Historischer CHP-Sieg bei türkischen Kommunalwahlen: Denkzettel für Erdogan
Die säkulare CHP hat bei den türkischen Kommunalwahlen nicht bloß Istanbul und Ankara erneut erobert, sondern ist auch landesweit das erste Mal seit 1977 stärkste Partei. Für Erdogan ist das ein historischer Denkzettel – und ein Fingerzeig für einen neuen Politikstil.
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Große Freude bei den Anhänger*innen der Opposition: Die CHP hat die Kommunalwahlen in der Türkei gewonnen.
Die türkische Landkarte ist größtenteils in rot gefärbt. Diese Bild ist seit Sonntagabend in der Türkei in aller Munde, sorgt bei vielen für ungläubiges Staunen und Freudentränen. Bei den landesweiten Kommunalwahlen ist die sozialdemokratische CHP, Schwesterpartei der SPD, zum ersten Mal seit 1977 mit 37 Prozent als stärkste Kraft hervorgegangen. Die AKP von Präsident Erdogan landete nur auf dem zweiten Platz, ihre schwerste Niederlage seit der Machtübernahme 2002.
CHP-Siege in Istanbul, Ankara und AKP-Hochburgen
„Seit über 20 Jahren habe ich auf so etwas gewartet und nicht geglaubt das noch zu erleben!“ sagt ein 55-jähriger Maschineningenieur in Istanbul. „Ich bin so glücklich, eine neue Ära beginnt!“ strahlt eine 40-jährige Sekretärin ebenfalls aus Istanbul. Viele Türk*innen saßen am Sonntag bis tief in die Nacht wie elektrisiert vor den Fernsehern, andere feierten mit hupenden Autokorsos das Wahlergebnis.
Dass Metropolen wie Istanbul und Ankara diesmal erneut von der Opposition erobert werden, zeichnete sich bereits in Umfragen ab. Überraschenderweise gewann die CHP darüber hinaus viele weitere Städte in Anatolien, darunter konservative AKP-Hochburgen wie Bursa, Afyon, Adiyaman, Amasya oder Zonguldak. Insgesamt stellt sie nun die Bürgermeister*innen in 14 Großstädten 21 Städten und 337 Bezirken.
Erdogan spricht von einem „Wendepunkt“
In Istanbul gewann Ekrem Imamoglu mit deutlichem Vorsprung, kam auf über 51 Prozent der Stimmen, in Ankara kam der amtierenden Bürgermeister Masur Yavas sogar auf über 60 Prozent – fast 30 Prozent mehr als sein Herausforderer von der AKP. Die Erzählung, niemand könne Erdogan herausfordern, ist somit passe. Erdogan räumte die Niederlage seiner Partei bereits am Wahlabend ein: „Die Demokratie hat gesiegt“, verkündete der Staatspräsident diplomatisch. Er nannte das Wahlergebnis einen „Wendepunkt“ und versprach, die nötigen Lehren daraus ziehen.
Vor der AKP-Parteizentrale in Ankara herrschte am Wahlabend gähnende Leere. Vor dem Rathaus in Istanbul hingegen feierte Imamoglu um Mitternacht vor zehntausenden Anhänger*innen seinen Sieg. „Die Ära der Vormundschaft einer Person ist vorbei“, rief Imamoglu vom Dach seines Wahlkampfbusses in die euphorische Menge. „Republik und Demokratie sagen volle Kraft voraus!“, so der Bürgermeister. Das sind Worte, die weit über eine Kommunalwahl hinausgehen. Imamoglu, der schon seit Jahren als aussichtsreichster Herausforderer Erdogans für die Präsidentschaft gehandelt wird, hat sich mit dieser Wahl endgültig als nächster Präsidentschaftskandidat profiliert.
Ein Ergebnis, das über die Kommunalwahlen hinausreicht
Viele Oppositionelle Türk*innen hatten so ein Wahlergebnis eigentlich bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vor einem Jahr erwartet. Doch Erdogan konnte damals noch einen Sieg einfahren, seine Popularität ist bei seinen Anhänger*innen weiterhin groß. Seine Partei hingegen muss nun große Verluste einfahren. Daran ist auch Erdogan selbst Schuld: Statt politisch fähige, charismatische Kandidat*innen aufzustellen, bevorzugte er in vielen Städten wie Istanbul loyale Teknokrat*innen, die ihm politisch kaum gefährlich werden können. Gegen starke CHP-Kandidaten wie Imamolgu oder Yavas hatten sie keine Chance.
Zudem bekommt die AKP nun die Rechnung für ihre jahrelang verfehlte Finanzpolitik, die das türkische Volk derzeit mit einer immensen Hyperinflation ausbaden muss. Besonders Leidtragende waren in den vergangenen Monaten Renter*innen, deren Renten viel geringer stiegen als die Löhne. Viele von ihnen waren traditionell AKP-Wähler*innen – und haben diesmal anders entschieden oder sind der Wahl ferngeblieben.
