Soziale Politik

Streichung von Paragraf 218: „Überwältigende Mehrheit in Deutschland dafür“

Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ausgesprochen. Was das konkret für Betroffene bedeuten würde und warum eine Abschaffung von Paragraf 218 längst überfällig ist, erklärt die SPD-Bundestagsabgeordnete Carmen Wegge im Interview.

von Finn Lyko · 15. Juli 2024
Eine große Mehrheit der Deutschen ist für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Zeit also, dass die Politik handelt, findet SPD-Bundestagsabgeordnete Carmen Wegge.

Eine große Mehrheit der Deutschen ist für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Zeit also, dass die Politik handelt, findet SPD-Bundestagsabgeordnete Carmen Wegge.

Warum sollte der  Paragraf 218 abgeschafft werden?

Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens, weil ein Schwangerschaftsabbruch nichts Unmoralisches ist. Eigentlich stehen in unserem Strafgesetzbuch nur Unwerte, also Dinge, die als so schlimm für die gesamte Gesellschaft erachtet werden, dass sie strafbar sein müssen. 

Ein Schwangerschaftsabbruch ist zwar eine schwierige Entscheidung für Frauen, er ist aber kein Unwert. Die Einstellung der Gesellschaft hat sich, was das angeht, klar geändert: 80 Prozent der Deutschen sind für die Entkriminalisierung der Frau. Der zweite Grund ist, dass die Strafbarkeit der Frau, und im Zweifel auch der Ärztinnen und Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen, dazu führt, dass die Versorgungslage aktuell katastrophal ist.

Inwiefern katastrophal?

Es gibt Regionen in Deutschland, zum Beispiel in Bayern, wo Frauen sehr lange nach Menschen suchen, die den Eingriff vornehmen, und oft über 100 Kilometer fahren müssen, um einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen zu können. In ganz Bayern gibt es – zumindest offiziell – nicht mehr als drei Ärztinnen und Ärzte, die den Schwangerschaftsabbruch durchführen. Zumal viele in den nächsten Jahren in Rente gehen werden. Wenn sich also jetzt nichts ändert, laufen wir in eine riesige Versorgungslücke hinein – denn der Schwangerschaftsabbruch ist der häufigste gynäkologische Eingriff, den wir in Deutschland haben.

Was würde sich durch eine Abschaffung von Paragraf 218 konkret für Betroffene und Ärztinnen oder Ärzte ändern?

Das ist nicht so einfach zu beantworten, denn die Frage ist ja, ob man den Paragrafen ersatzlos streichen oder ihn durch andere Regelungen ersetzen würde. Wenn wir uns aber darauf beschränken, was passiert, wenn die Strafbarkeit wegfällt, gehen wir davon aus, dass sich die Versorgungslage deutlich verbessern würde. Denn Ärztinnen und Ärzte haben bereits in einer Studie angegeben, dass die Strafbarkeit einer der Gründe ist, weshalb sie keine Schwangerschaftsabbrüche durchführen.

Außerdem sehen sogenannte „Lebensschützer*innen“ in der Strafbarkeit aktuell eine Legitimation, Ärzte, Ärztinnen und weiteres medizinisches Personal zu bedrohen. Das macht es für diese Menschen extrem schwer, den Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. 

Paragraf 219a – den wir zum Glück gestrichen haben – wurde dazu benutzt, Anzeige gegen Ärztinnen und Ärzte zu erstatten, es werden nach wie vor Hassmails versendet, und so weiter. Es ist wirklich schlimm. Dieses Strafrecht legitimiert so viel, weil damit dargestellt wird, dass ein Schwangerschaftsabbruch ein großer Unwert in der Gesellschaft sei – aber das ist einfach nicht so.

„Die Konservativen sind nicht bereit, Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen"

Man erhofft sich also mit dem Ende des Paragrafen auch ein Ende der Stigmatisierung?

Definitiv.

Im EU-Vergleich fällt auf, wie viel liberaler die Rechtslage in den meisten Ländern ist – wie erklären Sie sich das?

