Vier Chancen für Veränderung: Warum die SPD jetzt ihre Strukturen umkrempeln muss
Die SPD muss sich neu aufstellen – mal wieder. Die Herausforderungen sind groß, die Chancen aber auch, wenn die Partei es richtig angeht. Denn eigentlich hat die SPD alle Voraussetzungen für Veränderung.
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SPD-Ortsvereinstreffen: Die Atmosphäre solcher Sitzungen lädt kaum zu Kreativität ein.
360.000 Mitglieder hat die SPD. Das ist die Einwohnerzahl von Bochum oder viereinhalb ausverkaufte Heimspiele von Borussia Dortmund. Trotzdem wirkt unsere Partei oft kleiner, als sie ist: In manchen Regionen hält nur noch eine Handvoll Ehrenamtliche die rote Flagge hoch, viele Genoss*innen fühlen sich nicht eingebunden, und Außenstehenden erscheint die SPD als geschlossene Veranstaltung. Wenn wir in den nächsten zwei Jahren ein neues Grundsatzprogramm schreiben wollen, brauchen wir zuerst ein Update unserer eigenen Arbeitsweise.
Parteistrukturen wie im 20. Jahrhundert
Das ist nicht der erste Aufruf zu einer grundlegenden Aktualisierung der Organisation SPD. Bereits 2017 legte SPD++ viele Vorschläge vor. Das Echo war an der Parteibasis und auch in der Parteispitze positiv, manches wurde Beschlusslage, aber kaum etwas hat sich dann im Alltag der Partei wiedergefunden.
Die Lage ist ernst: Strukturen von gestern bremsen Ideen von morgen, Talente bleiben draußen, und die Mitgliedschaft schrumpft, weil wir zu selten zeigen, wofür wir stehen und wie alle mitgestalten können. Die Strukturen haben kaum auf die Veränderung politischen Engagements, Kommunikation und gesellschaftlicher Entwicklung reagiert.
Wir erreichen die Menschen schlechter und können Stimmungen vor Ort nur unzureichend aufnehmen. Denn: Die SPD arbeitet im Grunde genau so wie vor Jahrzehnten, die Wirklichkeit ist aber eine andere. Sieht man von vielen anderen Parteien und den Kirchen ab, gibt es wohl keine andere Organisation, die so den Wandel der Zeit an sich vorbei hat vorbeiziehen lassen.
Es ist unklar, wofür die SPD eigentlich steht
Innovationen und neue Aktionsformen haben es in diesem Gefüge schwer: Traditionelle Gremiensitzungen dienen vor allem der administrativen Routine und sind selten Brutstätten großer Ideen. Die Atmosphäre solcher Sitzungen lädt kaum zu Kreativität ein. Das ist nicht als Vorwurf zu verstehen, da die Mitglieder vor Ort bereits sehr viel stemmen müssen. Inhalte werden oft langsam und in kleinteiligen Kommissionen erarbeitet, was die strategische Agilität der Partei beeinträchtigt.
Auch große Debatten zu den Fragen unserer Zeit (Zeitenwende, Klimakrise, Künstliche Intelligenz, Transformation allgemein) erreichen die Parteibasis nicht und suchen sich dann andere Ventile. Diese Zurückhaltung in der Einbindung und die fehlende klare programmatische Orientierung haben dazu beigetragen, dass unklar wurde, wofür die SPD eigentlich steht.
Die SPD wirkt auf Engagierte verschlossen
Die schrumpfenden Personal-Ressourcen werden für Parteiarbeit eingesetzt, die von außen kaum jemand mitbekommt. Die traditionellen Gremiensitzungen schaffen es aber auch nicht, neues Engagement innerhalb und außerhalb der Mitgliedschaft zu aktivieren.
