Kinofilm „The Outrun“: Bildgewaltiges Suchtdrama mit Saoirse Ronan
Erst in der Einsamkeit bezwingt eine junge Frau ihre Dämonen: Die Bestseller-Verfilmung „The Outrun“ lebt von einer eindringlichen Bildsprache und der überragenden Hauptdarstellerin Saoirse Ronan.
Studiocanal/The Outrun Ltd.
Leben am Abgrund: Rona (Saoirse Ronan) kostet diese Erfahrung auf vielerlei Weisen aus.
Scheinbar gleichgültig stapft Rona über eine windumtoste Wiese im hohen Norden Schottlands. Fette Elektrobeats kommen aus den Kopfhörern der jungen Frau um die 30 in Arbeitskluft. Mit ebenso stoischer Miene füttert sie die Schafe im Stall oder befördert ein Lamm aus dem Leib seiner Mutter hinaus ins Leben. Ein fast schon archaischer Alltag auf den Orkney-Inseln.
Die Kopfhörer legen nahe, dass sich Rona gegen diesen Ort sträubt. Tatsächlich aber hat sie ihn bewusst gewählt. Immer mehr lässt sie sich auf das raue Drumherum ein. Es ist eine Wiederannäherung und auch das Neuentdecken einer Welt, die sie einst hinter sich lassen wollte.
„The Outrun“ erzählt davon, wie eine Frau ihr bisheriges Leben am Abgrund hinter sich lässt, indem sie an einem anderen Abgrund neu anfängt. Der erste Abgrund ist psychologischer Natur: Vor mehr als zehn Jahren ging Rona von den Orkneys nach London. Dort erlebte sie zahllose Alkoholexzesse und lange Nächte in Elektroklubs, insofern stellt der Sound aus den Kopfhörern eine Brücke in Ronas altes Leben dar. Ihre Beziehung zerbrach am permanenten Rausch. Nach einer Therapie beschloss sie, zu ihrer Familie im Norden zurückzukehren.
Ein Leben am Abgrund
Besonders aufgefangen fühlt sich Rona dort nicht. Die Eltern leben getrennt. Während ihre Mutter in religiösen Eifer abgedriftet ist, macht ihrem Vater eine bipolare Störung zu schaffen. In einem Wohnwagen nahe seiner Schafweide fristet er ein einsames und entwurzeltes Dasein.
Rona packt auf der Farm mit an und durchstreift die abgelegenen Weideflächen, die bis zu den Klippen reichen, womit die Geschichte sozusagen an einem zweiten Abgrund angekommen ist. Nachdem Rona eine weitere existenzielle Krise durchgemacht hat, beschließt sie, auf eine noch abgelegenere Insel umzuziehen. Dort hofft sie, mit sich und ihrer Umgebung ins Reine zu kommen.
Der Film der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt („Systemsprenger“) basiert auf dem autobiografischen, hierzulande unter dem Titel „Nachtlichter“ erschienenen Bestseller von Amy Liptrot. Um der filmischen Erzählung weitere Wendungen zu ermöglichen, wich die britische Autorin, die gemeinsam mit Fingscheidt das Drehbuch geschrieben hat, allerdings an einigen Stellen von ihren Memoiren ab.
Fingscheidts Adaption lebt vom Wechselspiel zwischen drei Erzählebenen. In linearer Weise wird erzählt, wie Rona ihren Neustart in der nordischen Inselwelt durchlebt. In Rückblenden beobachten wir, wie sie in London immer mehr zum Opfer ihrer Sucht wird und alles um sie herum zerbricht. Zwischendurch gibt es immer wieder Sequenzen, in denen die Protagonistin über sich, die Natur und grundlegende Fragen der menschlichen Existenz reflektiert.
Das alles mag womöglich nicht gerade nach überbordender Spannung klingen. Und doch entfaltet der Film, der auch etwas über das Self Empowerment einer Frau zu sagen hat, über weite Strecken eine packende Wirkung und auch Dynamik.
Wechselspiele für Auge und Kopf
Das liegt an der beschriebenen Erzählweise, die Zuschauende lange im Unklaren lässt. Vor allem lebt das Ganze von einer Bildsprache, die für jeden Erzählstrang ganz eigene Nuancen zur Entfaltung bringt. Während uns der raue Norden überwiegend mit blassen Farben in Erscheinung tritt, wurde das exzessive Leben an der Themse mit entsprechend satten und fiebrigen Tönen festgehalten. Durch dieses Wechselspiel müssen sich Kopf und Auge ständig neu orientieren. Doch die Anstrengung wird belohnt.
Dass all dies so gut funktioniert, liegt auch an Hauptdarstellerin Saoirse Ronan, die derzeit auch im Kriegsdrama „Blitz“ zu sehen ist. Mit eher zurückgenommenem Spiel bringt sie uns Rona in allen Extremen ihres Daseins nahe. Ronan fungierte auch als Co-Produzentin.
Darüber hinaus gibt es eine weitere, nicht minder wichtige Darstellerin, nämlich die Natur. Sie erscheint nicht etwa als Idyll, sondern als unergründliche und manchmal auch gefährliche Sphäre. Durch die Begegnung mit ihr werden in Rona Bewusstseinsprozesse angestoßen, die der auf der diesjährigen Berlinale gezeigte Film äußerst kunstvoll und eindringlich in Bilder übersetzt. In Bilder, die ohne viele Worte zeigen, wie verschlungen der Weg zur Heilung sein kann.
„The Outrun“ (Deutschland/Vereinigtes Königreich), Regie: Nora Fingscheidt, Drehbuch: Amy Liptrot und Nora Fingscheidt, Kamera: Yunus Roy Imer, mit Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Delane, Saskia Reeves u.a., 119 Minuten, FSK ab zwölf Jahre
Im Kino
Weitere Infos unter: studiocanal.de