Deutschland hat in Europa tatsächlich eine der strengsten Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch. Ich denke, das liegt auch daran, dass Deutschland beispielsweise jahrelang in der großen Koalition gefangen war. 

Wenn man sich die Haltung der Konservativen hierzulande zu diesem Thema anschaut, muss man sagen, dass es da keine Bereitschaft gibt, Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, weil man damit einen vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens aufkündigen würde. Das sehe ich persönlich nicht so, die Befragungen geben das gar nicht her.

Was auch mit dazu beigetragen hat, dass wir in dieser Sache hinterherhinken, ist, dass die Kirche sich in dieser Frage sehr stark positioniert und zumindest, auch wenn das mittlerweile abnimmt, in den letzten Jahrzehnten immer noch einen großen Einfluss auf die Politik hatte.

Ein weiteres Argument, das von Konservativen in der Debatte um Paragraf 218 angeführt wird, ist, dass eine Abschaffung die Gesellschaft weiter polarisieren würde.

Ich denke nicht, dass da etwas dran ist. Die überwältigende Mehrheit in Deutschland ist dafür, Paragraf 218 zu streichen. Das hat man zum Beispiel auch an der Berichterstattung zu unserem Positionspapier oder zum Ergebnis der Regierungskommission zu diesem Thema gemerkt. Es ist eigentlich nicht wirklich attraktiv, darüber zu berichten, weil sich sowieso alle darüber einig sind. Deshalb bin ich mir sehr sicher, dass eine Streichung des Paragrafen nicht zu einer Polarisierung in der Gesellschaft führen würde.

Ich könnte mir vorstellen, dass das Thema dennoch große Relevanz für den Wahlkampf in Deutschland haben könnte. Wenn man zum Beispiel in die USA schaut, sieht man, dass es dort gerade eines der bestimmenden Themen im Wahlkampf zu werden scheint, wie mit Frauen und Schwangerschaften umgegangen wird.

„Sehr viele Abgeordnete werden für eine Neuregelung kämpfen"

Viele Menschen haben das Gefühl, dass zwar über eine Abschaffung des Paragrafen diskutiert wird, aber sich am Ende niemand in der Politik traut, das Thema tatsächlich anzupacken. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass Paragraf 218 nun wirklich abgeschafft wird?

Ich fände es extrem schade, wenn wir es nicht schaffen, das anzupacken. Schon meine Oma ist dafür auf die Straße gegangen, jahrzehntelang haben Frauen dafür gekämpft, dass das jetzt wirklich passiert. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns ja jetzt dazu positioniert, wie die Regelung eines Schwangerschaftsabbruchs aus unserer Sicht in Deutschland aussehen soll. Genau mit dieser Position gehen wir jetzt auf unsere Koalitionspartner zu – das ist das ganz normale Prozedere. 

Wenn wir auf diesem Wege nicht zusammenkommen, gibt es noch andere Instrumente, die man wählen könnte – parlamentarische Instrumente wie zum Beispiel ein Gruppenantragsverfahren. Aber so weit sind wir in dieser Sache noch gar nicht. Zunächst einmal reden wir mit Grünen und FDP.

Und was sind die konkreten nächsten Schritte?

Ich glaube, dass es sehr viele Menschen im Bundestag gibt – vor allem Frauen –, die sehr stark dafür kämpfen werden, dass wir noch in dieser Legislatur eine Regelung für Paragraf 218 hinbekommen werden. 

Zunächst ist es jetzt aber die Aufgabe der Bundesregierung, den Kommissionsbericht zu bewerten. Denn in diesem Bericht steht sogar schon, dass es möglicherweise verfassungsrechtlich geboten ist, etwas zu tun. Wenn man zu der Erkenntnis kommen würde, dass es hier einen verfassungswidrigen Zustand gibt, also Frauen verfassungswidrig ihre Rechte vorenthalten werden, dann ist das ein deutlicher Handlungsauftrag an die Bundesregierung.

Autor*in
FL
Finn Lyko

ist Volontärin in der vorwärts-Redaktion.

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