Kinofilm „The Village Next To Paradise”: Ein anderer Blick auf Somalia
„The Village Next To Paradise” ist der erste Film aus Somalia, der beim Festival in Cannes in der Sektion „Un Certain Regard“ gezeigt wurde. Im Interview beschreibt Regisseur Mo Harawe, wie er das Leben in dem krisengeschüttelten Land jenseits der Klischees eingefangen hat.
Freibeuter Film
Damit es sein Sohn Cigaal einmal besser haben wird, scheut Mamargade auch keine gefährlichen Pfade.
Das Sozialdrama „The Village Next To Paradise” dreht sich um das Leben in einem abgelegenen Dorf an der Küste Somalias. Ein alleinerziehender Vater geht verschlungene Wege, um seinem Sohn den Besuch eines Internats in der Stadt zu ermöglichen. Seine Schwester trennt sich von ihrem Mann und versucht, ein eigenes Geschäft aufzubauen. Trotz aller Rückschläge findet die Familie ihren eigenen Weg im täglichen Chaos. Der mit Laiendarsteller*innen gedrehte Film bietet überraschende und intensive Einblick in die gesellschaftliche Realität Somalias. Regisseur ist der 33-jährige Mo Harawe.
Ihr Film vermittelt den Eindruck, dass die Zukunft Somalias in den Händen der Frauen und Kinder liegt. Der Schuljunge Cigaal und seine Tante Araweelo strahlen sehr viel Selbstbewusstsein und Optimismus aus. Die Männer hingegen, wie etwa Cigaals Vater, scheinen eher für die Probleme des Landes zu stehen und scheitern immer wieder. Haben Sie dieses polarisierte Bild bewusst gezeichnet?
Ob in der Familie oder in der Politik: Nicht nur in Somalia, auch in Europa sind es meistens die Männer, die all die Probleme verursachen. In Somalia gibt es keine wirklich funktionierende Regierung und häufig sind es starke Frauen, die im Alltag alles zusammenhalten. Mein Ziel bestand allerdings nicht darin, das so klar herauszuarbeiten. Ich wollte lediglich die Geschichte einer Familie erzählen.
Cigaals Vater Mamargade und dessen Schwester Araweelo haben beide ein großes Herz und wollen anderen helfen. Mamargade hat oft einen Plan und ein Ziel: Er will eine ordentliche Schulbildung für seinen Sohn. Allerdings denkt er nie an die Konsequenzen seiner Taten. Araweelo ist das genaue Gegenteil. Mamargade kann nur das, was er kennt. Sie kann mehr.
Sie haben über Ihren Film gesagt, dass Sie zunächst allein die Entwicklung der Figuren im Blick hatten und der Kontext erst später hinzukam. Inwiefern lässt sich Ihr Film als ein Spiegelbild der somalischen Gesellschaft verstehen?
Ich bin das Ganze sehr intuitiv angegangen, anstatt bestimmte Themen in den Fokus zu nehmen. Wenn ich ein Drehbuch schreibe, dann folge ich den Figuren dorthin, wo sie hingehen. So war es auch diesmal.
Anders gefragt: Wie viel von Somalia steckt in den Hauptfiguren?
Die Geschichte kann so wohl nur in Somalia spielen. Man hat Probleme, kommt aber irgendwie weiter. Es gibt dieses besondere Grundvertrauen und eine allgemeine Solidarität. All dies zeichnet viele Menschen in Somalia aus.
Diese Zuversicht wird im Film aber auch gebrochen. Nach der Beerdigung ihrer Tochter sagt eine Mutter zum Totengräber Mamargade, es habe keinen Sinn, in Somalia Kinder großzuziehen, weil sie dort keine Zukunft hätten.
Das ist ein Kontrapunkt zum sonst vorherrschenden Optimismus. Mamargade hat Verständnis für die Situation der Mutter und schweigt, auch wenn er ihre Einstellung nicht teilt. Vielmehr denkt er: Im Großen und Ganzen und geht es immer irgendwie weiter.
