Wegen Trump: Warum die EU eigenständiger und demokratischer werden muss
US-Präsident Donald Trump hält die westliche Welt seit seinem Amtsantritt im Januar in Atem. Der außenpolitische Sprecher der SPD im Europaparlament, Tobias Cremer, erklärt im Interview, warum Europa eigenständiger werden und sich auf andere Partner besinnen muss.
IMAGO/Martin Bertrand
Tobias Cremer sitzt seit 2024 für die SPD im Europaparlament.
Sie waren vor kurzem in Washington. Wie haben Sie die Stimmung vor Ort erlebt?
Wir hatten die Reise bereits direkt nach der Wiederwahl von Donald Trump geplant, weil wir uns gedacht haben, dass es nicht leicht wird mit der neuen Administration. Dass es aber so schwierig wird, hatten wir auch damals nicht erwartet. Ich bin Transatlantiker durch und durch. Meine Frau ist amerikanische Staatsbürgerin. Ich habe in den USA studiert und gelebt. Gleichzeitig haben wir in den letzten paar Wochen gesehen, dass Trump, Vance und Musk in zwei Monaten geschafft haben, was Stalin, Chruschtschow und Putin in 80 Jahren nicht geschafft haben, nämlich, dass dieses transatlantische Verhältnis fundamental in Frage gestellt wurde. Wollen die Amerikaner dieses Bündnis aufrechterhalten? Ich bin fest überzeugt: Es ist in beiderseitigem Interesse, dass wir das tun. Wirtschaftlich wie sicherheitspolitisch. Aber wir wissen eben nicht, ob diese Trump-Regierung noch rational handelt.
Deshalb müssen wir uns in Europa jetzt erst mal auf unsere eigene Stärke fokussieren und selbst viel mehr tun. Das Ziel sollte bleiben, dass wir ein starkes transatlantisches Bündnis haben, aber wir müssen uns darauf einstellen, unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt, stark und verteidigungsfähig sein zu müssen. Das macht uns unabhängiger von Trump und erhöht gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass die Amerikaner an Bord bleiben. Denn je stärker wir sind, desto attraktiver sind wir auch als Verbündete für die Amerikaner.
Tobias
Cremer
Trumps Wahl war kein Weckruf, sondern es war, als ginge dein Handyalarm wieder los, nachdem du zehnmal auf den Snooze-Button gedrückt hast.
Eigentlich hätte die Europäische Union doch vier Jahre Zeit gehabt, um sich für eine erneute Wahl von Trump entsprechend stark aufzustellen.
Ja, wir haben das zum Teil wieder verschnarcht beziehungsweise uns zu sehr gewünscht, dass es nicht so kommt. Als Trump wiedergewählt wurde, haben alle von einem Weckruf gesprochen. Das war kein Weckruf, sondern es war, als ginge dein Handyalarm wieder los, nachdem du zehnmal auf den Snooze-Button gedrückt hast. Für Europa ist es jetzt nicht Zeit, aufzuwachen, sondern wir müssen endlich aufstehen und was tun. Ich habe das Gefühl, das ist jetzt endlich angekommen. Was wir in den vergangenen Wochen gesehen haben – die überfällige Öffnung der Schuldenbremse in Deutschland für Verteidigung und Infrastruktur, das 800-Milliarden-Paket auf europäischer Ebene – zeigt, dass auf einmal Dinge möglich werden, von denen wir es vor wenigen Wochen noch für unmöglich gehalten hätten. Und das wird übrigens auch in den USA durchaus wahrgenommen.
Inwiefern kann Trumps erneute Wahl ein Motor für eine stärkere europäische Integration sein?
Das muss ein Motor sein. Denn wir können stark sein, aber nur, wenn wir gemeinsam handeln. Wir brauchen Handlungsfähigkeit in Europa. Nur dann können wir auch mit den Amerikanern auf Augenhöhe verhandeln. Wenn wir uns klein machen oder auseinanderdividieren lassen, verlieren wir am Ende und machen uns schwächer, als wir es sein müssten. Im Zweifel muss man Staaten wie Ungarn, wenn sie fundamental gegen die europäischen Werte und Sicherheitsinteressen verstoßen, das Wahlrecht einfrieren. Das ist vertraglich möglich. Das ist aber nur eine Übergangslösung. Langfristig müssen wir mehr Demokratie wagen in unseren eigenen Entscheidungsprozessen, das heißt mehr qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Außen- und Verteidigungsbereich zu treffen.
