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Türkei: Was die Rekordinflation für die Menschen im Land bedeutet

In der Türkei stürzt die Lira weiter auf ein Rekordtief nach dem anderen. Die Unsicherheit erschüttert die sonst so krisenerprobten Menschen des Landes. Nun sucht jede*r nach Wegen, den Alltag mit der Inflation zu meistern.
von Kristina Karasu · 17. Dezember 2021
Der Kursverfall der türkischen Lira ist dramatisch. Die Wechselkurse ändern sich derzeit im Sekundentakt.
Der Kursverfall der türkischen Lira ist dramatisch. Die Wechselkurse ändern sich derzeit im Sekundentakt.

Es ist schon fast Abend, aber hinter dem Stand von Markthändler Ali türmen sich noch immer Säcke mit grünen Bohnen. Viel zu wenig hat er heute auf dem Markt im Istanbuler Viertel Acibadem verkauft, wie schon so oft. „Und dabei haben wir unsere Preise in den letzten Monaten kaum erhöht“ sagt der Händler. „Die Menschen haben einfach kein Geld mehr in der Tasche.“ Er macht die Erdogan-Regierung für die derzeitige Währungskrise verantwortlich. „Das sind doch alles Diebe, die unser Land verscherbelt haben!“ macht er seiner Wut Luft.

„Das sind doch alles Diebe, die unser Land verscherbelt haben“

Am Nebenstand pickt eine alte Damen die besten Stücke aus einem Haufen grüner, schon leicht verschrumpelter Paprika. Sie erhält die gesetzliche Mindestrente von 1.625 türkischen Lira monatlich. Anfang 2021 war das noch 180 Euro wert, heute am Ende des Jahres sind es nur noch 91 Euro (Stand 17. Dezember). „Natürlich kann man damit nicht über die Runden kommen“ sagt sie unwirsch. „Deswegen kaufe ich halt diese Paprika, die kosten nur die Hälfte.“

250 Kilometer westlich in der Stadt Edirne nahe der griechischen und bulgarischen Grenze können sich Märkte und Geschäfte dagegen kaum vor Kund*innen retten. Seit einigen Wochen strömen vor allem Griech*innen und Bulgar*innen in die Stadt, um wie verrückt einzukaufen. Für sie ist es durch den Kursverfall in der Türkei so billig wie nie. Kiloweise kaufen sie Tomaten und Baklava, tütenweise schleppen sie T-Shirts, Tischdecken und Schuhe nach Hause.

In Istanbul stürmen vor allem saudiarabische Tourist*innen die Läden von Luxusmarken wie Gucci und Prada. Ausländer*innen mit Euros oder Dollar in der Tasche leben in der Türkei derzeit wie König*innen, während die türkische Unter- und Mittelschicht kaum über die Runden kommt. Wer kann wechselt sein Erspartes in Dollar, Euro oder Gold. Vertrauen in die heimische Währung besitzt kaum noch jemand.

Während eine kleine Elite profitiert, leiden die Massen

Doch wie in jede Krise gibt es nicht nur Verlierer*innen, sondern auch Gewinner*innen. Türk*innen, die ein großes Vermögen in Fremdwährungen besitzen, können derzeit ohne großen Aufwand immer reicher werden. Manchmal reicht es aus, im richtigen Moment über seine Handy-App Dollars in türkische Lira zu wechseln und umgekehrt. Andere kaufen Neuwagen, parken sie einige Wochen in der Garage und verkaufen sie dann mit enormem Gewinn. Die Nachfrage nach Immobilien ist riesig, denn es lohnt sich derzeit, einen Kredit aufzunehmen: die Zinsen liegen mit 14 Prozent deutlich niedriger als die derzeitige Inflation von offiziell 21 Prozent.

