Geschichte

Der Marx-Erklärer: Wie Karl Kautsky die SPD geprägt hat

Er schrieb an zwei Grundsatzprogrammen der SPD mit. Zwischenzeitlich geriet Karl Kautsky in der Partei ins Abseits. Sein Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie kann jedoch nicht hoch genug bewertet werden.
von Lothar Pollähne · 17. Oktober 2023
Karl Kautsky Ende des 19. Jahrhunderts: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber Revolution machende Partei“.
Karl Kautsky Ende des 19. Jahrhunderts: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber Revolution machende Partei“.

Anfang der 1880er Jahre weilt der nachmalige Literatur-Nobelpreisträger Paul Heyse bei seinem Schriftstellerkollegen Gottfried Keller in Zürich. Eines Abends vernimmt er fröhlichen Lärm, der aus dem Parterre in Kellers Wohnung dringt und fragt den Kollegen, wer das denn sei. Das sind Sozialdemokraten antwortet Keller und Heyse reimt pathetisch: „Dort unter der Schwelle brodelt die Hölle.“

Die da so ausgelassen lärmen, sind Redakteure der Zeitung „Sozialdemokrat“, die seit September 1879 in Zürich erscheint und als wichtigstes Organ der deutschen Sozialdemokratie in der Zeit der Bismarck’schen Sozialistengesetze gilt. An jenen Feier-Abenden werden unter der Leitung des „Dirigenten“ Julius Motteler Spottgesänge auf den Kaiser und sein Reich vorgetragen, die Georg von Vollmar auf dem Klavier oder mit der Zither begleitet. Den Vorsänger gibt Eduard Bernstein und gelegentlich mimt ein weiterer Redakteur Akrobaten oder Phantasietänzer: Karl Kautsky. Das kommt nicht von ungefähr.

Abgrundtiefer Hass auf die Habsburger Monarchie

Geboren wird Karl Johann Kautsky am 16. Oktober 1854 in Prag als Sohn des Theatermalers Jan Kautsky und der Schauspielerin und Schriftstellerin Minna Kautsky. 1863 zieht die Familie nach Wien, wo Karl das Akademische Gymnasium besucht. Wegen seiner slawischen Herkunft wird er von Lehrern und Mitschülern als „Mischling“ gehänselt. Das entfacht seinen abgrundtiefen Hass auf die Habsburger Monarchie und lässt ihn zum Verfechter der tschechischen Unabhängigkeit werden.

Zu seinen Vorbildern gehören Giuseppe Garibaldi und der ungarische Freiheitskämpfer Lajos Kossuth. Während des Aufstands der Pariser Kommune des Jahres 1871 wendet sich Karl Kautsky sozialistischen Ideen zu. Er studiert die Schriften Ferdinand Lassalles und liest Werke von Heinrich Heine, John Stuart Mill und Charles Darwin, der ihn in seinem Denken dauerhaft prägen wird.

Eher gemäßigter Lassalleaner als revolutionärer Sozialist

1874 beginnt Karl Kautsky in Wien ein Studium der Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie. Historiker möchte der Suchende werden, da Geschichte schon während seiner Schulzeit das Lieblingsfach war. Politisch findet er seine Heimat in der österreichischen Arbeiterpartei, für deren Presse er Artikel verfasst und sich mit dem Pseudonym „Symmachos“ einen Namen macht. Auch Wilhelm Liebknechts „Volksstaat“ in Leipzig wird auf den jungen Mann aufmerksam.

Kautsky ist in seinen Studienjahren eher gemäßigter Lassalleaner als revolutionärer Sozialist. Seine Suche nach einem geeigneten Beruf führt, seinen Talenten entsprechend, in mehrere Richtungen. Maler will er werden oder Schriftsteller. Er schreibt einen Roman und ein Theaterstück, das 1878 in Wien uraufgeführt wird. Berufliche Perspektiven eröffnen sich für Kautsky damit jedoch nicht.

Enge Freundschaft zu Eduard Bernstein

Da trifft es sich gut, dass der vermögende sozialdemokratische Privatier Karl Höchberg einen Mitarbeiter sucht. Kautsky nimmt das Angebot an, zieht nach Zürich und freundet sich mit Höchbergs Privatsekretär Eduard Bernstein an. Es entwickelt sich eine arbeitsintensive, intellektuelle Freundschaft, die so eng ist, dass August Bebel Bernstein und Kautsky als „die Unzertrennlichen“ bezeichnet.

Von 1880 bis 1882 arbeitet Kautsky an der Herausgabe sozialistischer Literatur und erwirbt sich fundierte Kenntnisse der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels. 1881 lernt Karl Kautsky die beiden Granden des Sozialismus bei einem Besuch in London kennen. Während Karl Marx Kautsky gegenüber reserviert bleibt, nimmt sich Friedrich Engels des jungen Mannes als väterlicher Freund und Berater an. Kautsky verfasst in seinen Zürcher Jahren politikwissenschaftliche und historische Bücher und erarbeitet sich einen Ruf als Autorität auf dem Gebiet der Marx’schen Theorie.

