Vor dem NATO-Gipfel: „Abschreckung Putins ist das Gebot der Stunde“
Kurz vor dem NATO-Gipfel in Den Haag zeigt die SPD sich offen für höhere Verteidigungsausgaben. Ihr Parlamentarischer Staatssekretär Sebastian Hartmann setzt auf eine „Position der Stärke“ des Westens gegenüber dem russischen Machthaber Wladimir Putin. Und er spricht eine deutliche Warnung aus.
IMAGO/Anadolu Agency
Die NATO setzt auf Einigkeit: Verteidigungsminister Boris Pistorius (r.) mit seinem britischen Amtskollegen John Healey (l.) und dem ukrainischen Rustem Umerov (m.) am 4. Juni 2025 in Brüssel
Herr Hartmann, die NATO bewegt sich auf das Ziel zu, künftig einen Anteil von fünf Prozent des nationalen Bruttoinlandsproduktes in die Verteidigung zu investieren. Ist das Konsens innerhalb der Bundesregierung?
Auf dem kommenden NATO-Gipfel in Den Haag werden die Mitgliedstaaten auch über die Höhe der Verteidigungsausgaben diskutieren. Diese werden sich auch an den neuen Fähigkeitszielen orientieren. Da die Anforderungen steigen, sollten wir uns nicht überrascht zeigen, wenn auch die Forderungen an die Verteidigungsausgaben steigen. Das eine geht mit dem anderen einher.
Dennoch sind Prozentzahlen nicht alles. Im Vordergrund müssen die Fähigkeiten stehen, die am Ende zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit unserer Bundeswehr und der NATO in Gänze beitragen. Das ist allen in der Bundesregierung bewusst. Im Bundesministerium der Verteidigung arbeiten wir unermüdlich daran, unseren Beitrag zur Verteidigung des Bündnisses zu leisten. Auf welcher Marke sich am Ende die NATO-Mitgliedstaaten verständigen werden, bleibt bis Den Haag abzuwarten.
„Verteidigung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe“
Die spannende Frage wird sein: Was wird in diese fünf Prozent alles miteinberechnet. Was ist Ihr Vorschlag? Und bis wann soll Deutschland dieses Ziel erreichen?
Unabhängig von der Festlegung auf eine konkrete Prozentzahl umfassen Verteidigungsausgaben stets mehr als nur reine Investitionen in die Streitkräfte oder in Rüstungsvorhaben. Verteidigung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, dazu gehören beispielsweise auch die Schaffung und der Ausbau von verteidigungswichtiger Infrastruktur, die Vorhaltung von Waren und Gütern sowie zivil-militärische Dienstleistungen wie Logistik oder Gesundheitsvorsorge.
Aber auch die Unterstützung von Partnerländern kann einen Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit leisten. Darüber wird in Den Haag zu diskutieren sein. Und auch über die Zeitlinien zur Umsetzung wird beraten werden müssen.
Mehr Investitionen in die Verteidigung bedeuten auch mehr Investitionen in Rüstung. US-Präsident Trump hofft auf große Aufträge für amerikanische Firmen. Wollen Sie in den USA oder wenn möglich in Deutschland und Europa investieren?
Die Bundeswehr muss schnell und zielgerichtet aufwachsen, auch materiell. An unseren Beschaffungsprozessen haben wir bereits gearbeitet und positive Veränderungen erzielt. Das reicht uns aber nicht aus. Wir werden daher noch in diesem Jahr ein Gesetz einbringen, das zur weiteren Beschleunigung der Beschaffung beiträgt. In der Vergangenheit haben wir bei den meisten Projekten auf eine sogenannte „Goldrandlösung“ gesetzt.
„Diesen Luxus können wir uns angesichts der Bedrohung nicht mehr leisten“
Das bedeutet?
Vereinfacht ausgedrückt: Es wurden viele Sonderwünsche erfüllt. Die Folge war, dass die Systeme lang in der Entwicklung und in der Produktion brauchen und teuer wurden. Diesen Luxus können wir uns unter Berücksichtigung der Bedrohung nicht mehr leisten. Das heißt nicht, dass wir an Sicherheit und Qualität einsparen. Das heißt aber, dass wir verstärkt auf marktverfügbare und einsatzbewährte Systeme zurückgreifen werden.
Verstärkt aus Deutschland und Europa?
Selbstverständlich werden wir dabei auch deutsche und europäische Industrie und Anbieter berücksichtigen, aber auch gutes und bewährtes Material unserer Partner und Verbündeten werden wir ebenso bestellen. Als Beispiele mag ich hier den Kauf von weiteren Kampfpanzern Leopard aus Deutschland, das Raketenabwehrsystem Arrow aus Israel und den neuen Transporthubschrauber Chinook aus den USA nennen. In Europa schließen wir uns mit unseren Partnern stärker zur gemeinsamen Beschaffung zusammen und haben dazu verschiedene Initiativen gegründet.
Sebastian
Hartmann
Der Krieg in der Ukraine zeigt uns sehr deutlich, welche Bedeutung Drohnen in der heutigen Kriegsführung einnehmen.
Deutschland will besonders seine Luftverteidigung und Drohnenabwehr verbessern. Bisher verfügt die Bundeswehr über keine bewaffnete Kampfdrohnen. Wie entscheidend die sind, zeigt ja gerade der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Hat Deutschland diese waffentechnische Entwicklung verschlafen?
Der Krieg in der Ukraine zeigt uns sehr deutlich, welche Bedeutung Drohnen in der heutigen Kriegsführung einnehmen. Den Einsatz von Drohnen beobachten wir sehr genau und ziehen auch für uns die erforderlichen Konsequenzen für deren Einsatz sowie Abwehr. Ich möchte betonen, dass die Bundeswehr grundsätzlich keine Entwicklung verschlafen hat, wir gleichwohl Defizite haben, die wir derzeit aufholen.
