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Friedensgutachten: Warum Konfliktforscher die Nato vor dem Ende sehen

Erst die Ukraine, dann der Krieg in Gaza: Weitreichende Kriege prägen die Lage in der Welt. In einem neuen Gutachten kommen Friedens- und Konfliktforscher*innen nun zu einem deutlichen Ergebnis mit Blick auf die Verteidigungsfähigkeit des Westens.

von Lea Hensen · 2. Juni 2025
Rauch steigt nach einem Angriff durch die israelische Armee über Gaza-Stadt auf.

Rauch steigt nach einem Angriff durch die israelische Armee über Gaza-Stadt auf.

Die Nato steht vor ihrem Aus –  zu diesem Ergebnis kommen renommierte Friedens- und Konfliktforscher*innen in einem aktuellen Gutachten, das weltweite Konflikte und Kriege analysiert. Seit 1987 geben das Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, das Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen, das „Bonn International Centre for Conflict Studies“ sowie das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg das sogenannte Friedensgutachten heraus. Das diesjährige Gutachten nimmt das Verhältnis zwischen Europa und den USA und dessen Auswirkungen auf das Verteidigungsbündnis in den Fokus – mit einem deutlichen Ergebnis. „Die transatlantische Partnerschaft, wie wir sie kannten, ist am Ende“, fasste Christopher Daase vom Leibniz-Institut es bei der Vorstellung des Gutachtens am Montag in Berlin zusammen.

Trump als Unsicherheitsfaktor für die Welt

„Wir sehen eine sich weiter verschlechternde Sicherheitslage und wenig Aussicht auf eine Trendwende", so Daase. Während in den vergangenen Jahren der russische Angriffskrieg in der Ukraine und später dann der Krieg in Gaza die weltweite Konfliktlage bestimmten, sieht das Gutachten die zweite Amtszeit von US-Präsident Donald Trump als neuen großen Unsicherheitsfaktor. „Trump und seiner Regierung ist es gelungen, die älteste Demokratie der Welt in kurzer Zeit und ohne Widerstand in ein autoritäres Regime zu verwandeln“, sagte Daase. Mit dem Austritt aus multilateralen Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder Andeutungen über einen Rückzug der USA aus der Nato zerstöre der US-Präsident bewusst liberale Errungenschaften. Die USA gingen zudem mit ihrer Zoll-Politik aggressiv gegen Verbündete vor, hofierten autoritäre Herrscher wie Putin und unterstützten Rechtspopulist*innen in Europa. Deutschland und die EU müssten verhindern, dass sich diese Tendenzen auch hierzulande verbreiten. 

Trump hat bereits während seiner ersten Amtszeit mit einem Austritt aus der Nato gedroht und seine Drohung inzwischen mehrfach wiederholt. Indem er ankündigte, Grönland zu annektieren, bringe er einen direkten Angriff auf einen Bündnispartner ins Spiel, denn Grönland gehört zu Dänemark, das Mitglied in der Nato ist, betonen die Forscher*innen in ihrem Friedensgutachten. Angesichts dieser Drohungen sei die Glaubwürdigkeit des Nato-Beistands erschüttert, die Allianz habe keine Zukunft mehr. „Niemand mag so richtig über das Ende der Nato sprechen, obwohl die Wertebasis längst dahin ist“, sagte Christopher Daase am Montag. „Wir arbeiten an der – wenn Sie so wollen – Überwindung der Nato.“ 

Die Verteidigungsfähigkeit der EU stärken

Einfach aufgeben könne die EU die Nato allerdings nicht – zu groß sei die militärische Bedrohung durch Russland. Das Gutachten empfiehlt daher einen transparenten Stufenplan. Langfristig aber gelte: „Europa muss ohne die USA, vielleicht sogar gegen sie verteidigungsfähig werden.“ „Dringliches Ziel“ sei es, die Verteidigungsfähigkeit der EU als Einheit zu stärken – und nicht der einzelnen Staaten. Die EU müsste in Außen- und Sicherheitspolitik geschlossener auftreten und ihre Entscheidungsstrukturen beschleunigen, falls möglich, durch eine Reform der europäischen Verträge. 

Europa stehe jedoch nicht allein da, stellen die Forscher*innen fest. Wie die europäischen Staaten seien auch Länder im Globalen Süden an einer regelbasierten internationalen Ordnung interessiert. Die Forscher*innen fordern, dass Deutschland sein Engagement in der Entwicklungshilfe ausbaut – und nicht zurückschraubt, wie es die neue Bundesregierung angekündigt hat. Unter anderem erinnern die Wissenschaftler*innen an den „vergessenen“ Krieg im Sudan, wo seit 2023 sämtliche internationale Friedensbemühungen scheiterten und Millionen Menschen auf der Flucht sind. Deutschland müsse an einer humanitären Flüchtlingspolitik festhalten und entgegen der Ankündigungen im Koalitionsvertrag verwundbare Gruppen wie Frauen und Kinder weiterhin über Kontingente aufnehmen, so die Forderung der Wissenschaftler*innen.

Deutliche Worte auch zu Gaza

Auch zum Krieg in Gaza findet das Gutachten deutliche Worte. Israel verletze auf „eklatante Weise“ das humanitäre Völkerrecht und habe die „Grenzen der legitimen Selbstverteidigung überschritten“, heißt es. Deutschland müsse den Export von Waffen und Rüstungsgütern untersagen, wenn Israel diese in Gaza oder im Westjordanland einsetzen will. Der internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen Netanjahu wegen Kriegsverbrechen erlassen. „Dies schließt einen Staatsbesuch Benjamin Netanjahus in Deutschland aus – Völkerrecht gegen Staatsräson“, heißt es im Gutachten. Deutschland solle sich mittelfristig zu Palästina als Staat bekennen. Friedensforscher Daase begrüßte aber, dass Bundeskanzler Friedrich Merz den israelischen Kurs zuletzt deutlich kritisierte. 

Autor*in
Lea Hensen
Lea Hensen

ist Redakteurin des „vorwärts“.

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