Daraus ergeben sich Mängel bei der Rekrutierung und Förderung von Personal. Sicherlich bestätigen hier Ausnahmen (junge Bundesministerinnen, viele junge Bundestagsabgeordnete 2021 – nicht aber 2025) die Regel. Zudem wirkt die SPD auf Engagierte von außen manchmal verschlossen: viele Nicht-Mitglieder fühlen sich von starren Parteistrukturen und eingespielten Mustern abgeschreckt, zumal politische Partizipation in klassischer Parteiform für junge und unabhängige Bürger*innen unattraktiv wirkt.
Die aktive Mitgliedschaft repräsentiert in der persönlichen und beruflichen Vita nicht die Gesamtgesellschaft, was die Einbindung Außenstehender zusätzlich erschwert. Hier besteht Reformbedarf, um Talente zu gewinnen und zu halten, bevor sie sich anderen Bewegungen oder NGOs zuwenden.
Vier Möglichkeiten für Veränderungen
Diese Schwächen gilt es mit gezielten Maßnahmen anzugehen, wobei die gesamte Partei – von den vielen Sympathisant*innen und inaktiven Mitgliedern über die Ortsvereinen bis zum Parteivorstand – mitgedacht werden muss, um nachhaltige Veränderung zu erreichen.
Herausforderung 1: Schwerfällige innerparteiliche Willensbildung mit unzureichender direkter Beteiligung der Basis
Mögliche Lösungsansätze:
- Themen und Projektarbeit als zweite Säule: Neben der klassischen, hierarchischen Beteiligung über regionale Strukturen (Ortsvereine, Unterbezirke) muss eine zweite überregionale, flache aber themengebundene Struktur ermöglicht werden. Hiermit sind nicht die ebenfalls hierarchisch organisierten Arbeitsgemeinschaften gemeint. Wer generell in Beteiligung gebracht werden kann, wird sich auch eher in klassischen Formaten vor Ort beteiligen.
- Digitale Beteiligung muss endlich, endlich ernst gemeint werden (dieses Mal wirklich). Zwar wurden Online-Themenforen eingeführt, aber wer hat diese bereits genutzt? Da sie nicht mit Macht hinterlegt sind und Parteifunktionäre kaum anzutreffen sind, sind sie zwar eingeführt aber nicht eingebunden.
- Wichtig ist auch ein Kulturwandel in der Gremienarbeit hin zu mehr Kreativität. Nicht nur die SPD-Parteischule empfiehlt hier ausdrücklich, neue Formate und Regeln auszuprobieren, da große Ideen selten in formellen Gremiensitzungen geboren werden. Notwendig sind ein offeneres Setting, ausreichend Materialien und vor allem eine Kultur der Wertschätzung für inhaltliche Beiträge. Das Motto muss lauten: Ideen statt Hierarchien.
Herausforderung 2: Mangelnde Innovationskultur und digitale Rückständigkeit in internen Abläufen
Mögliche Lösungsansätze:
- Die Partei muss kleinere, agile „Policy-Labs“ bilden: zeitlich befristete Arbeitsgruppen zu aktuellen Themen, besetzt mit einem Mix aus Fachpolitikerinnen und Fachpolitikern, Basis-Mitgliedern, externer Expertise und ggf. Bürgerinnen und Bürgern. Diese Labs würden z.B. innerhalb weniger Wochen konkrete Vorschläge erarbeiten – ähnlich einem Hackathon oder einer Enquete im Schnellformat – und ihre Ergebnisse präsentieren. Große Programmkommissionen, die nach Proporz besetzt werden, sollten der Vergangenheit angehören.
- Die SPD entwickelt ein Ideenmanagement, indem jedes Mitglied Vorschläge einbringen kann um Abläufe und Kommunikation zu verbessern. Die Ideen werden gesammelt, in einem transparenten Prozess bewertet und auf Umsetzbarkeit geprüft.
- Dass es auch 2025 keine vernünftige digitale Mitgliederplattform (in welcher Form auch immer) gibt, ist ein großes Versäumnis. Hier muss dringend ein stringentes Konzept entwickelt werden, um Mitglieder besser zu erreichen und ihnen Werkzeuge, auch mit künstlicher Intelligenz, an die Hand zu geben.