Und auch über Europa hinaus kann Trump ein Ansporn für einen positiven Wandel sein. Denn global gesehen gibt es viele Partner, die gerade jetzt sagen: „Wir wollen diese regelbasierte Ordnung, wir glauben an diese regelbasierte Ordnung, wir glauben auch daran, dass uns das Wohlstand bringt und dass das Menschenrechte schützt.“ Staaten wie Kanada, aber auch Australien und Neuseeland gucken ebenso wie Länder in Afrika und Südamerika jetzt stärker auf die EU. Europa muss diese Chance jetzt wahrnehmen. Das können wir aber nur, wenn wir unsere eigenen Werte leben.
Viele Beobachter*innen sprechen aktuell vom „Ende des Westens“. Stimmen Sie zu?
Erst einmal ist die Frage, was der Westen ist. Wenn wir mit dem Westen regelbasierte Ordnungen, offene Handelswege und gemeinsame Werte wie Menschenrechte verbinden, dann gibt es zurzeit Schwierigkeiten, aber eben auch viele Länder, die daran weiterhin Interesse haben, und zwar unabhängig von Geographie. Die Idee des Westens als einer regelbasierten Ordnung wird weiterbestehen. Es kann auch eine Chance sein. Denn es glauben viel mehr Leute an diese Werte, die uns verbinden, als man denken würde. Insofern glaube ich nicht, dass wir jetzt schon am Ende des Westens sind.
Tobias
Cremer
Wenn man sich Trumps Rechtspopulismus genau anguckt, nehmen sich die Amerikaner ein Beispiel an Europas Rechtspopulisten.
Trumps Vorgänger Joe Biden sagte kurz nach Amtsantritt: „America is back.“ Können die USA in vier Jahren wieder zurückkommen?
Trump macht momentan viel kaputt, aber die fast noch größere Gefahr ist, was er in den USA selbst anrichtet. Wir sehen eine „Orbanisierung“ der amerikanischen Politik. Wenn man sich Trumps Rechtspopulismus genau anguckt, nehmen sich die Amerikaner ein Beispiel an Europas Rechtspopulisten. Das ist ein wirkliches Problem für die amerikanische Demokratie. Ich bleibe aber optimistisch, weil ich selbst in den USA gelebt und gesehen habe, wie tief in der Bevölkerung dort die Werte von Freiheit und Demokratie verankert sind. Die amerikanische Verfassung, aber vor allem das amerikanische Volk, das sehr freiheitsliebend ist, werden ihre Demokratie und ihre Freiheit letztendlich verteidigen.
Mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gibt es einen weiteren wichtigen, aber mindestens ebenso schwierigen Partner vor der europäischen Haustür. Wie sollte die EU mit ihm umgehen?
Nach der Wahl von Trump sehen wir in vielen Ländern den negativen Effekt, dass sich die dort Herrschenden auf einmal offen trauen, noch autokratischer zu handeln. Auch Erdogan sieht seine Chance, weil es die Amerikaner nicht mehr kümmert. Die Inhaftierung seines härtesten Kontrahenten, dem Istanbuler Bürgermeister Imamoglu, ist zutiefst antidemokratisch, zeigt aber auch seine Verzweiflung. Denn Imamoglu liegt trotz allem in allen Umfragen weiter vor Erdogan. Gleichzeitig machen die zwei Millionen Türkinnen und Türken, die auf die Straße gehen, klar, dass sie sich die Demokratie nicht einfach wegnehmen lassen. Das ist die stärkste Hoffnung.
Inwiefern destabilisiert Erdogans Verhalten trotzdem auch die NATO?
Es ist massiv problematisch, aber es ist nicht das erste Mal, dass wir solch problematische Partner in der NATO haben. Wir hatten den Konflikt, als Schweden und Finnland aufgenommen werden sollten und die Türkei und Ungarn sich zunächst quergestellt haben. Wir haben schon seit langer Zeit auch eine Spannung zwischen Griechenland und der Türkei. Gleichzeitig muss allen klar sein, dass wir diese NATO jetzt mehr brauchen als jemals zuvor. Denn Russland bereitet sich nach allen Informationen darauf vor, bis Ende des Jahrzehnts in der Lage zu sein, NATO- und EU-Territorium zu bedrohen. Ich hoffe, dass Sie es nicht tun werden, aber es geht jetzt darum, jegliche russischen Gedankenspiele in diese Richtung abzuschrecken. Das haben die meisten NATO-Mitglieder auch verstanden. Insofern habe ich Hoffnung, dass die NATO handlungsfähig bleibt.
Demnach könnte eine immer wieder diskutierte europäische Armee also kurzfristig kein Ersatz für die NATO sein?
