Inland

80 Jahre Kriegsende: Warum das Erinnern an einem Kipppunkt steht

Wenn es um die Aufarbeitung der eigenen Gewaltgeschichte geht, gilt Deutschland oftmals als Vorbild. Doch aktuelle Studien zeigen: Die Distanz der Deutschen zur nationalsozialistischen Geschichte wächst. Eine gefährliche Entwicklung für die gesamte Gesellschaft

von Finn Lyko · 8. Mai 2025
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin

Holocaust-Mahnmal in Berlin: Trotz vieler erinnerungspolitischer Bemühungen wünschen sich wieder mehr Deutsche einen „Schlussstrich“ unter die Nazi-Zeit.

An sich ist die Forderung nach einem sogenannten „Schlussstrich“ unter die Zeit des Nationalsozialismus nichts neues – sie ist praktisch so alt wie die Bundesrepublik selbst. So forderte beispielsweise die FDP bereits auf Wahlplakaten zur ersten Bundestagswahl im Jahr 1949: „Schlussstrich drunter!“, ein Ende der Entnazifizierung in der BRD – und erreichte damit 11,9 Prozent.

Dann wuchs jedoch die erste Generation nach den Nationalsozialisten heran, und forderte erstmals mehrheitlich eine breitere Aufarbeitung der Gewaltverbrechen ihrer Eltern. Insbesondere im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert konnte dann manch eine*r den Eindruck bekommen, Deutschland habe es tatsächlich geschafft. Denkmäler wurden errichtet, Gedenkstättenbesuche integraler Teil jedes Geschichtsunterrichts, und Erinnerungskampagnen rund um Slogans wie „We Remember“ oder „Nie wieder ist jetzt“ Teil der Gesellschaft. Nun allerdings droht der Rückschritt.

Aktuelle Studien: Interesse an Erinnerungskultur nimmt ab

Laut der aktuellen „MEMO-Studie“ der Universität Bielefeld fordern beispielsweise 38,1 Prozent der Befragten einen „Schlussstrich“ unter die Zeit des Nationalsozialismus – und sind damit erstmals gegenüber den 37,2 Prozent, die einen solchen „Schlussstrich“ ablehnen, in der Mehrheit. Eine Umfrage im Auftrag der Wochenzeitung „Die Zeit“ kam zu einem ähnlichen Ergebnis.

Gleichzeitig zeichnete sich in der MEMO-Studie ebenfalls ab, dass auch die Lücken im Wissen über verschiedene Aspekte der NS-Zeit immer größer werden. Die Mehrheit der Befragten konnte beispielsweise bei Wissensfragen zu Opferzahlen keine konkrete Antwort nennen und gab an, wenig bis kein Wissen über die NS-Geschichte am eigenen Wohnort zu haben.

„Eine Schlussstrich-Mentalität ist leider bei einem Teil der Gesellschaft immer wieder anknüpfungsfähig“, beobachtet auch Frederik Schetter, Referent im Arbeitsbereich Erinnerungskultur, Antisemitismus und Gedenkstätten bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Dem müsse man begegnen, findet er, möglicherweise durch die Stärkung von Bildungsprojekten, möglicherweise auch auf neuen Wegen, wie der digitalen Aufbereitung von Zeitzeug*innenberichten. Deutschland verfüge über eine diverse Gedenklandschaft und viele interessierte Menschen. „Letztlich kommt es dann darauf an, dieses Interesse mit intelligenten Vermittlungsformaten abzuholen“, so Schetter.

Gelder gekürzt, Gedenkstätte vor dem Aus?

Doch Erinnerungskultur braucht Zeit, Personal und Geld. Insbesondere im letzten Punkt sind entsprechende Projekte meist von der Politik abhängig. Das jüngste Beispiel hierfür: Die KZ-Gedenkstätte Sachsenburg in der Nähe von Chemnitz. Im frühen Konzentrationslager wurden zwischen 1933 und 1937 politische Gegner wie Sozialdemokrat*innen, Gewerkschafter*innen und Kommunist*innen inhaftiert. Lange war es das einzige Konzentrationslager in Sachsen. Nach mehr als zehn Jahren der stockenden Planung sollte die KZ-Gedenkstätte in den kommenden Jahren fertig gestellt werden. Im sächsischen Landeshaushalt für 2025/2026 sind jedoch keine weiteren Gelder für den Ausbau der Gedenkstätte vorgesehen. Praktisch bedeutet das ab spätestens 2026 einen Baustopp – die Zukunft der Gedenkstätte ist damit mehr als ungewiss.

Doch Sachsenburg ist scheinbar kein Einzelfall. „Das Vorhaben, den Ausbau der Gedenkstätte nicht weiter zu fördern ordnet sich ein in die allgemeinen Kürzungen im erinnerungskulturellen Bereich“, heißt es in einer Pressemitteilung der Gedenkstätte Sachsenburg aus dem April 2025. Auch Frederik Schetter von der bpb meint: „Der Spagat zwischen langfristiger institutioneller Arbeit und einer eher kurzfristigeren Projektförderung ist für viele eine Herausforderung.“ Was also passieren könnte, wenn politische Kräfte wie die AfD an die Macht kämen, deren Funktionär*innen die deutsche Erinnerungskultur unter anderem als „Schuldkult“ bezeichneten, ist kaum abzusehen.

Die Zeitzeug*innen gehen – aber die Verantwortung bleibt

80 Jahre nach Kriegsende scheint die deutsche Erinnerungskultur an einem Kipppunkt zu stehen. Die zeitliche Distanz wächst, und mit ihr auch die emotionale Distanz. Bald werden auch die letzten Zeitzeug*innen verstorben sein. Um ein weiteres Vergessen aufzuhalten, braucht es eine Politik, die das Erinnern fördert und Menschen, die dieses Erinnern wollen. Warum das so wichtig ist, fasste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Rede im April dieses Jahres kurz zusammen: „Verantwortung kennt keinen Schlussstrich.“

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