Kultur

Film „Einhundertvier“: Dramatische Szenen einer Seenotrettung in Echtzeit

Auf dem Mittelmeer beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit: Der Film „Einhundertvier“ dokumentiert eine Seenotrettung in Echtzeit.

von Nils Michaelis · 28. Mai 2024
Der Dokumentarfilm "Einhundertvier" zeigt eine Seenotrettung

Menschen auf der „Eleonore": Sie wurden gerettet, doch ihre Odyssee geht weiter.

Das Schnellboot der Seenotretter*innen saust übers Meer. Irgendwann zeichnet sich am Horizont ein schmaler Streifen ab. Es ist ein Boot mit Geflüchteten. Nun muss alles schnell gehen, denn das bis zum Bersten gefüllte Schlauchboot hat bereits gefährlich viel Luft verloren. Die Rettungsaktion vor der lybischen Küste wird zum Wettlauf gegen die Zeit, schließlich lassen sich die 104 Männer unmöglich auf einen Schlag zum nahen Kutter „Eleonore“ bringen.

Beim Begriff „Seenotrettung“ springt das Kopfkino an, doch eine reale Situation in all ihren Facetten können sich wohl nur die Wenigsten vorstellen. Der Dokumentarfilm „Einhundertvier“ schließt diese Lücke. 

Vor fünf Jahren ging Jonathan Schörnig an Bord der „Eleonore“. Der ehemalige Fischkutter war seinerzeit für einen Seenotrettungseinsatz des Vereins Mission Lifeline International im Mittelmeer unterwegs. Der Leipziger Filmemacher wollte in einzelnen Szenen fürs Fernsehen die Arbeit der Dresdner Initiative dokumentieren. Am Ende wurde daraus ein ganzer Film.

Mehrere Perspektiven

Und zwar ein ganz besonderer. Jonathan Schörnig hat die besagte Rettungsfahrt der „Eleonore“ (es soll ihre einzige gewesen sein) in Echtzeit und aus verschiedenen Perspektiven festgehalten. Sechs zum Teil fest installierte Kameras haben das Geschehen auf dem Schnellboot, dem langsam sinkenden Gummiboot und der „Eleonore“ eingefangen.

Im Split Screen sind ihre Bilder parallel zu sehen. Es dauert eine Weile, bis sich das Auge an die vielen Kacheln gewöhnt hat. Doch gerade dadurch wird die Komplexität und Dynamik der Situation deutlich.

„Hinsetzen, hinsetzen“, ruft eine Seenotretterin den verzweifelten Männern im Gummiboot immer wieder auf Englisch zu. Nicht auszudenken, wenn es kentern würde. Nicht nur n diesem Moment wird deutlich, welche Gefahren und emotionalen Ausnahmezustände nicht nur die Geflüchteten, sondern auch ihre Helfer*innen immer wieder erleben. Und es wird deutlich, wie sehr diese Einsätze auf peniblen, fast schon militärisch disziplinierten Abläufen basieren.

Und doch stößt auch die beste Vorbereitung an ihre Grenzen: Als sich plötzlich ein Schiff der libyschen Küstenwache bedrohlich nähert, droht die Situation aus dem Ruder zu laufen. Diese Bilder wühlen auf, sie machen aber auch wütend, wenn man sich politische Deals vergegenwärtigt, die all das Elend und die Willkür, die Geflüchtete erleiden, überhaupt erst ermöglichen.

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Durch seine Unmittelbarkeit ermöglicht „Einhundertvier“ Einblicke, die zutiefst erschüttern. Nicht nur bezogen auf traumatisierte Menschen, die auf hoher See aus größter Not gerettet werden. Sondern auch, weil klar wird, welche Grenzerfahrungen Menschen durchleben, die sich nicht mit der Abschottungspolitik der EU abfinden und im Mittelmeer humanitäre Hilfe leisten. 

Und die dafür obendrein von Regierungen und Behörden kriminalisiert werden. Davon zeugt die Odyssee der „Eleonore“ nach dem Rettungseinsatz: Tagelang sucht die Besatzung vergeblich nach einem sicheren Hafen, wo die Geretteten an Land gehen können.

Anders als Markus Weinbergs Dokumentarfilm „Die Mission der Lifeline“ widmet sich „Einhundertvier“ nicht der politischen Diskussion über das Thema Seenotrettung. Mit seinen bisweilen dramatischen Bildern „aus der Praxis“ macht Jonathan Schörnig seine Haltung aber dennoch unmissverständlich deutlich. Für dieses engagierte Werk wurde er unter anderem beim Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm ausgezeichnet.

Apokalyptische Bedingungen

Greifbar wird auch, wie schwierig es für ihn war, unter den „apokalyptischen Bedingungen" (so seine eigene Formulierung in der Rückschau) eines überfüllten Schiffes die Distanz zu wahren, wenngleich die statischen Kameraperspektiven zumindest den Anschein eines rein beobachtenden Standpunktes erwecken. 

„Einhundertvier“ lässt sich fast schon als aktivistisches Projekt betrachten, was der Klarheit und Stringenz dieser „Live-Erzählung“ aber keinen Abbruch tut. Jonathan Schörnig zeigt Szenen, die man gesehen haben muss. Viele würden sie wohl lieber verdrängen.

„Einhundertvier“ (Deutschland 2023), Regie: Jonathan Schörnig, Kamera: Jonathan Schörnig, Johannes Filous, 93 Minuten, ab zwölf Jahre.

https://ucm.one/de/einhundertvier/

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