Das heißt konkret?
Aktuell beschafft die Bundeswehr bewaffnungsfähige Drohnen wie die Heron TP. Zudem entwickeln wir gemeinsam mit europäischen Partnern die Eurodrohne. Aufgrund diverser Beschlüsse des Bundestages war es der Bundeswehr jedoch nicht erlaubt, Drohnen zu bewaffnen oder gar Ausbildung für den Einsatz von Waffen an Drohnen durchzuführen. Dazu mussten erst bestimmte Bedingungen erfüllt werden.
Zum Ende der vergangenen Legislaturperiode wurden diese Auflagen erfüllt und wir sind nun mit voller Kraft dabei, den Einsatz und die Abwehr von Drohnen im Rahmen der Bündnis- und Landesverteidigung zu integrieren. Dazu wurde im Ministerium eine temporäre Task Force Drohnen etabliert, die Empfehlungen für die Beschaffung diverser Systeme von Klein- und Kleinstdrohnen und deren Abwehr ausspricht. Mittlerweile befinden wir uns in der Umsetzung der Empfehlungen.
Deutschland hat die Flugabwehrrakete Patriot oder das Luftverteidigungssystem Iris-T an die Ukraine geliefert. Inwiefern vergrößert das unsere Fähigkeitslücke? Und bis wann soll sie geschlossen sein?
Die Unterstützung der Ukraine ist für uns bestimmend. Von Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges an haben wir die Ukraine mit militärischen, finanziellen, humanitären und diplomatischen Mitteln unterstützt. Die Ukraine verteidigt auf ihrem Territorium auch die Sicherheit und Freiheit Europas. Wir sind der größte Unterstützer der Ukraine in Europa und nach den USA der zweitgrößte weltweit.
Nach dem Rückschritt der USA als Führungsnation der Ukraine Kontaktgruppe leiten wir mittlerweile gemeinsam mit unserem britischen Partner diese Gruppe. Im Rahmen der militärischen Unterstützung der Ukraine bieten wir auf vielen Ebenen Unterstützung an, sei es mit Material, Munition oder Ausbildung ukrainischer Soldatinnen und Soldaten in Deutschland. Einen Schwerpunkt der militärischen Unterstützung setzen wir im Bereich der Luftverteidigung.
„Die Nachbeschaffung der an die Ukraine gelieferten Flugabwehrsysteme ist bereits eingeleitet“
Was bedeutet das für die deutschen Flugabwehrsysteme?
Deutsche Patriot-Systeme leisten zum Schutz Kiews und anderer Städte einen wesentlichen Beitrag. Ebenso tragen die neu entwickelten und noch nicht in die Bundeswehr eingeführten Systeme Iris-T zur Abwehr russischer Raketen und Marschflugkörper bei und retten so Menschenleben.
Es stimmt, diese Systeme stehen uns in Deutschland nicht zur Verfügung, aber in der Abwägung haben wir uns für die Lieferung der Systeme in die Ukraine entschieden. Diese Abwägung ist politisch klug und militärisch tragbar. Die Luftverteidigung Deutschlands ist in die Luftverteidigungsstruktur der NATO eingebunden. Diese bleibt also erhalten. Wir haben auch nicht unsere gesamten Systeme abgegeben. Zudem ist die Nachbeschaffung der an die Ukraine gelieferten Systeme bereits eingeleitet.
Sebastian
Hartmann
Wir müssen uns und die NATO in die Lage versetzen, Putin von einem möglichen Angriff auf das NATO-Gebiet im Vorfeld abzuschrecken.
Manche Militärexperten warnen, Moskau werde mit einem möglichen Angriff auf NATO-Gebiet nicht so lange warten, bis wir in fünf bis acht Jahren verteidigungsfähig sind, deshalb seien die nächsten Jahre für den Westen die gefährlichsten. Teilen Sie diese Einschätzung?
Putin beweist jeden Tag, dass er sich nicht an internationales Recht gebunden fühlt. Er stellt nicht nur die wertegebundene internationale Ordnung mit militärischen Mitteln infrage, er will sie beseitigen. Er will eine neue Weltordnung schaffen, nach seinen Bedingungen. Das muss uns ganz klar sein.
Schon heute sind wir und unsere Verbündeten hybriden Bedrohungen und Angriffen aus Russland ausgesetzt. Expertinnen und Analysten gehen davon aus, dass Russland ab dem Jahr 2029 in der Lage sein wird, einen großflächigen konventionellen Angriff auf NATO-Gebiet durchführen zu können. Das heißt nicht, dass es unumstößlich so kommen muss, aber Putin wäre dazu in der Lage.
„Wir müssen unsere Verteidigungsbereitschaft schnellstmöglich wiederherstellen“
Kleinere russische Attacken werden aber schon früher erwartet.
Nadelstiche, um den Zusammenhalt und die Entschlossenheit der NATO zu testen, könnten auch früher erfolgen. Daher ist es ja so wichtig, dass wir unsere Verteidigungsbereitschaft schnellstmöglich wiederherstellen. Dazu gehört neben der materiellen Ausstattung der Bundeswehr auch der erforderliche personelle Aufwuchs.
Wir müssen uns und die NATO in die Lage versetzen, Putin von einem möglichen Angriff auf das NATO-Gebiet im Vorfeld abzuschrecken. Abschreckung ist das Gebot der Stunde, und das geht nur aus einer Position der Stärke heraus.
– Das Interview wurde schriftlich geführt. –