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Türkei: Hat Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu Chancen gegen Erdoğan?

Das türkische Oppositionsbündnis hat nach heftigem Streit den sozialdemokratischen CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu zu ihrem Präsidentschaftskandidaten ernannt. Er will das Land versöhnen und in eine gestärkte parlamentarische Demokratie führen.
von Kristina Karasu · 7. März 2023
Fans hat er in der Türkei: Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu auf einem Plakat in Ankara am 06.03.2023
Fans hat er in der Türkei: Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu auf einem Plakat in Ankara am 06.03.2023

Kemal Kılıçdaroğlu (75) ist in vielen Punkten das genaue Gegenteil von Erdoğan: ein kleiner, ruhiger, humorvoller Mann, ein verdienter Ökonom und Bürokrat, dazu Mitglied der alevitischen Minderheit. Seine Kritiker*innen höhnen, ihm fehle die Strahlkraft, das Durchsetzungsvermögen und das Charisma Erdoğans – seine Anhänger*innen hingegen loben ihn für seine moderate und beharrliche Art sowie sein sozialdemokratisches Profil.

Als er am Montag in Ankara vor die jubelnde Menge trat, zitterte seine Stimme, er musste seine Rede von Karten ablesen, seiner Frau neben ihm traten Tränen in die Augen. „Jetzt beginnen wir“, rief er und versprach eine versöhnliche, friedfertige Regentschaft sowie ein Ende des autoritären Präsidentschaftssystems. In Deutschland hätte ein Politiker seiner Art vermutlich beste Chancen, gewählt zu werden. In der Türkei dagegen, in der meist starke Führerfiguren aus dem konservativen Spektrum gewannen, wäre ein alevitischer Präsident mit dem Charisma eines fleißigen Bürokraten ein absolutes Novum.

Die Türkei erlebte einen politischen Thriller

Dies mag der Grund sein, warum die Türkei in den vergangenen vier Tagen einen Politthriller erlebte: Am vergangenen Donnerstag einigten sich fünf Parteien des Sechser-Oppositionsbündnisses darauf, Kılıçdaroğlu gegen Erdoğan antreten zu lassen. Doch Meral Aksener von der Mitte-Rechts orientierten iyi-Partei nannte Kılıçdaroğlu nicht mehrheitsfähig – wohl auf Druck des nationalistischen Flügels ihrer Partei.

Sie schlug den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu oder den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, als aussichtsreichere Kandidaten vor. Beide sind ebenfalls von der CHP und durchaus beliebt, allerdings nationalistischer geprägt als Kılıçdaroğlu. Einen von ihnen aufzustellen wäre für den CHP-Chef jedoch riskant: Das jeweilige Bürgermeisteramt würde dann an Erdoğans AKP fallen, da sowohl in Ankara als auch in Istanbul die AKP eine Mehrheit im Stadtparlament hält.

Die Rechnung ohne die Wähler*innen gemacht

So blieben Kılıçdaroğlu die vier anderen Bündnisparteien treu. Aksener verließ wütend den Tisch, erhob am nächsten Tag schwerste Vorwürfe gegen das Bündnis. Der Traum von Versöhnung zwischen sechs Parteien aus einem breiten politischen Sektrum schien für einen Moment geplatzt.

Doch Aksener hatte die Rechnung ohne ihre Wähler*innen gemacht. Viele nahmen ihr den Schritt äußerst übel, 17.000 Menschen traten aus ihrer Partei aus, in den sozialen Medien wurde sie teils heftig beschimpft. Die beiden Bürgermeister erklärten sich zudem solidarisch mit Kılıçdaroğlu. Nach einem Wochenende voll intensiver Diplomatie zwischen den Parteien kehrte Aksener gestern an den Tisch zurück. Ihre Bedingung: Die beiden Bürgermeister sollten stellvertretende Präsidenten werden. Das wurde unter gewissen Voraussetzungen akzeptiert.