Gründer der „Neuen Zeit“

Karl Kautskys wichtigstes Medium zur Verbreitung seiner radikalen Gedanken ist anfangs „Der Sozialdemokrat“, den sein Freund Eduard Bernstein seit 1881 als Chefredakteur leitet. Für Kautskys intellektuelles Sendungsbewusstsein ist das Blatt auf Dauer nicht ausreichend. Es gelingt ihm, August Bebel und Wilhelm Liebknecht von der Gründung einer Theoriezeitschrift zu überzeugen: Am 1. Januar 1883 erscheint im Verlag von Johann Heinrich Wilhelm Dietz in Stuttgart die „Neue Zeit“, eine „Revue des geistigen und öffentlichen Lebens“. Liebknecht verfasst den Leitartikel für das neue Diskussionsforum und schreibt: „Jedem Gegner, dem es um die Sache ernst ist, steht daher unser Blatt offen, und die Redaktion wird niemals der lächerlichen Unfehlbarkeitsfiktion huldigen, sich im Allgemeinbesitz der Wahrheit zu düncken.“

Das Konzept überzeugt sogar den sozialistischen „Übervater“ Friedrich Engels, der Karl Kautsky als Berater zur Seite tritt und einer der wichtigsten Autoren wird. In der „Neuen Zeit“ erscheinen Engels‘ Artikel über Karl Marx, die Pariser Kommune und 1886 der ideologiekritische Aufsatz „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“.

Kautsky und Bernstein: Von Freunden zu Gegnern

Von 1885 bis 1890 lebt Karl Kautsky in London und genießt den engen Austausch mit Friedrich Engels. Kautsky hat sich zum Ziel gesetzt, die Marx’schen Ideen massentauglich zu machen und veröffentlicht 1887 sein Werk „Karl Marx’ ökonomische Lehren“, das 1930 die 25. Auflage erreicht. Mit dieser Schrift etabliert sich Karl Kautsky als „Wortführer des sogenannten parteioffiziellen Radikalismus“, wie ihn der Biograph Werner Blumenberg nennt. Nach dem Fall der Sozialistengesetze zieht Karl Kautsky nach Stuttgart und erhält von der Partei den Auftrag, ein neues Programm zu entwerfen. Gemeinsam mit Eduard Bernstein entsteht das „Erfurter Programm“, das auf den Grundlagen der Marx’schen Theorie fußt und eine sozialistische Gesellschaft anstrebt. Noch ziehen Kautsky und Bernstein an einem revolutionären Strang.

1897 veröffentlicht Eduard Bernstein in Kautskys „Neuer Zeit“ einen Artikel mit dem Titel „Probleme des Sozialismus“, in dem er seine Abkehr vom Prinzip der revolutionären Umgestaltung einleitet. Das trennt ihn von Karl Kautsky, der sich im Zuge der nun entbrennenden Revisionismus-Debatte zum schärfsten Kritiker seines langjährigen Freundes entwickelt. „Wir können Dir auf Deinem Weg nicht folgen“, schreibt Kautsky an Bernstein, „Gehst Du ihn weiter, musst Du ihn alleine gehn.“

Mitbegründer der USPD

Karl Kautsky bleibt scheinbar unbeirrt auf dem Weg der reinen Marx’schen Lehre, in der darwinistisch, naturgesetzlich die Revolution unausbleiblich ist, um den Kapitalismus zu überwinden. Schon bald sieht er sich durch Kritik vom linken, radikalen Flügel der Partei bedrängt. Vor allem Rosa Luxemburg propagiert den Massenstreik als revolutionäres Kampfmittel, und Karl Kautsky antwortet mit den Kampfschriften „Der Weg zur Macht“ und „Der politische Massenstreik“.

Nachdem er zunächst nur zögerlich Kritik am Kriegskurs der SPD geübt hatte, tritt Kautsky 1916 gemeinsam mit Hugo Haase und seinem früheren Freund Eduard Bernstein gegen die aggressive deutsche Kriegspolitik auf und isoliert sich — wie auch seine Mitstreiter — in der Mehrheits-SPD. 1917 gehört er zu den Mitgründern der USPD. Nach der November-Revolution 1918 wird Karl Kautsky zum Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt ernannt und erarbeitet eine Denkschrift über den großen Anteil der deutschen Regierung an der Kriegsschuld, deren Veröffentlichung jedoch zunächst von Reichskanzler Philipp Scheidemann verhindert wird.

Mitautor des „Heidelberger Programms“

Ab 1918 gerät Karl Kautsky auch in der USPD ins Abseits, indem er Kritik an der Politik der russischen Revolutionäre übt. Er hebt die Bedeutung der Demokratie für den Klassenkampf hervor und wettert gegen die „Diktatur des Proletariats“, die er als „bolschewistische Diktatur“ bekämpft. Der bis dahin in Russland hochverehrte Kautsky wird zum Renegaten und damit zum Feind erklärt. Diese Haltung übernimmt auch die Mehrheit der USPD. Karl Kautsky bleibt sich treu und tritt aus der Partei aus, noch bevor es 1922 zur Vereinigung der beiden sozialdemokratischen Parteien kommt.

Noch einmal kann Karl Kautsky seinen Einfluss in der SPD geltend machen. 1925 ist er einer der Mitautoren des „Heidelberger Programms“, das sich stark an die Grundlagen des marxistisch geprägten „Erfurter Programms“ anlehnt. Die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft ist darin nicht mehr enthalten. Damit erfüllt sich eine Feststellung, die Karl Kautsky schon 1893 in der „Neuen Zeit“ getroffen hatte: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber Revolution machende Partei“.

1927 veröffentlicht Karl Kautsky, der seit zwei Jahren in Wien lebt, sein letztes großes Werk mit dem Titel „Die materialistische Geschichtsauffassung“. Nach der Einverleibung Österreichs durch Nazi-Deutschland emigriert Karl Kautsky im März 1938 in die Niederlande. Am 17. Oktober des Jahres stirbt er einen Tag nach seinem 84. Geburtstag in Amsterdam.  

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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