„No Other Land“: Ein verstörender Film, der für Verständigung in Nahost wirbt
Der Dokumentarfilm „No Other Land“ zeigt die Zerstörung palästinensischer Häuser und die Zwangsumsiedlung ihrer Bewohner*innen unter israelischer Besatzung. Er erzählt aber auch von einer Hoffnung stiftenden Annäherung zwischen zwei Menschen. Bei der „Berlinale“ sorgte er für einen Eklat.
Immergutefilme
Aktivist und Journalist: Immer wieder nimmt Adra Basel Bulldozer ins Visier - und dabei große Gefahren auf sich.
Der Bulldozer hat ganze Arbeit geleistet. Vor wenigen Minuten stand hier, in den Hügeln nahe der Stadt Hebron im Westjordanland, noch ein Haus. Nun ragt nur noch ein Waschbecken aus den Trümmern empor. Die fassungslose Familie, die hier gelebt hat, findet Zuflucht in einer Höhle. Alltag unter israelischer Besatzung.
Dieser Alltag hat viel mit Unrecht und Willkür zu tun. Vier Filmemacher*innen aus Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten haben ihn eingefangen. Nicht, um objektiv darüber zu informieren, sondern um etwas anzuprangern, was meist fernab der Weltöffentlichkeit geschieht. „No Other Land“ ist ein Manifest von Künstler*innen, die zu Aktivist*innen geworden sind.
Zugleich handelt es sich um eine Langzeitdokumentation. Gut fünf Jahre lang hielt der Palästinenser Basel Adra mit seiner Handykamera fest, wie Baufahrzeuge Haus um Haus in seiner Gemeinde Masafer Yatta dem Erdboden gleichmachen. Irgendwann gesellten sich der israelische Journalist Yuval Abraham und weitere Mitstreiter*innen hinzu. Den Bulldozern und israelischen Armeeeinheiten immer dicht auf den Fersen, reisten sie durch Region, hielten, oftmals unter großer Gefahr, Rücksichtslosigkeit und Ohnmacht fest.
Amnesty International kritisiert „Kriegsverbrechen"
Aus Sicht der israelischen Regierung wurden die Gebäude, die vor der Kamera zu Schutthaufen werden, illegal errichtet. Vor vielen Jahren klassifizierte sie das Gebiet, in dem seit Generationen Menschen zu Hause sind, als Truppenübungsplatz. Tatsächlich geht es offenbar aber vor allem darum, die palästinensischen Siedlungen auszulöschen und die rund 1.800 Bewohner*innen zum Umzug zu zwingen. Amnesty International und UN-Menschenrechtsexpert*innen nennen dies ein Kriegsverbrechen.
Der Film liefert einige Belege für eine Strategie, die dem früheren Ministerpräsidenten Ariel Scharon zugeschrieben wird. Für sich spricht die Szene, in der ein palästinensisches Haus abgerissen wird, das sich in direkter Nachbarschaft zu einer offenkundig erst vor Kurzem errichteten israelischen Siedlung befindet. Schwer vorstellbar, dass Panzer ausgerechnet dort Trainingsgranaten abfeuern.
Derlei erschütternde Momente bietet „No Other Land“ reichlich. Mitunter sind sie schwer zu ertragen. Als wieder mal ein Bulldozer sein Tagwerk beginnt, bricht bei der nun obdachlosen Familie Panik aus. Es fallen Schüsse. Ein unbewaffneter junger Mann geht zu Boden. Von nun an ist er querschnittsgelähmt. Angehörige tragen ihn durch die Wohnhöhle. Kurz vor dem Ende der filmischen Erzählung, dem verheerenden Großangriff der terroristischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, erliegt er seinen Verletzungen.
Jedoch verströmt der Film auch zarte Anflüge von Hoffnung. Und zwar, indem er zeigt, wie zwischen zweien der Filmemacher, Adra und Abraham, eine Freundschaft wächst. Eine Freundschaft im beiderseitigen Bewusstsein, dass der Israeli und der Palästinenser im Grunde nicht viel mehr teilen als ihr Engagement gegen tägliches Leid. Es ist eine Freundschaft, die man sich auch in einem viel größeren Zusammenhang wünschen würde. Oder zumindest eine Annäherung.
Ausführlich wird der Alltag in Adras Familie dokumentiert, die ihrerseits viel Archivmaterial beigesteuert hat. Der Vater legte sich in jungen Jahren mit der Besatzungsmacht an und befindet sich bis heute in deren Visier. Sein 1996 geborener Sohn Basel tut es ihm gleich. Welche Risiken die beiden ausgesetzt sind, wird in der Dokumentation eindringlich vor Augen geführt.
Zwei Menschen aus zwei Welten
In welchem Kontrast zu diesem von Unfreiheit geprägten Dasein stehen dagegen die Möglichkeiten von Abraham, der jederzeit die Grenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten passieren kann! Genau das tat er erneut, um mit der israelischen Filmemacherin Rachel Szor, dem palästinensischen Kollegen Hamdan Ballal und Adra den Film in dessen Haus zu schneiden. Zudem half eine internationale Kooperation bei der Fertigstellung.
Trotz oder gerade wegen seiner aktivistischen Motivation liefert „No Other Land“ ungewohnte und vor allem eindringliche Einblicke in den Alltag palästinensischer Dorfbewohner*innen im Zeichen einer besonders schmerhaften Facette der israelischen Besatzung, dokumentiert aber auch den friedlichen Protest der Betroffenen gegen Zwangsmaßnahmen. Bei der diesjährigen „Berlinale“ wurde die norwegisch-palästinensische Produktion als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet.
Die israelkritischen Dankesreden von Adra und Abraham trugen dazu bei, dass sich die Filmfestspiele Antisemitismusvorwürfen ausgesetzt gesehen haben. Auch im von einer zunehmend polarisierten Stimmung geprägten Israel gab es Turbulenzen. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurde Abraham für seine Rede, in der er ein „Ende der Situation von Apartheid“ zwischen Israelis und Palästinser*innen forderte, scharf attackiert, er erhielt Morddrohungen.
All das unterstreicht, wie wichtig dieser trotz seiner Einseitigkeit nicht nur um Verständigung werbende, sondern auch Verständigung demonstrierende Film ist.
„No Other Land“ (Palästinensergebiete/Norwegen 2024), ein Film von Adra Basel, Abraham Yuval, Rachel Szor und Hamdan Ballal, 95 Minuten
Im Kino