Wir haben eine europäische Armee. Das ist die NATO. Die NATO hat 80 Jahre lang sehr gut funktioniert. Das sind Kommandostrukturen, das sind Pläne, das sind jahrelange Übungen. Das ist viel wert. Die NATO sorgt für die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit. Dafür ist sie da. Wir müssen darüber hinaus aber massiv den europäischen Pfeiler der NATO stärken und gleichzeitig auf EU-Ebene unsere Außenpolitik besser koordinieren. Wir brauchen keine Doppelstrukturen, sondern sollten stärker schauen, wie sich EU und NATO noch besser ergänzen können. Zum Beispiel kann die EU noch viel stärker im Bereich der Verteidigungsindustriepolitik tätig werden und auch Verteidigungs- mit Außen- und Entwicklungspolitik stärker verzahnen.
Bräuchte es demnach ergänzend zur NATO ein europäisches Verteidigungsministerium?
Wir haben jetzt einen Verteidigungskommissar. Das ist Andrius Kubilius aus Litauen. Wenn man ehrlich ist, müsste er Verteidigungsindustriekommissar heißen, weil das den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet. Innerhalb der EU haben wir die Verteidigungsindustrie viel zu lange vernachlässigt. Wir haben es uns geleistet, viel zu lange immer weniger zu investieren und 27 nationale Interessen zu bedienen, statt gemeinsam zu agieren. Das Resultat ist, dass wir sehr ineffizient Geld ausgeben, dass wir in Europa 19 verschiedene Panzermodelle haben, wo die Amerikaner einen haben, dass wir dutzende Fregatten haben, wo die Amerikaner auch nur vier haben, dass wir 20 verschiedene Flieger haben, wo die Amerikaner sieben haben. Wenn man das nicht besser koordiniert, zahlen wir viel zu hohe Preise und kriegen dafür nicht die Fähigkeiten, die wir brauchen.
Wenn wir also schon so viel Geld in Verteidigung ausgeben müssen, will ich für den Euro, den ich zahle, auch wirklich Fähigkeiten kriegen. Dazu brauchen wir jetzt eine Konsolidierung der europäischen Verteidigungsindustrie. Das ist genau die Aufgabe, die unser neuer Verteilungskommissar hat, und die wir hier im Parlament auch mit dem EDIP-Programm versuchen voranzutreiben, damit die Europäerinnen und Europäer geschützt werden, aber auf die kosteneffizienteste Art und Weise und damit es eben nicht zu Lasten unseres Sozialmodells und anderer wichtigen Investitionen geht.
Ist an das 800-Milliarden-Paket, das Kommissionspräsidentin von der Leyen kürzlich vorgestellt hat, auch die Bedingung geknüpft, im Bereich der Beschaffung stärker zusammenzuarbeiten?
Das 800-Milliarden-Paket ist ein erster wichtiger Schritt. 150 Milliarden davon werden direkt von der EU-Kommission als Anleihen aufgenommen die die Mitgliedsstaaten abrufen können. Dieses Geld soll nach Möglichkeit in Projekte gesteckt werden, die von gemeinschaftlichem Interesse sind. Das sind Leuchtturmprojekte wie zum Beispiel Luftverteidigung. Da haben wir alle etwas von. Gleiches gilt für Drohnenentwicklung und Investitionen in Entwicklung und Forschung. Die übrigen 650 Milliarden bedeuten im Grunde nur, dass weitere nationale Schulden für die Verteidigung von den Maastricht-Kriterien ausgenommen werden, um den Mitgliedsstaaten weiteren Spielraum zu verschaffen.
Sie sind im vergangenen Jahr neu ins Europaparlament eingezogen und direkt zum außenpolitischen Sprecher der SPD-Gruppe geworden. Wie war es, in diesen turbulenten Zeiten so ins kalte Wasser geworfen zu werden?
Es ist tatsächlich wahnsinnig, aber auch wahnsinnig spannend. Es ist ein absolutes Privileg und eine Ehre, dass ich in dieser Situation Verantwortung für Europa, Deutschland und meine Heimat im Ruhrgebiet übernehmen darf. Ich war vorher Diplomat. Insofern war ich zumindest ein bisschen auf außenpolitische Krisen vorbereitet, aber diese massive Krisenstimmung zwischen Trumps Handelskriegen, Rückzug aus der globalen Leadership-Position und russischer Aggression hätte ich in dieser Dimension auch nicht erwartet. Ich habe oft das Gefühl, Geschichte hier nicht nur live mitzuerleben, sondern auch mitgestalten zu dürfen. Diese Verantwortung ist gewaltig und bringt mich häufig zum Nachdenken. Die Arbeit macht aber auch Spaß, vor allem weil sie zwischen Brüssel, Straßburg und dem Wahlkreis so abwechslungsreich ist – auch wenn mir dabei hin und wieder die Wochenenden fehlen.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo