Neues NATO-Ziel: „Militärische Stärke und Diplomatie sind kein Widerspruch“
Fünf Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes sollen die NATO-Mitgliedsstaaten künftig für Verteidigung ausgegeben. Der SPD-Europaabgeordnete Tobias Cremer erklärt, warum er das richtig findet und wie er auf die Debatte um das „Manifest“ aus der SPD zu Russland blickt.
IMAGO/Xinhua
Bewaffnetes Sicherheitspersonal bewacht den NATO-Gipfel im niederländischen Den Haag.
Auf dem NATO-Gipfeltreffen an diesem Mittwoch soll beschlossen werden, dass die Mitgliedstaaten künftig mindestens fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben bereitstellen. Wie beurteilen Sie das?
Es ist gut und richtig, dass sich die NATO mit der Bedrohungslage auseinandersetzt. Und die ist leider sehr ernst, weil wir auf der einen Seite Russland haben, das massiv aufrüstet und sich nicht nur gegen die Ukraine wendet, sondern mit dem klaren Ziel agiert, die NATO zu testen, die EU auseinander zu sprengen und unsere Demokratien von innen heraus zu unterminieren. Und auf der anderen Seite wissen wir das erste Mal seit 80 Jahren nicht sicher, ob die Amerikaner für uns im Zweifel die Kohlen aus dem Feuer holen.
Insofern müssen wir uns auch als Europäer innerhalb der NATO darauf vorbereiten, wie wir es schaffen, weiterhin verteidigungsfähig und abschreckungsfähig zu bleiben. Wir wollen den Frieden erhalten und müssen genau deshalb weitere mögliche russische Aggression abschrecken können. Aus einer solchen Position der Stärke heraus sind dann auch diplomatische Initiativen und Verhandlungen erfolgsversprechender, als es beispielsweise die jüngst gescheiterte „Appeasement“-Strategie von Donald Trump war.
Wichtig ist es dabei aber, die Ausgaben an den notwendigen Fähigkeiten abzuleiten und nicht umgekehrt. Das sollten wir auch weiterhin so machen und beispielsweise 2029 überprüfen, ob die Ausgaben noch zu Zielen und Bedrohungslage passen. Denn es geht nicht darum, religiös an irgendwelchen Zahlen festzuhalten, sondern zu schauen, was notwendig ist, um unsere Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit in Europa wiederherzustellen. Ziel bleibt, die Fähigkeiten zu bekommen, die wir brauchen, um weitere Konflikte auf dem europäischen Kontinent zu verhindern.
Tobias
Cremer
Es bleibt meine Hoffnung, die Amerikaner langfristig an Board zu behalten, aber Hoffnung ist keine Strategie.
Donald Trump hat das Fünf-Prozent-Ziel bereits vor einem halben Jahr vorgeschlagen. Damals fanden die Europäer*innen das illusorisch. Sind sie nun vor Trump eingeknickt?
Nein. Im Gegenteil geht es auch darum, von den Stimmungsschwankungen eines Donald Trump oder etwaiger Nachfolger unabhängiger zu werden. Es ist seit Jahren klar, dass die Amerikaner sich mehr Richtung Asien orientieren und wir mehr für die eigene Verteidigung machen müssen. Deswegen müssen wir handlungs- und verteidigungsfähig sein, unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt. Wir müssen bereit sein, manche Fähigkeiten, wie zum Beispiel die sogenannten „Strategic enablers“ – also Lufttransport, Aufklärung etc. – die momentan nur die Amerikaner haben, auch selbst stemmen zu können. Das kostet Geld. Es bleibt meine Hoffnung, die Amerikaner langfristig an Bord zu behalten, aber Hoffnung ist keine Strategie.
Wie weit reicht die Einigung innerhalb Europas, wenn der spanische Regierungschef Pedro Sánchez bereits verkündet, dass sein Land bei der Erhöhung der Verteidigungsausgaben nicht mitmachen wird?
