Der Parteijournalist: Wie Friedrich Stampfer den „Vorwärts“ prägte
Unter ihm wird der „Vorwärts“ zur bestinformierten Zeitung Deutschlands. Bis zum Verbot durch die Nazis 1933 führte Friedrich Stampfer als Chefredakteur die Redaktion. Dabei hielt er selbst zunächst einen anderen für geeigneter für den Posten.
Im Herbst 1916 befindet sich die SPD in einer misslichen Lage. Sie stellt zwar die größte Reichstagsfraktion, aber die ist wegen der Kriegskredite gespalten. Radikale Kriegsgegner*innen um den ehemaligen Parteivorsitzenden Hugo Haase haben eine „sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ gegründet. Diese — und das verschärft die Krise der Partei zusätzlich — wird mehrheitlich von der Redaktion des „Vorwärts“ unterstützt. Das führt immer wieder zu Verboten der Zeitung durch die Militärbehörde.
Im Oktober 1916 entlässt der Parteivorstand mehrere „Vorwärts“-Redakteure; unter ihnen ist der Chefredakteur Heinrich Ströbel. Damit das Blatt wieder erscheinen kann, entsendet der Vorstand Hermann Müller als Aufpasser in die Redaktion. Einen neuen Chefredakteur hat der „Vorwärts“ damit nicht.
Stampfer wird zum Glücksgriff für die SPD-Führung
In dieser Situation fügt es sich gut, dass ein gestandener, in der Partei bestens vernetzter Journalist von der Front zurückgekehrt ist: Es ist der im böhmischen Brünn geborenen Friedrich Stampfer, der in Berlin ein parteioffiziöses Nachrichtenbüro betreibt. Friedrich Ebert trägt ihm am Rande einer Reichstagssitzung die Leitung des „Vorwärts“ an. Aber Stampfer ist Journalist und kein Organisator und schlägt im Gegenzug Philipp Scheidemann vor, was Eberts Missfallen erregt.
Am 9. November 1916 ist Stampfer schließlich bereit, die heikle Aufgabe zu übernehmen und wird vom Parteivorstand mit der Redaktionsleitung betraut. Das erweist sich für alle Beteiligten als Glücksgriff, denn Friedrich Stampfer steht zwar kritisch-loyal zur Parteimehrheit, verfügt aber gleichzeitig über gute Kontakte zur parteiinternen Opposition. Mit unaufdringlicher, stets freundlicher Kompetenz gelingt es ihm, den „Vorwärts“ zu einer Zeitung zu formen, die mehr ist als das Mitteilungsorgan der Partei. Das erfreut vor allem den Parteikassierer Otto Braun, denn die Auflage steigt wieder.
Bekannt für seine freiheitliche Gesinnung
Friedrich Stampfers journalistische Laufbahn beginnt bereits im Elternhaus in Brünn. Der Vater, ein Advokat, war 1848 — wie auch zwei Brüder der Mutter — während der bürgerlichen Revolution in der „Akademischen Legion“ aktiv. „Die Familientradition ließ mir den Kampf für die Freiheit, wenn nötig mit der Waffe in der Hand, als höchsten Sinn des Lebens erscheinen“, schreibt Stampfer in seinen Erinnerungen. In der Schule schreibt er zwar die besten Aufsätze, aber die meisten anderen Fächer interessieren ihn nicht. Für seine Lehrer ist der junge Friedrich ein „verkommenes Genie“.
Noch als Schüler schreibt er seinen ersten Artikel für den sozialdemokratischen „Volksfreund“ in Brünn, den er mit dem Kürzel „F.S.“ versieht. Stampfer wird ständiger Mitarbeiter des Blattes und wird des Gymnasiums verwiesen. Sein Abitur soll er als so genannter Externist in Landskron ablegen. Auch dort ist seine freiheitliche Gesinnung bekannt, und so fällt er ausgerechnet im Fach Deutsch durch, weil er nicht weiß, welcher Dichter wann wo gewohnt hat.
Bruno Schoenlank wird Stampfers Lehrmeister
Seinen ersten, mit vollem Namen gezeichneten Artikel veröffentlicht Friedrich Stampfer in Bertha von Suttners Zeitung „Die Waffen nieder“, in dem er zu beweisen versucht, dass nur die Internationale der sozialistischen Arbeiter den Weltfrieden retten kann. Ohne Abitur kann Stampfer zwar kein Vollstudium aufnehmen, aber er darf Vorlesungen besuchen. Auf Empfehlung eines väterlichen Freundes wird der junge Mann zum österreichischen Korrespondenten der von Bruno Schoenlank geleiteten „Leipziger Volkszeitung“. Das bestimmt seinen weiteren Lebensweg.
Am 1. April 1900 tritt Friedrich Stampfer in die Redaktion der „Leipziger Volkszeitung“ ein. Schoenlank wird mit seiner beißenden satirische Schreibe zu Stampfers Lehrmeister. Nach einer längeren schweren Nervenerkrankung stirbt Schoenlank am 30. Oktober 1901. Zu seinem Nachfolger wird der cholerische Parteilinke Franz Mehring bestimmt, der es vorzieht von Berlin aus zu arbeiten. Die Kärrnerarbeit im journalistischen Tagesgeschäft überlässt er Friedrich Stampfer. Das kann nicht gut gehen.
Häme von Rosa Luxemburg
Zum 1. April 1902 verlässt Stampfer die „Leipziger Volkszeitung“ und zieht als freier Schriftsteller nach Berlin, wo er sich mit dem Chef-Theoretiker der Partei, Karl Kautsky, und dem Leiter der „Vorwärts“-Redaktion Kurt Eisner anfreundet. Im September 1903 gründet Friedrich Stampfer die täglich erscheinende „Privatkorrespondenz“, die er zur wichtigsten Presseagentur für die sozialdemokratischen Zeitungen in Deutschland ausbaut. Verächtlich tauft Rosa Luxemburg Stampfers Agentur „Groß-Lichterfelder Meinungsfabrik zur Verkleisterung der Proletariergehirne“. Zu Rosas Leidwesen ist Stampfers „Privatkorrespondenz“ wegen ihrer Tagesaktualität überaus erfolgreich.
Seit seiner Ernennung zum Chefredakteur des „Vorwärts“ ist Friedrich Stampfer kooptiertes Mitglied des Parteivorstands. Während dieser Zeit wächst sein Respekt für Friedrich Ebert, einen Mann mit „phrasen- und pausenloser Ruhe, Selbstsicherheit und Klarheit“. Der Respekt beruht auf Gegenseitigkeit, und der „Vorwärts“ wird nach der November-Revolution zur bestinformierten Zeitung Deutschlands. Von einer kurzen Unterbrechung im Jahr 1919 abgesehen, leitet Friedrich Stampfer den „Vorwärts“ bis 1933 — auch in widrigen Situationen, wie dem Kapp-Lüttwitz-Putsch.
Viele Enttäuschungen erlebt, aber nie die Hoffnung verloren
Nachdem Stampfer 1919 deutscher Staatsbürger geworden ist, kandidiert er ein Jahr später für den Reichstag, in den er von einem sicheren Listenplatz aus einzieht. Bis zur Machtübertragung an die Nazis behält Stampfer sein Reichstagsmandat. In dieser Zeit ist er als „Vorwärts“-Chef die Stimme der SPD, und was im Blatt steht, gilt als Meinung der Partei. Am 4. Mai 1933 flieht Friedrich Stampfer mit seiner Familie nach Prag. Dort redigiert er als Mitglied des Exilvorstands den „Neuen Vorwärts“, der immer noch von der Hoffnung lebt, der Nazis-Spuk werde bald vorbei sein.
Als Stampfer Prag 1938 in Richtung Paris verlassen muss, beginnt für ihn die wirkliche Emigration, denn in Frankreich sind die Emigrant*innen nicht so gut gelitten wie in Prag. 1940 begibt er sich auf die letzte Etappe seiner Emigration und flieht in die USA, wo er sich mit journalistischen Gelegenheitsarbeiten und Vorträgen über Wasser halten kann. Ins kriegsversehrte Deutschland kehrt Friedrich Stampfer erst 1948 zurück und wird Dozent an der „Akademie der Arbeit“ in Frankfurt.
Kurz vor seinem Tod am 1. Dezember 1957 veröffentlicht Friedrich Stampfer sein Credo: „Ich bin mit 18 Jahren Sozialdemokrat geworden und bin es mit 81 noch. Ich habe viele Enttäuschungen erlebt, doch nie die Hoffnung verloren. Ich habe gewiss Fehler begangen, doch immer geglaubt, in einem großen Kampf auf der richtigen Seite zu stehen.“