Geschichte

80 Jahre Kriegsende: Welche Bedeutung der 8. Mai für Deutschlands Nachbarn hat

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Doch das offizielle Kriegsende hatte für die Menschen – je nachdem, in welchem Land sie lebten – eine unterschiedliche Bedeutung. Das wirkt bis heute nach.

von Raphael Utz · 8. Mai 2025
Weltkriegsgedenken am sowjetischen Ehrenmal in Berlin: Der Zweite Weltkrieg war nicht für jeden am 8. Mai 1945 vorbei.

Weltkriegsgedenken am sowjetischen Ehrenmal in Berlin: Der Zweite Weltkrieg war nicht für jeden am 8. Mai 1945 vorbei.

Der 8. Mai teilt die deutsche Gesellschaft in Lager: in diejenigen, die den Tag als Niederlage empfinden, und die anderen, die ihn als Befreiung betrachten. Bis heute aber dreht sich die immer wiederkehrende Diskussion eigentlich nur um die Deutschen selbst. Zum Ersten fehlen hier die Folgen eines Krieges, in dessen Verlauf etwa 230 Millionen Menschen in heute 27 europäischen Staaten unter deutscher Besatzung gelebt haben und die übergroße Mehrheit der wahrscheinlich 60 Millionen Toten Zivilist*innen waren. Zum zweiten ist aus der Perspektive der ehemals von Deutschland ganz oder in Teilen besetzten Länder der 8. Mai meist gar nicht das entscheidende Datum. 

Die Nachkriegszeit begann bereits im Sommer 1944

Dies beginnt mit der Doppelung der deutschen Kapitulation am 8. und 9. Mai im französischen Reims und in Berlin. Entstanden aus dem Bedürfnis der Sowjetunion, dass es eine eigene deutsche Kapitulation vor ihr geben sollte, kam es zur Wiederholung der Zeremonie in Berlin-Karlshorst. Dieser 9. Mai war insofern immer ein sowjetischer Tag, und er wurde nach dem Ende der Sowjetunion schrittweise von Russland für sich allein in Anspruch genommen. Er steht damit heute im Zentrum russischer Geschichtspolitik.

Aber in gewisser Weise begann die Nachkriegszeit in einem Großteil Europas bereits im Sommer 1944: Rom wurde am 4. Juni von amerikanischen und britischen Truppen erreicht, die Alliierten landeten am 6. Juni in der Normandie, im Osten zerschlug die Rote Armee die deutsche Heeresgruppe Mitte und erreichte am 22. Juli 1944 Lublin und damit auch den Lagerkomplex Majdanek. Am 25. August war Paris wieder frei.

Das Kriegsende brachte nicht allen die Freiheit

Diese chronologischen Unterschiede prägen das Gedenken und zum Teil auch die geschichtspolitischen Strategien in Europa bis heute. So veröffentlichte die Sowjetunion im Juli 1944 zahlreiche Fotos über Majdanek weltweit – zum Beispiel in der amerikanischen Illustrierten „Life“. Es waren die ersten Bilder, die Holzbaracken, Schuhberge, Verbrennungsöfen und zahllose Leichen zeigten. Interessanterweise aber hinterließen diese Bilder keinen besonders starken Eindruck im Westen.

Dies änderte sich erst im April 1945, als britische Truppen Bergen-Belsen erreichten und amerikanische Verbände Buchenwald. Dann war der Schock gewaltig. Deswegen nimmt Bergen-Belsen für die britische Öffentlichkeit bis heute einen besonderen Platz in der Erinnerung an den Krieg ein. Es war kein Zufall, dass die britische Königin Elisabeth II. 2015 die Gedenkstätte Bergen-Belsen besuchte – als einzigen solchen Ort jemals.