Solidarität bedeutet, dass jeder in Europa gemeinsam an einem Strang ziehen und seinen Anteil beisteuern muss. Deshalb hat der spanische Premierminister dem neuen Ziel zugestimmt. Gleichzeitig waren einige aufgeworfene Fragen legitim, wie etwa, dass wir uns nicht nur darauf fokussieren sollten, mehr Geld ausgeben zu müssen, sondern auch wie wir es ausgeben. Wir brauchen keine sogenannten nationalen Goldrandlösungen mehr, sondern einen gemeinsamen Weg in der Rüstungsbeschaffung. Dadurch können wir laut Draghi-Report die Preise für viele Systeme bis zu 30 Prozent senken und deutlich effizienter bei unseren Ausgaben werden.
Schlägt jetzt die Stunde von EU-Verteidigungskommissar Kubilius?
Die Stunde schlägt meines Erachtens schon seit sehr vielen Stunden. Seit der vergangenen Europawahl ist da eine andere Geschwindigkeit reingekommen. Das zeigt, dass die EU handlungsfähig ist, wenn der Druck steigt. Andrius Kubilius versucht als Verteidigungskommissar viel, aber es ist auch unsere Aufgabe als Parlamentarier, den Druck aufrecht zu halten und zu schauen, wie wir die Militärausgaben effizienter gestalten können, auch um beispielsweise Ausgaben für den sozialen Bereich nicht zu vernachlässigen. Denn klar bleibt: Soziale Sicherheit und äußere Sicherheit dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden – damit würde man in Zeiten hybrider Kriegsführung nur die Hausaufgaben für Putin und die AfD machen. Deshalb müssen Investitionen in die Verteidigung einhergehen mit einer Investitionsstrategie in unsere Infrastruktur, in unsere Wettbewerbsfähigkeit, aber auch in die Stärke unserer Gesellschaften, also in den sozialen Zusammenhalt.
Was bedeutet das 5-Prozent-Ziel für die europäischen Schuldenregeln, die sogenannten Maastricht-Kriterien?
Ich würde mich hier an dem orientieren müssen, was wir jetzt in Deutschland getan haben. Die Maastricht-Kriterien sind in diesem Kontext vergleichbar mit der deutschen Schuldenbremse, was das Maximum an staatlichen Ausgaben angeht. In den vergangenen 20 Jahren haben wir den neoliberalen Grundsatz eines möglichst kleinen Staates verfolgt. Jetzt müssen wir der Realität ins Auge schauen und brauchen einen handlungsfähigen Staat, nach innen wie nach außen. Das kostet Geld. Deswegen müssen wir an der Stelle die Maastricht-Regeln lockern.
Der im März dieses Jahres von Kommissionspräsidentin von der Leyen vorgestellte, 800 Milliarden Euro schwere Plan „ReArm Europe“ sieht bereits Ausnahmen für Verteidigungsausgaben vor. Lässt sich dessen Volumen einfach erweitern?
Das war in der Tat ein Anfang, aber ich würde die Diskussion nicht darauf beschränken. Es geht darum, wie wir Europas gemeinsame Sicherheit gesamteuropäisch finanzieren. Das heißt einerseits, allen Mitgliedsländern die Finanzierung zu ermöglichen. Deutschland kann am Kapitalmarkt günstig neue Kredite aufnehmen, andere Länder nicht. Hier kann die EU durch Mittel wie „ReArm Europe“ helfen, bessere Konditionen zu bekommen. Andererseits müssen wir aber auch mehr privates Kapital mobilisieren. Hier spielt zum Beispiel die Europäische Investment Bank eine wichtige Rolle. Wenn wir es mit der Finanzierung klug anstellen, können wir wirtschaftliche Kannibalisierungseffekte zu Lasten von Infrastruktur oder dem sozialen Zusammenhalt verhindern.
