Kultur

80 Jahre nach Hitler: „Ich dachte, wir hätten aus der Geschichte gelernt“

Deutschlands Demokratie ist 80 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft in Gefahr, warnt der Historiker Wolfgang Benz. Um sie wirksam zu verteidigen, müssten gerade junge Menschen gründlicher über die Verbrechen der Nazis aufgeklärt werden.

von Nils Michaelis · 18. März 2025
Holocaust-Mahnmal in Berlin

Gedenkort und Touris*innenattraktion mitten in Berlin: das Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Das zentrale Anliegen Ihres Buches besteht in der Forderung nach einer demokratisch engagierten Erinnerungskultur. Was muss sie leisten und was braucht sie?

Sie muss einem nachwachsenden Publikum immer wieder klarmachen und fest im Bewusstsein verankern, dass bestimmte ideologische Vorstellungen Irrwege waren, die nicht wiederholt werden dürfen. Neben demokratisch engagierten Lehrern sind gut ausgestattete Gedenkstätten gefragt. In beiden Bereichen sind wir heute besser aufgestellt als in den ersten 30 bis 40 Jahren nach 1945.

Es muss zur Grundausstattung an Schulen gehören, zu vermitteln, dass es zwölf Jahre in unserer Geschichte gegeben hat, die katastrophale Auswirkungen hatten, bis zum heutigen Tag. Gedenkstätten leisten auf diesem Gebiet gute Arbeit, Besuche von Schulklassen müssen allerdings gut vor- und nachbereitet werden. 

Wo wurde das Modell einer demokratischen Erinnerungskultur bereits in diesem Sinne umgesetzt? 

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ist ein gutes Beispiel. Dieses ist zu einem Ort höchsten Interesses geworden. Nicht nur, aber gerade Schulklassen lassen das Rätselhafte der Stelen auf sich wirken und informieren sich anschließend in dem unterirdischen Ausstellungsbereich über das, was geschehen ist. Nicht weniger wichtig und interessant sind aber authentische Orte wie die früheren Konzentrationslager Flossenbürg oder Buchenwald. Dort wurden die Menschen im Steinbruch zu Tode geschunden, dort standen sie Appell. Da lässt sich unglaublich viel erklären und vor allem verstehen. 

In Darmstadt wird eine andere Art von Erinnerungsarbeit praktiziert. Dort ist ein Lehrer abgestellt ins Staatsarchiv und die Schüler kommen in Scharen, um bei ihm Akten zu studieren. Er sucht eine Akte zur Lokalgeschichte des Nationalsozialismus heraus und spricht mit den jungen Besuchern darüber. Ich war verschiedentlich dabei, es funktioniert.

Was kann demokratische Erinnerungskultur im Kampf gegen rechts bewirken?

Sie kann und muss ein demokratisches Bewusstsein erzeugen und nach allen Seiten hin dafür werben. Unmissverständlich hat sie klarzumachen, dass autoritäre und diktatorische Systeme für die Menschen, die darunter leben müssen, entsetzlich sind. Und dass es keine Alternative zur freiheitlichen Demokratie gibt.

Der Experte

Der Historiker Wolfgang Benz zählt zu den bekanntesten Forscher*innen zum Nationalsozialismus in Deutschland. Von 1990 bis 2011 lehrte er an der Technischen Universität Berlin, dort leitete er das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Der 83-Jährige ist Mitglied im Beirat der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Sein neues Buch trägt den Titel „Zukunft der Erinnerung: Das deutsche Erbe und die kommende Generation“.

Der Historiker Wolfgang Benz

Ihr Buch legt nahe, dass Gedenkstättenarbeit mit politischem Engagement oder entsprechenden Aktionen einhergehen sollte. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Jens-Christian Wagner, hat vergangenes Jahr vor der Landtagswahl in Thüringen 350. 000 Bürger*innen per Brief vor der AfD gewarnt. Sehen Sie darin ein Vorbild?

