Verschwörungstheorien widersprechen: Warum wir jetzt mehr Beratungsstellen brauchen
Sie arbeiten in der außerschulischen Bildung zu Verschwörungsideologien und Antisemitismus. Gerade Straftaten mit antisemitischem Hintergrund haben im vergangenen Jahr um 13 Prozent zugenommen. Nehmen Sie diese Zunahme wahr?
Es gibt einen latent vorhandenen Antisemitismus in Deutschland, der in verschiedenen Studien immer wieder abgefragt wird. Was sich feststellen lässt, ist, dass Verschwörungsideologien, die sowieso schon antisemitische Chiffren mit verbreiten, besonders online stärker wahrnehmbar sind. Das mag auch Menschen dazu verleiten, ihrem Antisemitismus Handlungen folgen zu lassen. Aktuell im Rahmen der Corona-Krise zirkulieren Verschwörungsideologien, in denen ein starker Bezug zum Antisemitismus festzustellen ist.
Was haben diese Weltbilder gemeinsam?
Antisemitismus und Verschwörungsideologien personifizieren gesellschaftliche Verhältnisse, die eigentlich komplex und abstrakt sind. Beide weisen auf eine Personengruppe hin, die für das wahrgenommene Übel in der Welt verantwortlich gemacht wird. Im Fall des Antisemitismus sind es George Soros und die Familie Rothschild als Klassiker, die benannt werden. Zudem vermitteln sie ein manichäisches Weltbild: Sie teilen die Welt in Gut versus Böse ein und nutzen eine apokalyptische Rhetorik, um zu unterstellen, dass ein letzter Kampf zwischen diesen beiden Mächten unmittelbar bevorsteht. In dieser Erzählung scheint es fünf vor Zwölf zu sein und der Sieg des Bösen nahezu bevorzustehen. Deshalb sei es an der Zeit, Widerstand zu leisten. Diese Erzählung ist entscheidend für die Identitätskonstruktion und für Radikalisierungsprozesse.
In diesem Weltbild erwirbt ein Individuum seine Eigenschaften nicht durch verschiedenste Einflüsse, sondern aufgrund der Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe wird ihm eine Palette von Eigenschaften zugeordnet. Im antisemitischen Verschwörungsmythos gilt George Soros als böse, weil er als Jude geboren wurde, als Teil der vermeintlichen Welteliten gilt, und weil man auf ihn alles, was man negativ findet, projiziert.
Welchen Nutzen ziehen Menschen daraus, wenn sie an solche Erzählungen glauben?
Aus psychologischer Perspektive bringt es Entlastung. Ich muss mich nicht mehr mit Widersprüchen auseinandersetzen und kann Gewissheit in Zeiten von Ungewissheit erlangen. Das ist aktuell in der Corona-Pandemie besonders deutlich sichtbar. Wir alle wissen nicht, wann es einen Impfstoff geben wird. Gleichzeitig wachsen unsere Informationen darüber, wie ansteckend das Virus ist täglich, jüngst gab es etwa die Kontroverse über das Ansteckungspotential, das von Kindern ausgeht. Daran zeigt sich, das bestimmte Aussagen unter Umständen nur begrenzte Aussagekraft haben. Diese Ungewissheit muss ich manchmal aushalten.
Anhänger*innen von Verschwörungsideologien aber sagen, Christian Drosten ist Teil der Regierung und damit Teil des Bösen. Deshalb können alle seine Informationen nur falsch sein. Das entlastet mich, denn ich muss diese Informationen nicht überprüfen und kann mich aus einer Unsicherheit herausretten, denn ich weiß ja, wer die Guten und wer die Bösen sind. Konkret verändert das mein Leben, etwa indem ich die Existenz der Krankheit leugne oder meine, mich an keine Einschränkungen halten zu müssen. Im Zweifelsfall bekomme ich in verschwörungsideologischen Milieus, die sehr stark auch auf die Handlungsebene abzielen, Alternativen präsentiert. Das schafft Entlastung und gleichzeitig das Gefühl, einer Elite anzugehören, die genau weiß, wie die Welt funktioniert.
Wenn man wie Sie im Bildungsbereich tätig ist, wie geht man an diese Themen heran?