Laut einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft ist es beispielsweise wirtschaftlich am effizientesten, gemeinsam europäische Verteidigungskredite aufzunehmen. Mehrausgaben von 1,5 Prozent für die Verteidigung könnten in diesem Fall die Wirtschaft so ankurbeln, dass sie um ca. 1,4 Prozent wächst. Wenn wir diese Verteidigungsausgaben jedoch zulasten anderer Investitionen tätigten, würde sie beispielsweise nur um 0,8 Prozent wachsen.
Tobias
Cremer
Wir sind und bleiben Friedenspartei, wohlwissend dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Kampfhandlungen. Denn Frieden ohne Freiheit ist ein Friedhofsfrieden.
In der SPD wird das 5-Prozent-Ziel von einigen kritisch gesehen. Wie beurteilen Sie die Debatte um das sogenannte Manifest zum Umgang mit Russland?
Debatten sind in unserer Partei immer willkommen. Wir sind eine Debattenpartei. Wir sind nicht nur ein Kanzler- oder Vizekanzlerwahlverein. Ich komme aus einem friedensbewegten Pfarrhaus. Ich verstehe durch und durch den Wunsch danach, in einer Zeit zu leben, in der wir wieder mehr über Abrüstung als über Abschreckung sprechen können. Ich würde manchmal auch gerne in einer anderen Realität leben. Das tun wir aber leider nicht.
Kurt Schumacher hat mal gesagt, dass Politik mit der Betrachtung der Wirklichkeit beginnt. Diese Realität heißt momentan leider, dass Putin aktiv aufrüstet und sich darauf vorbereitet, nicht nur die Ukraine, sondern auch NATO-Territorium anzugreifen. Während die Sowjetunion in den 80er-Jahren eine Status-Quo-Macht war, will Putin heute den Status Quo zerstören. Damit muss man anders umgehen.
Was heißt das konkret?
Ich war selbst vor meiner Wahl Diplomat und habe diesen Beruf ergriffen, weil ich an diplomatische Lösungen glaube. Angesichts der aktuellen Bedrohungslage sind militärische Stärke und Diplomatie aber eben kein Widerspruch. Im Gegenteil sie sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Denn Putin gegenüber ist effektive leider Diplomatie erst aus einer Position der Stärke heraus möglich. Klar ist: Wir sind und bleiben Friedenspartei, wohlwissend dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Kampfhandlungen. Denn Frieden ohne Freiheit ist ein Friedhofsfrieden. Wir wollen aber einen wirklichen Frieden in Freiheit, Sicherheit und Selbstbestimmung. Als eine verantwortungsvolle Friedenspartei wissen wir, dass Diplomatie und Stärke Hand in Hand gehen.
Hier sollten wir meines Erachtens gerade als deutsche Sozialdemokraten in Europa eine klare Position beziehen. Auch weil wir nach Jahrzehnten des deutschen Sonderwegs in der Russlandpolitik dank der SPD-geführten Zeitenwende zum ersten Mal wieder als vertrauensvoller Partner in Europa gesehen werden, auch aufgrund der Bundeswehr-Brigade in Litauen. Dieses Vertrauen sollten wir nicht leichtfertig wieder aufs Spiel setzen.
Mit welchem Ausgang der Debatte rechnen Sie beim Bundesparteitag am Wochenende?
Von meinen Gesprächen an der Basis bekomme ich den Eindruck, dass die überwältigende Mehrheit fest hinter dem Parteitagsbeschluss von 2023 steht. Das zeigt auch die Abstimmung zum Koalitionsvertrag, der mit 85 Prozent bestätigt wurde. Ich erhoffe mir vom Bundesparteitag daher ein klares Signal, dass sich unsere europäischen Partner auf die SPD verlassen können und wir als verantwortliche Friedenspartei bereit sind, die Zeitenwende weiter in die Tat umzusetzen. Dabei braucht es gerade uns als Sozialdemokraten. Denn nur wir setzen sie sozial gerecht um. Nur wir denken äußere, innere und soziale Sicherheit zusammen.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo