Warum der „Vorwärts“ ab 1933 in Prag erschien
„Der Welt die Wahrheit zu sagen und dieser Wahrheit auch den Weg nach Deutschland zu öffnen, ist unsere Aufgabe. Die Geschlagenen von heute werden die Sieger von morgen sein!“ Trotzig und kämpferisch gibt sich der „Neue Vorwärts“ in seiner ersten Ausgabe im Prager Exil am 18. Juni 1933. Einen Monat zuvor hatten Chefredakteur Friedrich Stampfer und einige wenige Mitarbeiter zusammen mit dem Exilvorstand der SPD Deutschland verlassen.
Flucht vor dem NS-Regime
In Prag nahm die „Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Exil (SOPADE)“ unter Führung von Otto Wels ihre Arbeit auf. Das NS-Regime nimmt dem „Vorwärts“ Schritt für Schritt jede Arbeitsmöglichkeit in Deutschland. Nicht nur die Druckmaschinen werden von den Nazis beschlagnahmt, die Vorwärts-Mitarbeiter sind schlimmen Verfolgungen ausgesetzt, das gilt mitunter sogar für ihre Familienangehörigen. Schließlich wird die SPD endgültig verboten, ein Teil der Parteiführung und Tausende von Mitgliedern verhaftet oder in Konzentrationslager verschleppt. Alle 200 SPD-Zeitungen werden verboten, das Vermögen der Partei, deren Gebäude und Druckereien beschlagnahmt.
Alfred Nau, der spätere SPD-Schatzmeister, bringt unter Einsatz seines Lebens einen kleinen Teil der noch vorhandenen Barbestände des Parteivorstands nach Prag. Mit diesen Mitteln beginnt der „Neue Vorwärts“ seine Arbeit. Unter schweren Bedingungen. Zunächst ohne Redaktion, ohne Druckerei. „Nichts ist da“, sagt Fritz Heine, der technisch und finanziell für den „Neuen Vorwärts“ verantwortlich wird. „Kein Abonnement, keine Anschriften, keine Verbindungen, nichts, gar nichts. Ohne die großartige Hilfe der Sudetendeutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei wäre dieses Stück Emigrationsarbeit nicht zu schaffen gewesen.“ Von den behördlichen Genehmigungen bis zur Druckerei im grenznahen Karlsbad – die Parteifreunde helfen.
Terroraktion gegen Paul Löbe
Chefredakteur Friedrich Stampfer versucht im „Vorwärts“ den in der Heimat verfolgten Sozialdemokraten beizustehen. 3000 SPD-Funktionäre sind inzwischen verhaftet. Unter -ihnen auch Paul Löbe, der als Reichstagspräsident einst von Hindenburg als Staatsoberhaupt vereidigt hatte: „Die Despotie hat im Zuge ihrer neuen Terrorak-tion Paul Löbe geholt“, schreibt Stampfer auf der Titelseite des „Vorwärts“ am 2. Juli 1933.
„Hindenburg hat einst Löbe in die Hand gelobt, dass er in Deutschland Recht und Gerechtigkeit schützen werde, jetzt sieht er zu, wie der untadelige Mann seiner Freiheit beraubt wird.“ Friedrich Stampfer nimmt kein Blatt vor den Mund: „Deutschland, eine Despotie! Sturz der Gewaltherrschaft!“ betitelt er einen Leitartikel nach dem offiziellen Verbot der SPD durch das NS-Regime.
„Vorwärts“ berichtet über NS-Unrecht
Während im Deutschen Reich über die brutalen Verfolgungsmaßnahmen und den Terror des NS-Regimes nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird und keine Zeitung es wagen kann, darüber zu schreiben, nutzt der „Vorwärts“ seine Chance aufzuklären: „Tausende ehrlicher, braver Funktionäre der Arbeiterbewegung sind von Verbrechern aus ihren Wohnungen geholt, verschleppt und ihrer Freiheit beraubt worden.“
Der „Vorwärts“ leistet damit – wenn auch nur in bescheidenem Maße – eine unendlich wichtige Aufklärungsarbeit, in Deutschland aber auch im Ausland. Er berichtet nicht nur über die Unterdrückung der Opposition, sondern auch über die sich immer weiter verschärfende Verfolgung der Juden. Friedrich Stampfer, selbst Jude, schreibt hier mit besonderer Betroffenheit
Auch zur programmatischen Entwicklung der SPD kann der „Vorwärts“ im Exil einen wichtigen Beitrag leisten. Im Januar 1934 druckt er das sogenannte „Prager Manifest“. Es positioniert die SPD neu, mit einer klaren revolutionären Haltung als Antwort auf den Faschismus.
