Wahl in der Türkei: Große Enttäuschung bei der Opposition
IMAGO/ZUMA Wire
Erschöpft wachten viele Türk*innen an diesem Morgen auf; viele hatten erst gar nicht geschlafen. Schon gestern um 17 Uhr schlossen in der Türkei die Wahllokale – doch erst in den frühen Morgenstunden zeichnete sich ein verlässliches Ergebnis ab. Erdoğan, hat laut vorläufigen Ergebnissen 49,25 der Stimmen erzielt; sein größter Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu kam auf knapp 45,05 Prozent.
Für die Opposition ein herber Schlag
Sollte es dabei blieben, geht die Präsidentschaftswahl in die zweite Runde. Im Parlament erzielte Erdoğan Bündnis schon gestern die absolute Mehrheit. Für die Opposition ist das ein herber Schlag. Auf Istanbuls Straßen gibt es heute kein anderes Thema als die Wahlen. Viele regierungskritische Türk*innen schauen fassungslos auf die Ergebnisse, hatten sie doch große Hoffnungen, dass ihr Land diesmal für einen klaren Wechsel stimmt.
„Ist unser Gesellschaft tatsächlich so ungebildet und blind?“, fragt sich der Besucher eines Mittagslokals im Istanbuler Satdtteil Sisli. Aber auch Regierungsanhänger*innen sind kaum euphorisch. „Unser Präsident hätte über 70 Prozent der Stimmen bekommen müssen, erzielte aber nur eine hauchdünne Mehrheit. Schande über uns, unsere Nation hat so einen Mann nicht verdient“, schrieb etwa eine glühende Erdoğan-Anhängerin am Morgen auf Twitter.
Die staatliche Nachrichtenbehörde Anadolu zeigte bei ersten Hochrechnungen zunächst Erdoğan weit vorne, doch mit der Zeit schrumpfte der Vorsprung. In oppositionsstarken Ortschaften legten AKP-Anwälte massenhaft Beschwerden ein, ließ man die Urnen sechs oder gar elf Mal auszählen und verzögerte damit systematisch die Ergebnisse.
Hoher Stimmenanteil für Erdoğan im Erdbebengebiet
Vertreter*innen des Oppositionsbündnisses traten vor die Kamera, appellierten an ihre Wahlbeobachter*innen, die Urnen keinesfalls zu verlassen. Noch bevor ein offizielles Ergebnis vorlag, trat Erdoğan in Ankara vor seine Anhänger*innen, ließ sich feiern – räumte aber auch ein, dass es höchstwahrscheinlich in die zweite Runde gehe. In diese Runde geht er mit einem klaren Vorteil – fehlt es ihm schließlich nur an wenigen Stimmen für eine Mehrheit.
Zudem wird er erneut reichlich Staatsmittel für seinen Wahlkampf ausnutzen und kann auf die Unterstützung von über 90 Prozent der Massenmedien zählen. Mit deren Hilfe diffamierte er Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu systematisch als Terror-Helfer, weil er von der kurdennahen Partei HDP unterstützt wurde. Erdoğans Wähler*innen glaubten ihn. Zudem fruchtete seine Strategie, Kılıçdaroğlu als ungläubig und religionsfeindlich darzustellen.
Während die Opposition eine Rückkehr zur Demokratie versprach und die immense Hyperinflation und Währungskrise zu ihrem Top-Thema machte, protze Erdoğan mit Kamfpdronen und Elektroautos made in Türkiye, verkündete Gas- und Erdölfunde, versprach großzügige Wahlgeschenke für alle. Besonders bemerkenswert ist der hohe Stimmenanteil, den Erdoğan und seine Partei in der Erdbebenregion erzielten.
Wer erhält die Stimmen des Nationalisten Sinan Ogan?
Nach den verheerenden Beben am 6. Februar wurden sie noch harsch für unzureichende Katastrophenhilfe und mangelhafte Baukontrollen kritisiert. Doch Erdoğans unrealistisches Versprechen, die Region innerhalb von einem Jahr wieder aufbauen zu wollen, zeigte in der ohnehin regierungsnah geprägten Region starke Wirkung.
Fraglich ist nun, wer in der zweiten Wahlrunde am 28. Mai die Stimmen des dritten Kandidaten Sinan Ogan erhalten wird. Der bekennende Nationalist kam auf knapp über 5 Prozent der Stimmen mit dem Versprechen, alle Flüchtlinge innerhalb von sechs Monaten abzuschieben, die Werte des Republikgründers Atatürks wiederherzustellen und hart gegen die PKK vorzugehen.
Für ihn stimmten vor allem Protestwähler*innen. Er selbst hält sich noch offen, wen er in der zweiten Runde unterstützen wird. Für Kılıçdaroğlu ist es nun ein Wagnis, um Ogans Gunst zu werben. Würde er ihm allzu nationalistische Zugeständnisse machen, könnte er damit die Stimmen vieler Kurd*innen verlieren, die gestern mit überwältigender Mehrheit für Kılıçdaroğlu gestimmt hatten.
Die Türkei ist gespalten
Zudem muss er sein Sechser-Bündnis aus ideologisch sehr unterschiedlichen Parteien zusammenhalten. Schon jetzt werden in sozialen Medien Stimmen laut, die anzweifeln, ob der Bund aus Säkularen, Nationalisten, Islamisten und zwei einstigen Weggefährten Erdoğans tatsächlich eine gute Idee war oder ob der Alevit Kılıçdaroğlu letztlich doch der falsche Kandidat war.
Erdoğan hat es da wesentlich einfacher: seine Partei steht geschlossen hinter ihm. Er kann weiter auf seine bewährte Methode setzen, sich als starker Führer zu präsentieren. Die Türkei erwartet zwei weitere Wochen Wahlkampf, obwohl die Wählerschaft schon jetzt erschöpft ist.
Dabei gibt es so dringende Probleme im Land, deren Lösung keinen weiteren Tag aufgeschoben werden dürfte: die rasende Inflation und grassierende Armut, die prekäre Lage in der Erdbebenregion und die Abwanderung der Jugend. Eines hingegen steht bereits fest: das Land ist zweigeteilt, und wird es auf lange Zeit bleiben.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.