Herausforderung 3: Defizite bei der Personalentwicklung
Mögliche Lösungsansätze:
- Neue Beteiligungsformate, um (Nicht-)Mitglieder besser einzubinden. Hier sind über Urwahlen (Primaries) oder verbindliche Mitgliedervoten über Sachthemen mögliche Ansätze.
- Menschen in der Partei müssen auch zeigen können, dass sie außerhalb der Partei Mehrheiten gewinnen können. Hier könnten Unterschriften von unterstützenden Nicht-Mitgliedern bei den vorderen Listenplätzen eine denkbare Option sein.
- Ziel 30-30-30-Quote bis 2029: für die Listen zur Bundestagswahl sollte es mindestens 30 Prozent Menschen unter 40 Jahren, 30 Prozent ohne akademischen Hintergrund und 30 Prozent mit eigener oder familiärer Migrationserfahrung geben. Ob dies eine feste Quote oder eine gewünschte Zielmarke sein soll, gilt es zu diskutieren.
Herausforderung 4: Abnehmende gesellschaftliche Verankerung durch Mitgliederschwund und reduzierte Präsenz in bestimmten sozialen Milieus
Mögliche Lösungsansätze:
- Kompetenzen der Mitglieder richtig einbinden: Hierbei sollen Berufe, Zeitbudgets und Fähigkeiten der Mitglieder abgefragt werden. Ziel ist es, die Entscheidungsgremien der Partei langfristig den Berufsstrukturen der Mitgliederbasis anzupassen und Fähigkeiten und Netzwerke der Basis bestmöglich einzusetzen.
- Die SPD sollte verstärkt auf Community Organizing setzen – ein Ansatz, der in den USA erfolgreich war. Das bedeutet: Mitglieder und Ehrenamtliche werden systematisch ermutigt und ausgebildet, in ihren Vierteln Initiativen zu ergreifen (Nachbarschaftshilfe, Stadtteilfeste, Diskussionsrunden zu konkreten Problemen). Im ländlichen Raum wird oft nicht mehr allein die SPD im Mittelpunkt stehen, sondern häufiger eine pragmatische Mitte-Links Sammlungs-Bewegung mit der lokalen Sozialdemokratie, auch außerhalb der Wahlen.
- Ein weiterer Aspekt der Verankerung ist die kommunikative Präsenz in modernen Öffentlichkeitssphären. Die SPD muss dort sein, wo gesellschaftliche Debatten stattfinden – ob das lokale Facebook-Gruppen, Bürgerplattformen oder Bürgerräte sind. Digitale Präsenz alleine reicht nicht; es geht um echte Interaktion. Jedes Mitglied muss dazu ermächtigt werden, als digitales SPD-Mitglied für die Partei aktiv zu sein.
Warum wir jetzt loslegen müssen
Je länger wir warten, desto größer erscheinen die Brocken der Erneuerung – bis sie unüberwindbar wirken. Manche der Forderungen sind sogar so oder ähnlich schon Beschlusslage, aber nicht Standard der Partei. Andere Forderungen widersprechen sich vielleicht sogar. Es gilt auszuprobieren, agil zu sein und Strukturen dynamisch anzupassen. Also: klein anfangen, schnell lernen, mutig skalieren.
Bleiben wir hingegen beim Status quo, droht ein stilles Ausbluten. Parallel zum Programmprozess muss damit ein mutiger Strukturprozess beginnen. Mit jedem verlorenen Jahr wird es schwieriger, junge Menschen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Engagierte aus der Zivilgesellschaft für die Sozialdemokratie zu begeistern. Unser Anspruch war immer, Motor für Fortschritt und soziale Gerechtigkeit zu sein – nicht dessen Bremsklotz.
Wir haben 360 000 Chancen, es besser zu machen.
Henning Tillmann war 2017 Mitinitator von SPD++ und ist seit vielen jahren digitalpolitisch aktiv. Er berät auch den vorwärts zu Fragen der digitalen Transformation.
Dominik Butzmann
ist selbständiger Informatiker, Mitglied der SPD-Medienkommission und lebt in Berlin.