Dass man den sowjetischen Bildern aus Majdanek 1944 nicht traute, hatte allerdings noch andere und damals sehr aktuelle Gründe. Lublin im Juli 1944 war nicht nur die Entdeckung von Majdanek, sondern auch der Ort, an dem die sowjetische Armee die erste provisorische kommunistische Regierung für Polen einsetzte, während in London noch die polnische Exilregierung amtierte. Der Sommer 1944 und damit das Kriegsende stehen in vielen Ländern Osteuropas für diese ganz fundamentale Ambivalenz, nämlich dass die Befreiung von deutscher Besatzung keineswegs die Freiheit brachte.

Der Krieg ist nicht für alle vorbei

Diese Unterschiede zwischen Ost und West und deren Verstärkung im Kalten Krieg haben auch ihren Beitrag dazu geleistet, bestimmte Aspekte in den Hintergrund der deutschen Wahrnehmung treten zu lassen:

Zum Beispiel die Tatsache, dass die meisten Opfer des Zweiten Weltkriegs nicht im Zusammenhang mit Kampfhandlungen ums Leben kamen.

Zum Beispiel die Tatsache, dass der Holocaust kein Kriegsverbrechen, sondern ein Besatzungsverbrechen war.

Zum Beispiel die Tatsache, dass allein die Begriffe „im Krieg“ oder „unter deutscher Besatzung“ ganz unterschiedliche Erzählungen nach sich ziehen können.

Auch deswegen wird in Teilen der deutschen Öffentlichkeit nicht gesehen, dass der Krieg für die besetzten Länder bis heute nicht abgeschlossen und vorbei ist. Auf polnische oder griechische Reparationsforderungen wird inzwischen häufig nur noch mit blankem Unverständnis, dem Verweis auf das Völkerrecht oder der Aufrechnung deutscher Kriegsverluste reagiert. Bis heute erinnert der deutsche Umgang mit dem 8. Mai auch daran, dass sich viele ehemals besetzte Länder von Deutschland nach wie vor nicht verstanden und gesehen fühlen.

Die Interpretation der Vergangenheit gibt Hinweise für die Zukunft

Der russische Krieg gegen die Ukraine und Europa machen Vorhersagen über die Zukunft der Erinnerung naturgemäß noch schwieriger als sie es ohnehin wären. Auf der russischen Seite wird es beim geschichtspolitischen Imperialismus vor allem zu Lasten der Ukraine bleiben, auch, um die absurde Erzählung aufrechterhalten zu können, die ukrainische Bevölkerung habe ausschließlich aus „Nazis“ bestanden. Weiterhin vollkommen ausgeblendet wird in der russischen Erzählung der Hitler-Stalin-Pakt und die Kollaboration in den besetzten Gebieten Westrusslands.

Der aktuelle Wechsel der Vereinigten Staaten an die Seite Russlands, macht sich in ersten kleinen Veränderungen von Fokus und Reichweite des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg auch im Westen bemerkbar. Zum Beispiel: Der britische König hebt in einer Botschaft an das Commonwealth zum 80. Jahrestag des Kriegsendes genau den Beitrag und die Opfer dieser Staaten hervor – in diesem Fall Kanada. Es ist auch kein Zufall, dass die PiS-Partei in Polen durch die amerikanische Politik zwar vollkommen durcheinander ist, eine neue europäische Verteidigungsarchitektur gemeinsam mit Deutschland aber rigoros ablehnt – hier spielen die historischen Erfahrungen und deren beständig neue Instrumentalisierung nach wie vor eine Rolle. Sie könnten die Präsidentschaftswahlen im Mai zugunsten der Rechten entscheiden.

Auch der Blick nach Frankreich verspricht in diesem Zusammenhang keine Beruhigung. Die dortigen Rechten haben bereits klargestellt, dass der nukleare Schutzschirm Frankreichs keinesfalls auf andere Staaten ausgedehnt werden würde, sollten sie 2027 die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Die Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Kriegsendes 2025 werden uns über deren Interpretationen der Vergangenheit wahrscheinlich auch Hinweise auf die Zukunft Europas in der neuen Weltordnung geben.

Autor*in
Raphael Utz

ist Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für europäischen Diktaturenvergleich der Friedrich-Schiller-Universität Jena und stellvertretender Sprecher des Geschichtsforums beim Parteivorstand der SPD.

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