Diese Aktion war richtig, sie ist aber ein Alleinstellungsmerkmal von Jens-Christian Wagner. So etwas lässt sich nicht übertragen. Das hätte in Sachsenhausen oder Neuengamme weder Sinn noch Wirkung, weil sich die AfD auf Buchenwald konzentriert. Andere Gedenkstätten sind keinem vergleichbaren Ansturm von rechts ausgesetzt. 

Sie loben die „Stolpersteine“, die vor Wohnhäusern von NS-Opfern verlegt werden. Wie andere Bereiche der Erinnerungskultur müsse auch  dieses Projekt auf einen neuen Stand gebracht werden. Was schlagen Sie vor?

Die „Stolpersteine“ stehen für eine wunderbare Idee des Erinnerns. Daraus ist mittlerweile aber eine Art Industrie geworden. Ich weiß nicht, ob man das Projekt weiterentwickeln kann, darf oder muss. Es hat seine Verdienste und damit ist es gut. Die heute 15-Jährigen, die in fünf oder zehn Jahren in gesellschaftliche Positionen einrücken, werden neue Formen der Erinnerung finden müssen, die ihrer Generation entsprechen, vor allem im digitalen Bereich oder in Comicformaten.

In dem Buch schreiben Sie auch, das Erinnern an den Hitlerstaat gehört zum Wesenskern der Demokratie. Wie steht es um die Demokratie in Deutschland, wenn das kollektive Erinnern Ihrer Ansicht nach so viele Baustellen aufweist?

Dass es um die Demokratie in Deutschland nicht gut steht, wissen wir leider. Als 83-jähriger Historiker empfinde ich dies als persönliches Unglück. Jahrzehntelang habe ich internationalen Journalisten auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten versichert, die deutsche Demokratie sei stabil. Ich dachte, wir hätten aus der Geschichte gelernt. Diese Überzeugung habe ich verloren. Wenn fast 20 Prozent der Wähler für die AfD stimmen, ist unsere Demokratie in Gefahr. Was der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke zum Umgang mit der NS-Geschichte von sich gibt, steht in krassem Gegensatz zur gewachsenen Erinnerungskultur und ist höchst gefährlich.

Wolfgang Benz

Wenn fast 20 Prozent der Wähler für die AfD stimmen, ist unsere Demokratie in Gefahr.

In diesem Jahr jährt sich das Ende des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal. Wie zufrieden sind sie mit den geplanten Formen des öffentlichen Erinnerns? 

Ich habe immer dafür plädiert, weniger kultische Veranstaltungen durchzuführen, sondern das Erinnern in den Alltag zu bringen und zufällige Entdeckungen zu ermöglichen. Es gab meinen Vorschlag, an Bus- oder Tramhaltestellen ein kleines Stück Geschichte zu vermitteln. Damit Menschen eine Antwort auf die Frage erhalten: Was ist hier in der Nähe passiert?

Welche Signale wünschen Sie sich vonseiten der Politik? Braucht es eine Rede wie seinerzeit von Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der den 8. Mai im Gedenkjahr 1985 als Tag der Befreiung bezeichnet und damit für großes Aufsehen gesorgt hat?

Ja, ich glaube schon. Ich würde es sehr begrüßen, wenn der 8. Mai nicht nur als Niederlage, nur als Ende des Krieges, als Beginn der Wiederaufbauzeit, verstanden würde, sondern als Beginn der Demokratie in diesem Lande. Dass das Jahr 1945 Befreiung, Erlösung, Neuanfang bedeutete, das erscheint mir die wichtigste Botschaft, die man jetzt zum 80. Jahrestag verkünden muss. Damals ging ein verbrecherisches System der Menschenverachtung mit Millionen Toten zu Ende. 

Das Buch
Wolfgang Benz: Zukunft der Erinnerung. Das deutsche Erbe und die kommende Generation, dtv, 240 Seiten, 20 Euro, ISBN : 978-3-423-28467-7

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