Kommunalwahl in der Türkei: Warum die CHP Grund zur Hoffnung hat
Am Sonntag finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. In Istanbul könnte der oppositionelle CHP-Bürgermeister Imamoglu erneut gewinnen. Zünglein an der Waage dürften die kleinen Parteien werden.
imago | zuma wire
Hofft auf eine zweite Amtszeit als Istanbuler Bürgermeister: Ekrem Imamoglu
Die Wahlplakate der Spitzenkandidaten sind so riesig wie noch nie, schmücken ganze Hochhausfassaden. Auf Plätzen im ganzen Land dröhnen Werbevideos der Parteien, bunt beklebte Wagen mit Lautsprechern auf dem Dach posaunen heitere Wahlsongs durch die Straßen. Doch die Bürger*innen, die in den vergangenen Wahlkämpfen so leidenschaftlich diskutierten, welcher Kandidat das Rennen macht, sind diesmal verstummt.
Die Menschen in der Türkei haben andere Sorgen: Die Hyperinflation bricht neue Rekorde, lag im vergangenen Monat bei offiziell 67,07 Prozent gegenüber dem Vorjahr und in Wirklichkeit wohl weit höher. Oppositionellen Türk*innen sitzt immer noch die knappe Wahlniederlage des vergangenen Jahres in den Knochen. Statt aus ihren Fehlern zu lernen, hat sich die Opposition verkracht, und auch die Oppositionsführerin CHP, Schwesterpartei der SPD, war im vergangenen Jahr vor allem mit internen Fehden und Machtkämpfen beschäftigt, statt auf die Nöte der Menschen zu hören. Viele Bürger*innen haben das Gefühl, dass sie gar keine richtige Wahl mehr haben.
Alle Augen sind auf Istanbul gerichtet
Das spiegelt sich auch in den Zahlen der freiwilligen Wahlbeobachter*innen: Während die Organisation „Oy ve Ötesi“ für die Parlaments- und Präsidentschaftswahl noch 200.000 freiwillig Wahlbeobachter*innen mobilisieren konnte, sind es für die jetzigen Kommunalwahlen bisher nur 30.000 Freiwillige. Zwar stellen auch die Parteien eigene Wahlbeobachter*innen auf, doch oftmals reichten die nicht aus. Immer wieder gab es Gerüchte um punktuellen Wahlbetrug. So wird die Wahsicherheit auch diesmal von entscheidender Bedeutung sei, insbesondere in Städten, wo ein knapper Wahlausgang erwartet wird.
Dabei sind alle Augen auf Istanbul gerichtet: Der oppositionelle Bürgermeister Ekrem Immaoglu (CHP) liegt laut aktueller Umfragen teils sehr knapp, teils deutlich vor seinem Konkurrenten von Erdogans AKP, dem Ex-Bauminister Murat Kurum. Erdogan hatte in den vergangenen Wochen alles aufgefahren, um Kurum zum Sieg zu verhelfen: Die überwiegend regierungsnahen Medien berichten rund um die Uhr über Kurums Programm. Weil sich Kurum als wenig charismatischer und wortgewandter Kandidat entpuppt hat, wird er bei seinen Kundgebungen von hochrangigen Ministern und zuletzt sogar von Erdogan selbst unterstützt, eine Veranstaltung jagt die nächste. Auf Wahlplakaten prangt Erdogan neben Kurum – als trete in Wirklichkeit der Präsident gegen Imamoglu an.
Die AKP mit ihren eigenen Waffen schlagen
Bei einer Massenkundgebung am vergangenen Sonntag ließ Erdogan allerdings durchblicken, dass es nicht ganz so läuft wie erträumt. Er klagte darüber, dass „nur“ 650.000 Menschen gekommen seien, anstatt wie sonst mehr als doppelt so viel. Beobachter*innen halten selbst die Zahl 650.000 für übertrieben und bemerkten, dass viele Anhänger*innen noch vor dem Ende von Erdogans Rede den Platz verließen. Erdogan mahnte an die Menge, dass Parteianhänger*innen in den kommenden Tagen unsichere Bekannte und Verwandte anrufen und von der AKP überzeugen sollten.