Nach ökonomischen Regeln müsste die türkische Zentralbank derzeit den Leitzins erhöhen, doch Erdogan fordert genau das Gegenteil. Das treibt Werteverfall und Inflation weiter in die Höhe. Während eine kleine Elite davon profitiert, leiden die Massen. Dabei sind die eigentlich Erdogans Kernwählerschicht.

Kündigungen um jeden Preis vermeiden

Selbst die Baubranche, einst Motor des Landes, ist in großen Schwierigkeiten. Die meisten Baustoffe sind dollarbasierte Importwaren, deren Preise derzeit explodieren. „Mein Angebot von heute ist morgen schon ungültig“ klagt Architektin Selvi Coskun, die im Istanbuler Zentrum ein Büro mit sechs Angestellten betreibt. Vor allem langfristige Projekte bergen ein großes Risiko: Monate zuvor unterschriebene Verträge sind kaum noch einzuhalten. Immer öfter kürzt sie am eigenen Honorar, um die Projekte doch noch zu verwirklichen. „Von Gewinn kann derzeit kaum die Rede sein“ berichtet sie. „Ich versuche bloß um jeden Preis, niemandem zu kündigen.“ Vielen in der Branche gehe es derzeit ähnlich.

Schlimmer als Währungskrise 2001

Ähnliche Sorgen umtreibt ein Händler für Heimtextilien im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Er verkauft durchweg heimische Produkte, doch selbst die seien mittlerweile dollarbasiert. In seinem Laden prangen noch die alten Preise an Kissen und Handtüchern, er weiß kaum, wann und wie er sie erhöhen soll. Er zeigt auf eine Handyapp, die die Wechselkurse anzeigt. Sie ändern sich im Sekundentakt. „Wenn ich Ware nachbestellen will, schauen die Firmen auf diese App, berechnen den Lira-Preis und dann muss ich umgehend bezahlen“, erklärt der Händler.

Manche Firmen gehen sogar noch weiter. „Gerade habe ich mit einer Firma telefoniert, die wegen des Währungschaos ihren Verkauf gestoppt und alle Mitarbeiter bis Anfang Januar in unbezahlten Urlaub geschickt hat“, berichtet der Händler. Er ist entsetzt, was derzeit in seinem Land passiert. Selbst die enorme türkische Währungskrise von 2001 sei nicht so schlimm gewesen, sagt er. Damals trat die Regierung zurück und machte den Weg frei für Erdogans AKP. Viele im Land glauben nun, dass Staatspräsident Erdogan die jetzige Krise politisch nicht überleben wird. Die nächsten Wahlen sind für 2023 angesetzt. „Doch bis dahin ist er nicht mehr im Amt“ ist in Istanbul ein derzeit geflügelter Satz.

„Es gibt immer noch zu viele Menschen, die an Erdogan glauben“

Bohnenverkäufer Ali auf dem Markt in Acibadem ist nicht ganz so optimistisch. „Es gibt immer noch zu viele Menschen, die an Erdogan glauben“, glaubt er. Und selbst ein Regierungswechsel würde noch längst kein Ende der Krise bedeuten, vermutet Ali.

Am Abend packt er seine Bohnen wieder in den Transporter. Zuhause wird er sich umziehen und dann seine zweite Schicht beginnen. Er spielt das traditionelle Zupfinstrument Saz in wechselnden Lokalen der Stadt. Auch das sei kaum noch einträglich: zu wenige Besucher*innen, zu wenig Trinkgeld. Er tut es trotzdem: „Irgendwie müssen wir ja über die Runden kommen“, sagt er. Vor Jahrzehnten sind seine Verwandten nach Deutschland ausgewandert. Heute sehnt er sich danach, es ihnen gleichzutun.

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Anmerkung: In der Zwischenzeit hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan in einer Rede den Schutz der Währung und ein Maßnahmenpaket gegen den Wertverfall angekündigt. Daraufhin erholte sich der Kurs der Lira zunächst wieder, hat aber nach den Turbulenzen der vergangenen Wochen noch nicht wieder ihren alten Wert erreicht.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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