehr. Wir wissen doch alle, dass genau diese strategische Unklarheit zu schlechter Ausrüstung, Ineffizienz und Verschwendung von Steuermitteln führt.
Allerdings würde man beim formulieren einer europäischen Sicherheitsarchitektur schnell merken, dass die extrem unterschiedlichen Erwartungen und Interessen kaum unter einen Hut zu bringen sind. Erst recht, wenn man die Interessen der USA und Europas verwechselt oder dar gleichsetzt. Und wenn man dann mal ein solche Strategie formuliert hat, muss man die Wähler davon überzeugen. Oder will man sich das weiterhin sparen?
„Warum ich das „Manifest“ nicht unterschreibe“_1
Ist das der Rede wert?
In unserem „freiheitlichen, demokratischen Staat“ darf jeder „Manifeste“ unterschreiben oder zu unterschreiben unterlassen, ohne dass er sich erklären oder gar entschuldigen muss. Wenn er es trotzdem macht, verfolgt er eine bestimmte Absicht. Und auch der Vorwärts druckt den Wolff-Text nicht ab, um die Leser an der selbstquälerischen Abwägung der Argumente, Sachverhalte oder Annahmen des „Manifestes“ durch Wolff teilhaben zu lassen: Beide meinen, das „Manifest“ enthält eine (oder zwei) richtige Einsicht(en), im Ganzen ist es aber unbrauchbar, vorsichtig formuliert.
„Heute leben wir leider in einer anderen Welt“, bemängelt Wolff am Manifest, und dass es „zuvor“ die von der KSZE eingeleitete „friedliche Konfliktlösung zwischen Ost und West beschworen“ habe, sodass er die Frage stellte, „sehnt sich irgendjemand in die Zeit des Kalten Krieges zurück?“. Das von Klingbeil und Bearbock u. a. gern benutzte Bild vom „Aufwachen in einer anderen Welt“ am 23.2.22
„Warum ich das „Manifest“ nicht unterschreibe“_2
finde ich auch ätzend. Aber daraus abzuleiten, „das Russland-Manifest … (und) seine Verfasser*innen sind der Vergangenheit verhaftet“, ist interessengeleitet, gibt das Manifest nicht her. Natürlich hat Wolff verstanden, der Text ist da ganz eindeutig, dass das Manifest eine historische Entwicklung nachzeichnet, die hoffnungsvoll begann - uns brachte sie gar die Wiedervereinigung -, aber in einer Katastrophe endete. Was Wolff missfällt, er darum nicht akzeptieren will, ist, dass das Manifest, „Russland-Manifest“ (oder ist „Russland“ vom Vorwärts eingefügt), seinen kurzen historischen Abriss mit der Forderung abschließt, dass „nicht einseitige Schuldzuweisung, sondern eine differenzierte Analyse aller Beiträge zur Abkehr von den Prinzipien von Helsinki notwendig ist“. Dieser Einsicht verweigern sich alle unsere Kriegstüchtigen - auch der nicht-kriegstüchtige Wolff, wie seine Verweise auf den „ersten Golfkrieg 1991 und den Krieg Russlands gegen Tschetschenien 1995“ zeigen,
Was ist mit Herrn Rutte? Was ist mit General Hodges? Was ist ...
... mit Sönke Neitzel, was ist mit dem ISW z.B. ... Ich könnte die Liste nicht zu Ende schreiben hier. Alle Defense Experten. Vergangenheitsbehaftet? Die nicht. Aus der Täterrolle heraus ist das heutige Problem nicht zu lösen. Wir sind diesmal potentielle Opfer u. werden nicht zum Täter, wenn wir zu Waffen greifen (müssen!). Verhandeln geht mit entsprechender Firepower, die "Verhandlungspartner" sind in keiner Weise nett u. eine überall akzeptierte "Weltordnung" gibt es nicht. Da waren wir schon man besser. Das wurde erkämpft - "wir" - nicht persönlich - waren damals die Täter u. Unterlegenen. Die Briten haben eine andere Sicht, vielleicht mal in Times Radio Youtube Beiträge reinhören, das bringt die derzeit angemessene historische Sicht gut nah. Irgendwer hier im Forum zitierte sogar Wolfgang Borchert, meine Schulliteratur. Die geht aber erst wieder wenn der Schlamassel vorbei ist. Denke gerade wieder an Rutte: Russich will ich nicht lernen. auf keinen Fall !!!
„Warum ich das „Manifest“ nicht unterschreibe“_3
während ihm Afghanistan und Irak nicht einfallen.
Wenn Wolff feststellt, dass das „Manifest mit keinem Wort die Sicherheitsinteressen der Staaten des früheren „Warschauer Paktes“ und der früheren Sowjetunion thematisiert“, dann ist das bewusste Verfälschung des Manifestes, es geht (fast) um nichts Anderes. Was Wolff aber ablehnt, ist die mit Russland gemeinsam zu findende europäische Sicherheitsarchitektur, für die er unterstellt, dass „die baltischen Staaten, die Ukraine, Belarus, Georgien, Moldavien ...lediglich als Manövrier- und/oder Verhandlungsmasse“ sein werden. Ich lese das nicht im Manifest. Ich denke allerdings auch, dass das Manifest einen Sicherheitsstatus der Ukraine für akzeptabel hält, der nicht zwingend durch eine Nato-Mitgliedschaft garantiert werden muss – in den Friedensgesprächen im März/April 22 wollte die Ukraine z. B. selbst darauf verzichten. Georgien ist geographisch weit von Europa entfernt, Belarus politisch.
„Warum ich das „Manifest“ nicht unterschreibe“_4
Warum müssen Ukraine, Georgien und Belarus unbedingt in die Nato? Der Status der Baltischen Staaten ist festgezurrt.
Für Wolff ist das Recht, „in einem freiheitlichen, demokratischen Staat leben zu wollen und selbst zu bestimmen, welchem Staaten-Bündnis sie angehören wollen“, das erste Gebot; und das sollte auch so sein. Das weite, dem ersten gleich, ist die strategische Grundannahme, dass zwei Nachbarn, ob sie wollen oder nicht, gegenseitig Sicherheitsprobleme sind. Gemeinsame Sicherheit macht beide Gebote politisch deckungsgleich. Das geht nur mit Russland - wie der Überfall auf die Ukraine zeigt.
„Leider bleibt in dem Manifest völlig unberücksichtigt, dass seit über zehn Jahren sowohl Putin-Russland wie Trump-Amerika versuchen, die Europäische Union (EU) systematisch zu zersetzen bzw. in ihrer Existenz zu zerstören“. Zu diesem Argument will ich nur sagen, dass eine gemeinsame europäische Sicherheitsordnung (mit Russland) – vielleicht – Abhilfe schaffen könnte.
„Warum ich das „Manifest“ nicht unterschreibe“_5
„Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist … die Stärkung und der Ausbau der EU, um sich unabhängig von den USA und Russland als Friedensprojekt zu etablieren. Genau das ist die kurzgefasste Idee des Manifestes, wenn „unabhängig“ nicht „gegen“ meint und die Länderaufzählung nicht exklusiv ist.