Juso-Chef Philipp Türmer: „Die SPD braucht wieder eine klare Vision“
Die SPD muss den Menschen stärker vermitteln, dass sie eine Kraft der Veränderung ist, fordert Juso-Chef Philipp Türmer. Im Interview erklärt er, warum die Sozialdemokratie im Wahlkampf auf eine WG-Garantie setzt. Und was die Gesamt-Partei von den Jusos lernen kann, um junge Wähler*innen zu erreichen.
IMAGO / Chris Emil Janßen
Der Juso-Bundesvorsitzende beim Bundeskongress der Jungssozialist*innen in Halle (Saale) im November 2024.
Nachdem am 29. Januar ein Antrag der Union zur Migrationspolitik mit den Stimmen der AfD vom Bundestag beschlossen worden war, haben Sie erklärt, Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz habe sich für eine Koalition unter Demokrat*innen aus dem Rennen genommen. Ist ein erneutes Bündnis von Union und SPD damit vom Tisch?
Friedrich Merz hat mit seinem Verhalten nicht nur eine Koalition mit der SPD, sondern das Grundprinzip demokratischer Koalitionen insgesamt aufs Spiel gesetzt – also, dass man versucht, einen Kompromiss zu finden. Er hat das Gegenteil getan, als er versucht hat, die demokratischen Parteien zu erpressen. Die haben das zum Glück nicht mit sich machen lassen, aber die Demokratie hat daran schweren Schaden genommen. Nicht zuletzt der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Alexander Schweitzer, hat es bekräftigt, wie extrem sich dadurch die Ausgangslage für Merz nach der Wahl verschlechtert hat.
Läuft Deutschland Gefahr, auf österreichische Verhältnisse zuzusteuern – also, dass die Konservativen „aus Not“ ein Bündnis mit den Rechten eingehen, weil eine Koalition mit demokratischen Parteien nicht mehr möglich ist?
Das unterstellt, dass die Union die Wahlen gewinnt. Tausende Genoss*innen im ganzen Land geben gerade alles dafür, dass wir sie noch überholen.
Seit der Europawahl 2024, bei der besonders die AfD und kleinere Parteien bei jungen Menschen dazugewannen, geht es viel darum, wie auch die SPD diese Wählergruppe besser erreichen kann. Wie können die Jusos dazu beitragen?
Es ist Aufgabe der ganzen Partei, junge Menschen anzusprechen. Ich würde ja auch nicht sagen, dass es nur Sache der AG60plus ist, Politik für Senior*innen zu machen. Trotzdem nehmen die Jusos dabei natürlich eine besondere Rolle ein.
Wir versuchen, die Themen, die junge Menschen insbesondere betreffen, in den Vordergrund zu stellen – wie beispielsweise die Probleme auf dem Wohnungsmarkt, oder die Sorgen, dass man in Deutschland keine gute Zukunft mehr hat.
Wir wollen diese Probleme konkret adressieren. Deshalb fordern wir zum Beispiel eine Billion Euro an Investitionen, um dieses Land einmal von Grund auf zu sanieren. Und gegen die Wohnungsnot hat die SPD auf Initiative der Jusos hin die WG-Garantie im Wahlprogramm verankert. Auch gesellschaftlich wollen wir, wie so viele junge Menschen, dass es progressiv weitergeht.
Die CDU unter Friedrich Merz steht für eine absolut rückwärtsgewandte Gesellschaftspolitik – wir stellen uns dagegen und treten für Forderungen wie die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein.
Philipp
Türmer
Es ist Aufgabe der ganzen Partei, junge Menschen anzusprechen.
Apropos WG-Garantie: Damit wollen SPD und Jusos erreichen, dass Zimmer in Wohngemeinschaften maximal 400 Euro kosten. Das soll auch durch den verstärkten Bau von Wohnheimen und Wohnungen ermöglicht werden.
