Inland

Sterben im Mittelmeer nimmt wieder zu: Was zivile Seenotretter fordern

Seit zehn Jahren retten zivile Seenotretter im Mittelmeer Menschen auf der Flucht. Heute steigen die Todeszahlen wieder – und die schwarz-rote Koalition schweigt. Hilfsorganisationen warnen.

von Finn Lyko · 20. Juni 2025
Zwei Boote auf dem offenen Meer.

Jedes Jahr ertrinken Menschen auf der Flucht im Mittelmeer - die zivile Seenotrettung rettet seit 10 Jahren so viele von ihnen, wie möglich.

Es ist das Jahr 2017. Der Höhepunkt der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 und 2016 mit jeweils 1,3 Millionen Geflüchteten und tausenden Toten ist überwunden. Doch von den rund 700.000 Geflüchteten, die damals weiterhin nach Europa flüchten, ertrinken immer noch fast 3.000 Menschen im Mittelmeer. 

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Annika Klose war 2017 Berliner Juso-Vorsitzende und erinnert sich noch gut. Sie habe sich angesichts der Zahl der Todesopfer hilflos gefühlt, erzählt sie nun, acht Jahre später, im Gespräch mit dem „vorwärts“. Quasi täglich habe sie Meldungen über neue Todesfälle im Mittelmeer gelesen. „Ich wollte da mit anpacken und nicht nur darauf hoffen, dass politisch irgendwas passiert – eben konkret etwas verändern“, erinnert sie sich. Und so fasst Klose einen Entschluss: Sie meldet sich ehrenamtlich für einen Einsatz für die zivile Seenotrettungsorganisation „Sea-Eye“.

UNO-Flüchtlingshilfe: Zuletzt wieder mehr Menschen im Mittelmeer ertrunken

Viele Organisationen wie die „Sea-Eye“ wurden 2015 in ganz Europa gegründet, um die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge zu stärken. Heute, zehn Jahre später, sind europaweit noch immer 21 solcher Organisationen aktiv – zehn davon aus Deutschland. Und das nicht ohne Grund: Die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten steigen nach Angaben der UNO-Flüchtlingshilfe wieder an. Im Zeitraum von 2018 bis 2022 waren es jährlich etwa 1.000 Menschen, 2023 starben bereits mehr als doppelt so viele, und 2024 lag die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer bei 3.530.

Doch gleichzeitig findet das Thema in der deutschen Bundespolitik immer weniger Beachtung, kritisieren Nichtregierungsorganisationen wie „Sea-Eye“. Die Ampel-Koalition hatte sich 2021 vorgenommen, die Seenotrettung zu stärken und europäisch auszurichten. Eine europäisches Rettungsprogramm gibt es bis heute nicht, aber die NGOs erhalteb Mittel aus dem Bundeshaushalt. Schwarz-Rot dagegen verliert im Koalitionsvertrag nicht mal ein Wort über das Sterben im Mittelmeer – und auch nicht über zivile Seenotrettung. 

SPD-Bundestagsabgeordnete: Mehr Unterstützung für zivile Seenotrettung 

Annika Klose findet, es braucht eine stärkere Reaktion der Bundesregierung auf die wieder ansteigenden Todeszahlen. „Die Situation, warum diese Schiffe da unterwegs sein müssen, ist im Kern grundpolitisch“, erklärt sie. Das bedeute auch, dass sie politisch geändert werden könne – etwa durch den Einsatz der Bundesregierung für sichere Fluchtwege oder für einen geordneten Familiennachzug. Gleichzeitig müsse die zivile Seenotrettung auch auf europäischer Ebene unterstützt und professionalisiert werden, so Klose. 

Ähnliche Vorschläge hat auch der Verein „Sea-Watch“ gemeinsam mit 14 weiteren NGOs Ende vergangenen Jahres gemacht. Unter dem Schlagwort „Mare Solidale“, „solidarisches Meer“, fordern die NGOs ein europäisches Rettungsprogramm für das zentrale Mittelmeer orientiert an den Strukturen staatlicher Rettungsdienste. Außerdem appellieren sie an ein Umdenken in der Aufnahme von Geflüchteten. Weg von der Dublin-Verordnung, die Geflüchteten vorgibt, den Asylantrag in dem EU-Land zu stellen, in das sie als erstes einreisen – und hin zu mehr Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit, wie sie zuletzt Geflüchtete aus der Ukraine bekamen.

NGOs fordern Fokus auf humanitäre Hilfe statt Abschottung

Nach Argumentation der NGOs kann eine solche Ausrichtung mit Fokus auf humanitäre Hilfe Menschenleben retten. Doch in Zeiten, in denen Deutschland umfassende Grenzkontrollen einführt und die Europäische Union immer mehr finanzielle Mittel für die Grenzagentur Frontex zur Verfügung stellt, sei fraglich, ob das überhaupt politisch gewollt sei, so die Kritik diverser Organisationen. „Sea-Watch“ argumentiert: Ein humanitäres europäisches Seenotrettungsprogramm, wie im „Mare Solidale“-Konzept vorgeschlagen, könnte schon mit 0,13 Prozent des EU-Jahresbudgets bzw. 28 Prozent des Frontex-Budgets von 2023 umgesetzt werden.

Wie es also nach zehn Jahren ziviler Seenotrettung weitergeht, bleibt vorerst offen. Die Ampel-Regierung hat eine finanzielle Unterstützung bis 2026 beschlossen, doch der schwarz-rote Koalitionsvertrag liefert keine Antwort auf die Frage, wie es danach weitergeht. Dass die zivile Seenotrettung nicht thematisiert wird, bedeutet für die SPD-Bundestagsabgeordnete Annika Klose in erster Linie ein Festhalten am „Status Quo“. Für sie ist klar: „Es kann doch eigentlich nicht sein, dass das Mittelmeer eine der tödlichsten Grenzen der Welt ist, und wir da einfach zuschauen.“

Autor*in
FL
Finn Lyko

ist Volontärin in der vorwärts-Redaktion.

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