Einen gewissen Erfolg konnte auch die islamisch-konservative „Neue Wohlfahrtspartei“ YRP einheimsen: Während sie im vergangenen Jahr noch im Bündnis mit Erdogans AKP antrat, forderte sie diese nun heraus. Die YRP holte landesweit knapp sechs Prozent der Stimmen und kann nun zwei Bürgermeister im Land stellen.
Die CHP mausert sich zur Volkspartei
Das Wahlergebnis ist auch ein gigantischer Sieg für den relativ neuen CHP-Chef Özgür Özel, der seit vergangenem Herbst die traditionsreiche Partei von Republikgründer Atatürk anführt. Ihm schlug anfangs viel Häme entgegen, man sprach ihm Moderationsgeschick und Führungsqualitäten ab. Doch Özel führte zum einen die Strategie seines Vorgängers Kemal Kilicdaroglus fort, auch auf konservative, religiöse Wähler*innen zuzugehen. Andererseits setzt Özel diesmal nicht auf ein breites Bündnis wie bei den vorangegangenen Wahlen, sondern ließ die CHP weitestgehend allein antreten. Das tat er auch aus der Not heraus: Seine Bündnispartner sagten sich nach der letzten Wahl von der CHP los – obwohl die CHP ihnen den Einzug ins Parlament ermöglicht hatte. Die Wähler*innen straften diese kleinen Parteien nun ab, sie alle versanken bei den Kommunalwahlen in der Bedeutungslosigkeit.
Die CHP hingegen, jahrzehntelang nicht mehr als 25 Prozent ergattern konnte, mausert sich zur wirklichen Volkspartei. In Zeiten der Inflation war ihre Sozialpolitik ausschlaggebend: In Istanbul und Ankara entwickelten die Stadtverwaltungen Hilfsprogramme für einkommensschwache Familien, verteilten kostenlos Milch und Brot, eröffneten günstige Mittagslokale und Kindergärten, ließen Mütter mit kleinen Kindern kostenlos den Nahverkehr nutzen. Das hat die CHP von ihrem alten Image befreit, nur die Partei der städtischen, säkularen Eliten zu sein.
Vorgezogene Parlamentswahlen sind unwahrscheinlich
Bemerkenswert ist auch, wie viele Frauen diesmal CHP-Bürgermeisterinnen geworden sind: Im konservativen Istanbuler Bezirk Üsküdar etwa, traditionell eine Hochburg der AKP und Wohnsitz von Erdogan, hat mit großem Vorsprung die 43-jährige Schiffsbauingenieurin Sinem Dedetaş gewonnen. Als vor Jahren noch die AKP Istanbul regierte, protestierte sie dagegen, dass die historischen Werften am Goldenen Horn in ein Einkaufszentrum verwandelt werden sollten. Die damalige AKP-Stadtregierung strafte sie dafür mit einem Zutrittsverbot zu den Werften ab.
Imamolgu dagegen machte sie nach seiner Amtsübernahme zur Chefin des Fährverkehrs, die Werften verwandelte Dedetas daraufhin in einen lukrativen städtischen Betrieb. Dass sie nun zur Bezirksbürgermeisterin Erdogans geworden ist, lässt in der Türkei vor allem Frauen jubeln, aber nicht nur sie. Dass man mit einer säkularen, ruhigen und fleißigen Kandidatin haushoch gewinnen kann, sollten allen türkischen Parteien eine Lehre sein.
Die gestrige Wahl könnte als Vertrauensvotum gegen Erdogan und seine AKP gelesen, doch vorgezogene Neuwahlen sind erstmal eher unwahrscheinlich. Bis zu den nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2028 ist noch viel Zeit. Doch in der türkischen Kommunalpolitik weht nun ein frischer, hoffnungsvoller Wind, sie kann ein Labor werden für einen neuen Politikstil. „Der Frühling ist angebrochen!“ rief Imamoglu gestern ins Mikrofon. Viele Türk*innen sind an diesem Montag tatsächlich voller Frühlingsgefühle.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.
Denkzettel für Erdogan
Sicher bedeutet dieses Wahlergebnis einen Denkzettel für Erdogan. Aber nach allen Erfahrungen mit diesem Despoten wird er sich nicht mit diesem Wahlergebnis abfinden und vor allem auch alles versuchen, seine nächsten Wahlen zu gewinnen und eine Präsidentschaft von Ekrem Imamoglu zu verhindern. Man erinnere sich an den noch immer ungeklärten Putschversuch im Sommer 2016, der m.E. von Erdogan selbst inszeniert wurde, um einen Teil seiner Gegner von ihren Ämter zu entfernen oder sogar verhaften zu lassen.
Zustimmung, und ein Hinweis sei gestattet
Die Wahlergebnisse, also die Zustimmungswerte für Erdogan sind und wären auch heute noch andere, wenn auch die außerhalb der Türkei lebenden Türken an der Wahl hätten teilnehmen können. Erdogan lebt auch in der Türkei von der Zustimmung der Auslandstürken