Geschichte

Holocaust-Gedenktag: „Den Ruf nach dem Schlussstrich gab es schon sehr früh“

Vor 80 Jahren wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit. Der Historiker Ernst Piper erklärt, was es für die Nazis so besonders machte und es für die Geschichtsforschung heute noch macht. Piper plädiert dafür, bei der Aufklärung über Antisemitismus nicht nur die Vergangenheit im Blick zu haben.

von Kai Doering · 27. Januar 2025
Lager Auschwitz Birkenau: Seinen Höhepunkt erreichte der industrielle Tötungsbetrieb im Juni 1944.

Lager Auschwitz Birkenau: Seinen Höhepunkt erreichte der industrielle Tötungsbetrieb im Juni 1944.

Auschwitz gilt heute als eine Art Symbol für den Holocaust. Welche Rolle spielte das Lager in der Maschinerie der Nazis?

Man muss grundsätzlich unterscheiden zwischen Konzentrationslagern und Vernichtungslagern. Konzentrationslager hat es bei den Nationalsozialisten von Anfang an gegeben. Mit Dachau ist im März 1933 das erste eröffnet worden, mit großem PR-Aufwand. Daneben gab es die Vernichtungslager, die natürlich erst ein Thema waren, als man mit der Judenvernichtung begonnen hat. Nach dem Überfall auf Polen wurden dort vier Vernichtungslager errichtet, in denen insgesamt etwa 1,8 Millionen Menschen ermordet worden sind.

Auschwitz war ein Sonderfall. Der Lagerkomplex bestand aus drei unterschiedlichen Teilen: dem sogenannten Stammlager, einem Quarantänelager in einer früheren polnischen, ursprünglich habsburgischen Kaserne, das Vernichtungslager Birkenau und Monowitz, wo es Fabrikationsanlagen verschiedener Rüstungsunternehmen gab und auch ein Konzentrationslager für Zwangsarbeiter, die dort arbeiten mussten. Ab 1943 gab es in Birkenau Gaskammern und Krematorien für die gezielte Massenvernichtung von Juden.

Seinen Höhepunkt erreichte dieser industrielle Tötungsbetrieb im Juni 1944, als in wenigen Wochen über 400.000 ungarische Juden ermordet wurden. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Gleis durch das Torhaus direkt in das Lager Birkenau gelegt, an dessen Ende die dritte Rampe war, die auf den bekannten Fotos zu sehen ist.

Warum wurde damals der Standort in Ostoberschlesien gewählt?

Dafür gab es mehrere Gründe. Manche vertreten die Auffassung, dass die IG Farben AG, die ein viertes Buna-Werk errichten wollte, diesen Standort präferiert hat. Dort gab es eine sehr gute Versorgung mit Wasserquellen und anderem, was für die Produktion gebraucht wurde. Der Standort hatte auch strategische Vorteile, gerade im weiteren Kriegsverlauf, denn man war dort lange Zeit ziemlich sicher vor Luftangriffen. Die britischen Bomber konnten zwar sehr schnell ins Ruhrgebiet fliegen, aber eben nicht so weit in den Osten. Die alliierten Luftangriffe in diesem Gebiet begannen deshalb auch erst mit der Landung der Alliierten in Italien. Ostoberschlesien war deshalb für die deutsche Rüstungsindustrie ein wichtiger Standort.

Ernst
Piper

Natürlich ist die NS-Geschichte wichtig und wird es auch bleiben. Aber mindestens ebenso wichtig sind aktuelle Themen wie der Kampf gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Intoleranz gegenüber Minderheiten.

Sie haben es bereits erwähnt: Es gab eine Reihe von Konzentrations- und auch Vernichtungslagern. Warum spielt Auschwitz in der Erinnerung heute eine so zentrale Rolle?

In den vier Vernichtungslagern Kulmhof, Belcez, Sobibor und Treblinka wurden bereits 1943 der Betrieb eingestellt, die Lager wurden eingeebnet. Von den Menschen, die dorthin kamen, hat so gut wie niemand überlebt. Es gibt kaum Zeugnisse über das Geschehen, die Lager sind weithin vergessen. In Auschwitz ist die Situation ganz anders. Der Lagerkomplex war bis unmittelbar vor der Ankunft der Roten Armee in Betrieb. Die meisten Gebäude standen noch, als die sowjetischen Soldaten kamen, es waren auch noch einige Tausend Häftlinge im Lager. Und es gibt heute eine Fülle von Büchern von Überlebenden, die in Auschwitz gewesen sind, wie z.B. Elie Wiesel, Imre Kertesz, Primo Levi oder Ruth Klüger, die unser Bild vom Holocaust geprägt haben.

Die Erinnerung an Auschwitz und den Holocaust insgesamt scheint dennoch zu verblassen. Beunruhigt Sie das?