Erinnerungen von Fritz Heine
Die Vorwärts-Mitarbeiter wissen, wie wichtig, aber auch wie begrenzt die Wirkung ihrer Arbeit ist. „Es ist nicht einfach, sich als Emigrant Gehör zu verschaffen“, erinnert sich Fritz Heine. „Für die Weltpolitik gibt es täglich Wichtigeres, als die schwache Stimme glücklos Geschlagener zu beachten.“ Doch die Vorwärts-Mitarbeiter lassen sich nicht unterkriegen. Sie schaffen es, den „Neuen Vorwärts“ in 42 Ländern zu verbreiten, besonders in den Zentren der Emigration Europas.
Für die illegal in Deutschland arbeitenden Genossen wird eine Miniaturausgabe in Dünndruck geschaffen, die Kuriere in immer neuen Verstecken ins Reich bringen. Auch befreundete Eisenbahner helfen dabei. „Für den Geheimverkehr mit Deutschland wurden außerdem Mikrofilme hergestellt, unsichtbare Tinten verwendet und Camouflagen der verschiedensten Art gebraucht“, beschreibt Friedrich Stampfer die an Geheimdienste erinnernde Exilarbeit. Doch das Gestapo-Netz wird immer lückenloser, die Geldmittel im Exil werden kleiner, immer mehr Kuriere verhaftet. Ende 1936 muss die Verteilung in Deutschland eingestellt werden.
Nazi-Protest gegen „Neuen Vorwärts“
Die Arbeitsbedingungen für den „Vorwärts“ werden auch in der Tschechoslowakei zunehmend schwieriger. Der deutsche Gesandte erscheint 29 Mal im Prager Außenministerium, um immer drohendere Proteste gegen die Arbeit der Exil-SPD und des „Neuen Vorwärts“ zu überbringen. Im Sommer 1937 weiß Staatspräsident Edvard Benes keinen anderen Ausweg mehr, als die SPD vor die Alternative zu stellen, entweder ihre politische und publizistische Arbeit komplett einzustellen, oder die Tschechoslowakei zu verlassen.
Hilfe kommt von den Parteifreunden aus Frankreich. Der sozialistische Ministerpräsident Leon Blum gewährt der SPD und dem „Vorwärts“ 1938 Asylrecht, ohne jede Bedingung. In Paris sind die technischen Bedingungen allerdings schlechter als im deutschen Sprachraum der Tschechoslowakei. Mit viel Mühe gelingt es, eine kleine Druckerei am Rande von Paris zu finden. Doch die Arbeit wird immer schwieriger. „Der schwerste Tag in den sieben Jahren der Existenz des Exilorgans war der des Kriegsausbruch 1939“, sagt Fritz Heine.
Der Krieg zerstört alles
Mit dem Krieg geht es für den „Vorwärts“ bergab. Er leidet verstärkt unter Geldmangel, Umfang und Ausgaben schrumpfen mehr und mehr zusammen. Im März 1940 erfolgt ein Kassensturz: Nur noch drei Ausgaben im Zwei-Wochen-Rhythmus sind finanzierbar, dann ist Schluss. Und so kommt es auch: Am 5. Mai 1940 erscheint der letzte „Vorwärts“ in Paris. „Die letzte Ausgabe der Exilzeitung -erreicht ihre Leser nicht mehr“, erinnert sich Fritz Heine.
Das Ende des „Vorwärts“ ist der Auftakt für das Ende jeder offenen sozialdemokratischen Oppositionsarbeit in Frankreich. Denn am 10. Mai 1940 beginnt der Einmarsch der Wehrmacht. Mit dem Untergang der französischen Demokratie und der Installation des Vichy-Regimes beginnt die planmäßige Verfolgung und Auslieferung deutscher Oppositioneller. Rudolf Hilferding, der frühere Chefredakteur des „Vorwärts“, wird deportiert und von den Nazis ermordet. Anderen gelingt die Flucht, wie Friedrich Stampfer und Fritz Heine.
Buchtipp: „Trotz alledem“
Keine andere deutsche Zeitung hat so sehr unter den Verfolgungen der Nationalsozialisten zu leiden wie der „Vorwärts“, betont Hermann Schueler in „Trotz alledem“, seinem Buch über den „Vorwärts“. „Mindestens 30 seiner ehemaligen Redakteure, Mitarbeiter und Korrespondenten sind den Verfolgungen und Drangsalen der braunen Machthaber ausgesetzt. Mehr als ein Drittel hat sie nicht überlebt.“ Schueler würdigt die Widerstandsarbeit des „Vorwärts“ im Exil als „ein über dem 20. Juli 1944 vergessenes Kapitel im Buch des deutschen Widerstandes“.
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Die Jubiläumsausgabe des „vorwärts“ finden Sie hier.