Die steigenden Wohnkosten sind eine soziale Krise, die junge Menschen am meisten betrifft. Sie leiden noch viel mehr als andere Alterskohorten unter den steigenden Mieten, inzwischen ist das für viele ein Grund, ihr Studium abzubrechen.
Die WG-Garantie soll aber nicht nur über den Neubau von Azubi- und Studierendenwohnheimen verwirklicht werden, sondern sie hat noch ein weiteres Element. Wir wollen zusätzlich eine Online-Plattform anbieten, auf der junge Menschen ihren Azubi-Vertrag oder ihre Studienbescheinigung gemeinsam mit ihrem Mietvertrag hochladen können. Die aktuelle Miete wird dann auf das zulässige Maß gemäß der Mietpreisbremse reduziert und die Differenz dieser neuen Miete zu den 400 Euro als Beihilfe an die Mieter ausgezahlt.
Würde das nicht zu lange dauern?
Ich denke, man könnte ein solches Instrument, wenn der politische Wille da ist, innerhalb eines halben Jahres starten. Es gibt bereits private Anbieter, die vormachen, wie einfach so etwas gehen kann.
Wäre auch Mietendeckel für studentisches Wohnen denkbar?
Tatsächlich bringt die WG-Garantie deutlich mehr für Studierende und Auszubildende als ein Mietendeckel. Denn wenn die Miete beispielsweise bei einem durchschnittlichen Neuvermietungspreis gedeckelt werden würde, wären wir da in Berlin, bei rund 640 Euro pro Zimmer – also über 400 Euro. Die WG-Garantie deckelt die Miete aus Sicht der Mieter, nicht aus Sicht der Vermieter.
Übrigens glaube ich auch, dass man einen Mietendeckel nicht nur auf Studierende oder Auszubildende beschränken könnte. Aber das ist eine rechtliche Frage – grundsätzlich spreche ich mich natürlich für einen Mietendeckel aus.
Auf Social Media liest man oft in Kommentaren, dass Menschen Angst haben, dass Vermieter*innen als Konsequenz der „WG-Garantie“ keine Wohnungen mehr an Studierende vermieten werden. Wie kann man dem entgegenwirken?
Mit den Fakten. Vermieter*innen fühlen sich dadurch angegriffen, dass sie sich künftig an die Mietpreisbremse halten müssen. An dieser Stelle möchte ich gerne alle Vermieter*innen darüber informieren, dass sie sich schon seit 2015 an die Mietpreisbremse halten müssen.
Wie Vermieter*innen in den letzten Jahren systematisch die schwächere Position von Studierenden und Auszubildenden auf dem Wohnungsmarkt ausgenutzt haben, ist einfach unanständig. Mit der WG-Garantie wird Studierenden und Auszubildenden die Durchsetzung der Rechte, die sie auch jetzt schon haben, erleichtert.
Ist die WG-Garantie nicht vor allem für die großen Uni-Städten ein Thema?
Bezahlbarer Wohnraum ist ein Thema, das natürlich in den großen Ballungsräumen besonders drängt. Inzwischen hat aber die Mietentwicklung eigentlich in jeder größeren Stadt ein Ausmaß erreicht hat, wo Studierende nicht mehr genau wissen, wie sie ihre Miete bezahlen können. Fast alle jungen Menschen, die von zu Hause ausziehen, sind davon betroffen. Deswegen ist die WG-Garantie eine so wichtige Lösung.
In verschiedenen Studien zum Wahlverhalten gaben junge Menschen immer wieder an, sich von der Politik nicht wahrgenommen zu fühlen. Wie erklären Sie sich das? Und welche Maßnahmen könnten das ändern?
Dass junge Menschen sich häufig nicht selbstwirksam, fast schon ohnmächtig fühlen, wenn sie mit Parteien und Politik konfrontiert sind, ist ein krasses Problem. Politisch ist das Bild bei jungen Menschen dann schon wieder etwas uneinheitlicher: Bei jungen Frauen lässt sich beispielsweise kein so starker Rechtsdrift beobachten, wie bei jungen Männern.