Gerade wurden die Ergebnisse einer Umfrage der Jewish Claims Conference veröffentlicht, nach der selbst in Deutschland manche Menschen überhaupt nichts wissen über den Holocaust. Ich würde bei der Bewertung vorsichtig sein, denn die Fragestellung und -situation spielen dabei eine große Rolle. Manche Menschen kennen vielleicht das Fremdwort Holocaust nicht, haben aber durchaus etwas von Auschwitz gehört oder das Tagebuch von Anne Frank in der Schule gelesen. Ich finde ohnehin, man sollte in Sachen Aufklärung über Antisemitismus und Rassismus das Augenmerk nicht nur auf die Geschichte legen, sondern vor allem aktuelle Herausforderungen im Blick haben.

Ich bin seit über 30 Jahren aktiv im Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, einem nationalen Bildungsträger, der in diesem Bereich an führender Stelle aktiv ist. Mit den Jahren hat sich der Schwerpunkt unserer Arbeit immer mehr von „Gegen Vergessen“ auf „Für Demokratie“ verschoben. Natürlich ist die NS-Geschichte wichtig und wird es auch bleiben. Aber mindestens ebenso wichtig sind aktuelle Themen wie der Kampf gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Intoleranz gegenüber Minderheiten.

Ernst
Piper

Viele Menschen haben das Gefühl, dass die etablierten Parteien sie nicht wahrnehmen und sich nicht für ihre Belange interessieren. Diese Menschen sind leichte Beute für die AfD.

Die Zeitzeugen, die Lager wie Auschwitz selbst erlebt und vor allem überlebt haben, werden immer weniger. Ist das ein Problem für das Erinnern?

Nein. Es liegt in der Natur der Sache, dass irgendwann niemand mehr lebt, der dabei war. Es lebt ja auch niemand mehr, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, und trotzdem wissen wir sehr genau über die Geschichte dieses Krieges Bescheid. Die Überlebenden sind nicht für die Rekonstruktion der Realgeschichte zuständig. Sie können uns aber einen Eindruck von der Innenansicht des Geschehens vermitteln, was hier vielleicht besonders wichtig ist. Das Geschehen des Holocaust ist so ungeheuerlich, so unbegreiflich, dass es eine Hilfe sein kann, wenn es Menschen gibt, die uns sagen können: Das hat wirklich stattgefunden, wir haben es erlebt. Deshalb ist es ein Glück, dass es noch Menschen gibt wie Margot Friedländer, die 103 Jahre alt ist, oder Marian Turski, den 98j-ährigen Präsidenten der Internationalen Auschwitz Komitees.

Aber es gibt auch viele mediale Möglichkeiten, den Überlebenden zu begegnen. Allein die von Steven Spielberg gegründete Survivors of the Shoah Visual History Foundation hat mehr als 50.000 Videointerviews mit Holocaust-Überlebenden geführt. Es gibt hunderte von schriftlichen Zeugnissen, Spielfilme, Dokumentarfilme u.v.a. Es gibt etwa 1.000 Gedenkstätten, NS-Dokumentationszentren und andere Informationsmöglichkeiten, um sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen – auch dann, wenn der letzte Zeitzeuge eines Tages gestorben ist.

Mit der AfD gibt es inzwischen eine starke Partei, die die Erinnerung an die NS-Zeit und den Holocaust angreift und etwa von einem „Schuldkult“ spricht. Haben Sie Sorge, dass es irgendwann heißt: Wir müssen das jetzt endlich mal abhaken und einen Schlussstrich ziehen?

Den Ruf nach dem Schlussstrich gab es schon sehr früh nach dem Krieg. Die FDP hat diese Forderung schon bei der ersten Bundestagswahl 1949 erhoben. Damals ging es um die Strafverfolgung. Das Thema hat sich inzwischen erledigt, weil keine NS-Verbrecher mehr am Leben sind. Heute geht es eher um eine Umdeutung dieser Zeit, wenn Höcke etwa gegen „das Denkmal der Schande“ polemisiert. Aber die Klügeren in der Partei haben erkannt, dass dieser Rückgriff auf die NS-Zeit sie nicht weiterbringt. Sie versuchen stattdessen, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren, wenn etwa Alice Weidel behauptet, Hitler sei Kommunist gewesen. Das alles lenkt von der eigentlichen Agenda der eher AfD ab. Die AfD bekämpft man meines Erachtens am besten, wenn man auf ihre unsoziale Programmatik hinweist und selbst gute Politik macht. Im Moment gibt es eine Repräsentationslücke. Viele Menschen haben das Gefühl, dass die etablierten Parteien sie nicht wahrnehmen und sich nicht für ihre Belange interessieren. Diese Menschen sind leichte Beute für die AfD.

Der Gesprächspartner

Ernst Piper ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Sein Schwerpunkt ist die Zeit des Nationalsozialismus. 2018 veröffentlichte Piper eine Biografie über Rosa Luxemburg. Im Sommer erscheint bei der Bundeszentrale für politische Bildung Pipers Monografie „Auschwitz. Topographie der Vernichtung“.

Historiker Ernst Piper
Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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