Der Film lebt von sehr langen und statischen Einstellungen. Viele Szenenbilder wirken wie ein Gemälde. Wollten Sie den Zuschauenden die Gelegenheit geben, sich langsam, aber auch gründlich auf diese so für viele ungewohnte Szenerie einzustellen?
Es gibt kaum Filme aus oder über Somalia. Hollywood-Produktionen wie „Black Hawk Down“ haben mit der Realität im Land nichts zu tun. Mir ging es darum, das Publikum dazu zu bringen, sich meine Figuren genau anzuschauen, denn sie haben es verdient. Wenn man sie zwei Stunden lang begleitet, kann man ihre Welt besser verstehen.
Optisch oder akustisch taucht das Meer immer wieder im Film auf. Welche Rolle spielt es mit Blick auf die Handlung?
Wasser und Wind verkörpern für mich Freiheit und Bewegung. Der Strand am Dorfrand ist frei zugänglich für alle. Daher kommt auch der Filmtitel „The Village Next to Paradise“. Wer nur den Strand sieht und von den Problemen der Menschen nichts weiß, könnte sich denken: Hier sieht es ja aus wie im Paradies.
Mo
Harawe
Grundvertrauen und Solidarität zeichnen viele Menschen in Somalia aus.
Somalia verbinden viele in Europa mit Anschlägen der Terrororganisation Al-Shabaab und dem Elend von Geflüchteten. Wie ist es Ihnen gelungen, all das in Ihrem Film weitgehend auszublenden?
Ich bin in Somalia geboren und aufgewachsen, daher kenne ich die dortige Realität von vielen Seiten. Da ich schon länger in Österreich lebe, ist mir allerdings auch die Perspektive von außen vertraut.
Ein Thema, das in Somalia eine Rolle spielt und manche zumindest am Rande aus den Nachrichten kennen, sind US-geführte Drohnenangriffe, denen immer Zivilist*innen zum Opfer fallen. In einer Szene Ihres Films proben Schulkinder das Verhalten bei so einer Attacke. Halten Sie diese Problematik für unterbelichtet?
Ich glaube schon. Meistens hört man nur von abstrakten Opferzahlen. Dabei kommt zu kurz, dass es um Menschen geht. Ähnlich erlebe ich, wenn öffentlich über Geflüchtete geredet wird, die auf dem Weg über das im Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Oder wenn es um Leute geht, die sich in Europa um Asyl bemühen. Es gibt keine Empathie. Ich wollte zeigen, wie die Menschen in Somalia ihren Alltag erleben. Und damit den Blick auf sie menschlicher machen.
In diesem Jahr wird Somalia Mitglied des UN-Sicherheitsrates sein. Sollte das Ausland optimistischer auf das Land gucken und sehen, welches Potenzial das Land wirklich hat? Ist der bisherige Blick zu pessimistisch?
Darauf pauschal zu antworten, fällt mir schwer. Ich hoffe allerdings, dass sich die Lage in dem Land, wo seit mehr als 30 Jahren Bürgerkrieg herrscht, bessert. Schlimmer kann es nicht mehr werden.
Ende letzten Jahres war der somalische Präsident zu Gast in Berlin. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Erfolge beim Staatsaufbau in Somalia gelobt. Wo sehen Sie Anzeichen, dass sich etwas zum Positiven wendet?
Dass es weniger Terroranschläge gibt, halte ich für ein gutes Zeichen. Wie auch die Tatsache, dass viele Menschen aus der Diaspora zurückkehren und versuchen, dort irgendwie ihren Beitrag im positiven Sinne zu leisten. Und es verlassen weniger junge Menschen das Land als früher.
„The Village Next To Paradise“ (Deutschland, Frankreich, Österreich, Somalia 2024), ein Film von Mo Harawe, mit Ahmed Ali Farah, Anab Ahmed Ibrahim, Ahmed Mohamud Saleban u.a., FSK ab 12 Jahre
Im Kino. Weitere Infos unter eksystent.com