Meine feste Überzeugung ist, dass dieses Erstarken der rechtsextremen Parteien viel damit zu tun hat, dass insbesondere junge Menschen den Eindruck haben, dass die demokratischen Parteien ihnen nicht das Versprechen der Sicherheit – in jeglicher Hinsicht – geben, das sie sich wünschen. Das wurzelt meiner Ansicht nach nicht zuletzt in einer jahrzehntewährenden Sparpolitik, in der sich Staatlichkeit, Institutionen und öffentliche Daseinsvorsorge aus vielen Bereichen zurückgezogen haben.
Aber deshalb AfD wählen?
Nun wählt bestimmt kein junger Mensch AfD, weil der Bus zu spät kommt oder der Jugendclub schließen musste. Aber aus dem Gefühl, dass vieles vor Ort nicht funktioniert, entwickelt sich mit der Zeit eine grundsätzliche Ablehnung der demokratischen Parteien und Institutionen, die einen Nährboden für den Rechtsruck bildet. Die Glaubwürdigkeit, die hier verloren gegangen ist, muss wieder aufgebaut werden.
Gibt es dafür einen „Masterplan“?
Ich könnte jetzt sagen: Sozialismus (lacht). Das verlorene Vertrauen und die mangelhafte Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, wird Jahre dauern – das ist für uns eine dauerhafte Aufgabe. Meiner Ansicht nach klappt das nur, wenn wir als Sozialdemokratie wieder deutlicher für eine klare Gesellschaftsvision stehen. Also dass man das Gefühl hat, dass die SPD eine Kraft der Veränderung ist, und nicht des Status quo. Das muss man auf allen Ebenen untermauern: mit inhaltlichen Forderungen, mit Personal, mit der Art der Ansprache.
Die Jusos setzen sich unter anderem für eine Ausbildungsgarantie ein. Wie soll das umgesetzt werden?
Mit der Ausbildungsgarantie wollen wir sicherstellen, dass alle jungen Menschen überall, wo sie wohnen, auch einen Ausbildungsplatzangebot bekommen. Denn wir wissen, dass beispielsweise Menschen, die in Armut leben, häufig keinen Berufsabschluss in irgendeiner Art erlangen.
Teilweise wurde das bereits in der Ampel-Koalition verwirklicht. Aber es gibt noch einiges an Luft nach oben, dort wollen wir anknüpfen – beispielsweise durch die Umlagefinanzierung dafür sorgen, dass Unternehmen, die aktuell keine Ausbildungsplätze anbieten, mehr in die Verantwortung genommen werden.
Was kann die Gesamt-SPD von den Jusos lernen, wenn es darum geht, junge Wähler*innen zu erreichen?
Uns ist es in den letzten Jahren regelmäßig gelungen, wichtige Themen frühzeitig zu benennen, die im Laufe der Zeit eine größere gesellschaftliche Bedeutung bekamen – manchmal auch etwas früher, als es der SPD aufgefallen ist. Wir haben beispielsweise schon länger an der Schuldenbremse gesägt, weil sie so dringend notwendige Investitionen verhindert. Der Zustand unserer Infrastruktur, das Ende der Ampelkoalition und auch die aktuellen Forderungen der Partei haben uns da durchaus recht gegeben.
Auch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit waren für uns schon länger Thema, also dass man insbesondere die höchsten Einkommen und die höchsten Vermögen endlich gerecht besteuert. Wir freuen uns, dass die SPD das jetzt in ihrem Regierungsprogramm aufgegriffen hat. Insgesamt habe ich aber den Eindruck, dass es bei der Partei manchmal etwas zu lange dauert.
Philipp Türmer ist seit dem 17. November 2023 Bundesvorsitzender der Jusos.