Wir arbeiten im primären und sekundären Präventionsbereich. Das heißt, wir informieren die Gesellschaft allgemein darüber, was überhaupt Verschwörungsideologien sind und was sie von real existierenden Verschwörungen unterscheidet. Wir machen deutlich, was der Unterschied ist zwischen Kritik und Verschwörungsideologie, denn die immunisiert sich gegen jede Form von Kritik. Das bedeutet, dass ich an sie auch mit dem Versuch eines Entlarvens, eines rationalen Widerlegens von Aussagen, nicht mehr herankomme.
Wir machen aber auch deutlich, dass in solchen Gesellschaftsvorstellungen nicht das Individuum im Mittelpunkt steht, sondern ein Mehrheitskonstrukt, nur ein ungeteilter ‚Volkswille‘ besteht. Minderheitenrechte sind darin nicht vorgesehen. Und mehr noch, Minderheiten werden für alles Übel in der Welt verantwortlich gemacht – ob ‚Eliten‘, ‚die Juden‘ oder Mitgrant*innen. Wären sie weg, würde in dieser Vorstellung das Volk nur noch eine einzige Überzeugung teilen und zwar die richtige. So funktionieren moderne Gesellschaften aber nicht, so funktioniert auch Demokratie nicht.
Lassen sich Menschen, die solchen Erzählungen folgen, mit rationalen Erklärungen überhaupt noch erreichen?
Die Frage, ob sich Menschen mit einem zunehmend geschlossenen Weltbild noch erreichen lassen, ist schwierig zu beantworten. Das hängt auch davon ab, wie sehr sie sich abkapseln von Menschen, die ihnen widersprechen. Herrscht eine gute Beziehung vor, in der auf Augenhöhe miteinander geredet werden kann, gibt es Hoffnung, dass sie Widerspruch zulassen können und sie ihr Weltbild überdenken. Vorausgesetzt, die Gespräche finden im privaten statt und nicht öffentlich, wo vielleicht ein Gesichtsverlust drohen könnte. Dabei ist es jedoch wichtig, menschenfeindliche Inhalte klar zu benennen.
Welche Verantwortung trägt die Politik, wie müsste sie ihrer Meinung nach mit der Zunahme antisemitischer Anfeindungen umgehen.
Es ist wichtig, immer wieder nach außen hin zu dokumentieren, dass Widerspruch notwendig ist und der Normalfall in einer liberalen Demokratie. Verschiedene Interessen treten in einen Wettstreit, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Nicht die alternativfreie Lösung, sondern Kritik ist der Normalzustand. Nicht sehr förderlich ist es, wenn große Koalitionen zur Normalität werden, weil dadurch die Opposition zunehmend aus dem Blickwinkel verschwindet.
Praktisch gesehen brauchen wir einen Ausbau von Beratungsstellen für Menschen, die von Verschwörungsideologien betroffen sind. In der Corona-Krise kontaktieren uns verstärkt Menschen in der Amadeu Antonio Stiftung, weil sie Beratung brauchen. Zum einen, wenn sie über die eigene Gruppe verbreitet werden und Anfeindungen existieren. Zum anderen, wenn im Bekannten-, Freundes- oder Familienkreis Menschen in dieses Milieu abzugleiten drohen.
Beratungsstellen braucht es aber sofort, nicht in der nächsten Legislaturperiode?
Auf jeden Fall. Wir wissen aus der Forschung, dass Krisen förderlich sind für Verschwörungsideologien. Das nehmen wir in unserer Beratungstätigkeit jetzt ganz konkret wahr. Da bereits absehbar ist, dass eine wirtschaftliche Krise der Pandemie folgen wird, lässt sich vermuten, dass auch dies Auswirkung auf die Verbreitung von Verschwörungsideologien haben wird. Jetzt wäre noch immer ein guter Zeitpunkt, um sich darauf vorzubereiten.
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Anmerkung der Redaktion: Auch wenn landläufig der Begriff Verschwörungstheorien benutzt wird, handelt es sich bei den hier im Interview angesprochenen Erzählungen um Verschwörungsmythen oder -ideologien, da sie wissenschaftlch nicht belegbar sind.
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.