Oberbürgermeister Imamoglu versuch derweil, die AKP mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Auf Bildschirmen in Istanbuler U-Bahnen und Bussen werden pausenlos die Projekte der Stadtverwaltung angepriesen: der Ausbau des Nahverkehrs, neue Kindergärten und Studentenwohnheime, günstige Lokale für Geringverdiener*innen, zahlreiche neue Museen und Kulturzentren.
In den aufwändig produzierten Spots kommt Imamoglu oft zu Wort. Eigentlich eine fragwürdige Propagandamethode, wird sie doch auf Kosten der Stadt betrieben. Erdogans AKP bediente sich jahrelang genau dieser Methode und wurde dafür von der Opposition harsch kritisiert. Für Imamoglu ist sie allerdings eine der wenigen Möglichkeiten, gegen die Erdogan-treuen Massenmedien anzukommen. Die versuchen ihn mit allen Mitteln als polemischen, faulen und untalentierten Bürgermeister zu diffamieren.
Ein Video könnte Imamoglu zum Verhängnis werden
Zum Verhängnis könnte Imamoglu zuletzt ein in den sozialen Medien viral gegangenes Video werden, das CHP-Vertreter und auch Vertraute Imamoglus 2019 in einem Büro zeigt, wie sie Berge von Bargeld zählen. Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen, die CHP erklärt, mit dem Geld sei damals die Istanbuler Parteizentrale angekauft worden. Für Erdogan und seine Massenmedien ist es hingegen ein gefundenes Fressen, um Imamoglu und die CHP mit Schwarzgeld und Korruption in Verbindung zu bringen.
Erschwerend kommt für Imamoglu hinzu, dass er anders als 2019 diesmal nicht von einem breiten Oppositionsbündnis getragen wird. Die kurdennahe DEM (zuvor HDP) oder die nationalistische Iyi-Partei haben eigene Kandidat*innen aufgestellt. In Umfragen kommen diese nur auf wenige Prozentpunkte, doch im Zweifelsfall könnten das wichtige Punkte sein, die Imamoglu zum Sieg fehlen.
Sollte es Immaoglu jedoch gelingen, trotz all dieser Hindernisse zu gewinnen, wäre das für ihn ein immenser Sieg. Er würde sich einmal mehr als nächster Präsidentschaftskandidat profilieren und seine Partei CHP hätte sich auch ohne die Hilfe anderer Parteien als starke Kraft erwiesen. Spannend wird es darüber hinaus in weiteren Großstädten: Ankara und Izmir dürften erneut an die CHP fallen, kritisch wird es hingegen in Hatay, Antalya oder Adana. Dagegen hat die CHP durchaus Chancen, die wichtige Industriemetropole Bursa der AKP zu entreißen.
Eine islamisch-konservative Partei könnte Zünglein an der Waage werden
In Istanbul könnte schließlich eine islamisch-konservative Partei Erdogan wichtige Punkte streitig machen: die „Erneute Wohlfahrtspartei“ YRP von Fatih Erbakan, Sohn des einstigen islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, Erdogans politischem Ziehvater. Im vergangenen Jahr trat die YRP noch im Bündnis mit Erdogan an, doch diesmal hat sie in Istanbul überraschend einen eigenen Kandidaten aufgestellt. Sie hat insbesondere die grassierende Inflation erfolgreich zu ihrem Thema gemacht, ist vor allem in religiösen und einkommensschwachen Stadtteilen aktiv. Zudem gilt sie als Sammelbecken für ultrareligiöse Protestwähler*innen, denen Erdogans Haltung in der Gaza-Frage nicht weit genug geht. Sie könnten am Sonntag das Zünglein an der Waage sein.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.