Erleichterung, aber auch Skepsis

Viele Wähler*innen sind nun erleichtert, dass nach monatelangen Spekulationen endlich ein Kandidat feststeht, sehen Kılıçdaroğlu gestärkt. Ein 66-jähriger Rentner aus Istanbul hofft, dass Erdoğan jetzt abgewählt wird: „Wir haben Besseres verdient. Diese Willkürherrschaft, diese Lügen-Regierung muss endlich ein Ende haben.“

Bei anderen Wähler*innen hat der Streit einen faden Beigeschmack hinterlassen, erinnert an die unendlichen Querelen der chaotischen Koalitionsregierungen der 1990er-Jahre. So erklärt eine Wählerin anonym: „Angesichts des schweren Erdbebens ist es respektlos gegenüber den Opfern und Hinterbliebenen, das wir uns tagelang mit so etwas aufgehalten haben.“

Das Erdbeben wird die Wahl bestimmen

Tatsächlich geht die Türkei durch schwere Zeiten. Die verheerenden Erdbeben Anfang Februar in der Südosttürkei haben mindestens 46.000 Todesopfer gefordert, hunderttausende Gebäude sind zerstört, ganze Städte ausgelöscht. Viele Betroffene werfen der Erdoğan-Regierung vor, viel zu spät und viel zu unkoordiniert Hilfen ins Katastrophengebiet geschickt zu haben. So entsandte die Regierung etwa das Militär erst sehr spät in die betroffenen Regionen, vermutlich aus Angst vor einem Putsch – und riskierte damit den Tod tausender Menschen, die lebendig unter den Trümmern begraben in Eiseskälte auf Hilfe warteten.

Das Erdbeben wird das bestimmende Thema in diesem Wahlkampf sein. Erdoğan versprach rasch, er wolle die Region innerhalb eines Jahres wieder aufbauen – während heute, über einen Monat nach dem Beben, noch immer viele Menschen dort auf Zelte warten. Das Image des starken Staates unter Erdoğan hat Risse bekommen. Doch ihm bleiben noch 70 Tage bis zu den Wahlen Mitte Mai, dieses Bild wieder zu kitten. Der Oppositionsstreit kommt ihm da wie gelegen: Er und seine Propagandamedien präsentieren das Bündnis und seinen Kandidat*innen nun als unfähigen, zerstrittenen Haufen, dem es an einer starken Hand fehle, die Türkei durch diese Krise zu führen.

Kurd*innen spielen entscheidende Rolle

Dabei haben sich Kılıçdaroğlus CHP, insbesondere seine Bürgermeister*innen und ihre Stadtverwaltungen, in der Erdbebenregion von Anfang an unermüdlich und mit großer Kraftanstrengung engagiert. Wenn es Kılıçdaroğlu zudem gelingen sollte, außerdem einen sinnvollen Plan zum Wiederaufbau der Region zu präsentieren, wäre damit viel gewonnen.

Die kurdennahe HDP hat gestern Abend bereits signalisiert, Kılıçdaroğlu unterstützen zu wollen, vorausgesetzt, er würde auf sie zukommen. Würden die Anhänger*innen der ganzen Opposition ihn unterstützen, wäre rein rechnerisch ein Wahlsieg Kılıçdaroğlus sehr wahrscheinlich.

Zurück zur parlamentarischen Demokratie

Sein Versprechen ist ohnehin, nur übergangsweise als Super-Präsident zu regieren. Nach einer maximal zweijährigen Übergangsphase zum parlamentarischen System wolle er nur noch als repräsentatives Staatsoberhaupt regieren. Ob es seinem Bündnis gelingt, dies dem unentschlossenen Teil der Wählerschaft zu erklären, das angesichts von Erdbeben, Inflationskrise und wachsender Armut auf schnelle Lösungen hofft, werden die nächsten Wochen zeigen.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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