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Nach Assads Sturz: Erdogan will in Syrien Schlüsselrolle spielen

Der Machtwechsel in Syrien hat für die Türkei große Konsequenzen. Für Staatschef Recep Tayyip Erdogan wird sich jetzt zeigen, ob sich sein jahrelanges militärisches und politisches Engagement im Nachbarland ausgezahlt hat.

von Kristina Karasu · 13. Dezember 2024
Syrer feiern Erdogan

Nach dem Sturz von Syriens Diktator Bashar al-Assad feiern syrische Geflüchtete in der Türkei Staatschef Recep Tayyip Erdogan.

In Ankara geben sich derzeit Weltpolitiker die Klinke in die Hand: am heutigen Freitag kam US-Außenminister Antony Blinken, am Montag wird EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwartet, auch Bundeskanzler Olaf Scholz telefonierte diese Woche bereits mit Erdogan. Sie alle umtreibt die Einsicht: Beim Thema Machtwechsel in Syrien führt kein Weg am türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vorbei. 

Die Türkei marschierte mehrmals in Syrien ein

Wenige Länder haben sich seit Anfang des Bürgerkrieges so beharrlich in den Konflikt eingemischt wie die Türkei. Die syrische Opposition hat ihren Sitz in Istanbul, Ankara unterstützte seit über einem Jahrzehnt vor allem islamistische Rebellen in Syrien mit Waffen und Know-how. Die Türkei marschierte mehrmals ins Nachbarland ein und kontrolliert zusammen mit der von ihnen unterstützten „Syrischen Nationalen Armee“ (SNA) seit Jahren einen Streifen im Norden des Landes. 

Zeitweise mehr als vier Millionen syrische Flüchtlinge nahm die Türkei auf, so viele wie kein anderes Land auf der Welt. Trotz zuletzt großem Widerstand aus der eigenen Bevölkerung beharrte Erdogan darauf, die Flüchtlinge zu beherbergen. Das kann sich jetzt für ihn auszahlen. Viele dieser Syrer*innen sind Erdogan dafür dankbar, er kann auf eine türkeifreundliche Bevölkerung und Regierung in Syrien hoffen. Sollte außerdem eine große Zahl von Flüchtlingen in ihre Heimat zurückkehren, würde ihm das auch innenpolitisch enorm zugutekommen.

Russland und Iran ziehen geschlagen vom Platz

„Selbstbewusst, entschlossen und geduldig hat die Türkei ihre Ziele erreicht“, erklärte Erdogan Anfang dieser Woche. Während Russland und Iran geschlagen vom Platze ziehen, scheint die Türkei vorerst der große Gewinner. Doch ganz so einfach ist die Gemengelage nicht.

Zum einen ist noch unklar, welche Beziehungen die Türkei zu den neuen Machthabern hegt. Die islamistische Miliz Hajat Tahrir al- Sham (HTS), die in rasender Geschwindigkeit Damaskus erobert hat, steht anders als die „Syrische Nationale Armee“ (SNA) nicht unter direkter Kontrolle der Türkei. „Sie hat Entscheidungsmechanismen, die unabhängig von der Türkei sind“, erklärt die türkische Journalistin Hediye Levent, die seit Jahren aus Syrien und der Region berichtet, auf ihrem YouTube-Kanal. In der Vergangenheit habe es sogar vereinzelt Angriffe von HTS-Einheiten auf die SNA gegeben. 

Die Türkei als Garantie-Macht

Andererseits startete die HTS ihren jüngsten Vormarsch von der Region Idlib aus, wo die Türkei seit 2018 als Garantie-Macht fungiert. „Es ist unmöglich, dass sie diesen Schritt ohne das Wissen der Türkei gegangen ist“, meint etwa der türkische Ex-Diplomat Aydin Sezgin auf dem Portal T24. Schließlich habe die Türkei in Idlib Tausende von Soldaten stationiert, auch der türkische Geheimdienst ist dort sehr aktiv.

Dass Ankara allerdings gerne mehr Einfluss auf die HTS hätte, lässt sich zwischen den Zeilen aus einem Artikel des regierungsnahen Kolumnisten Abdulkadir Selvi in der Zeitung Hürriyet herauslesen: „Dieser Erfolg ist nicht nur ein Sieg der HTS oder von al-Dscholani. Es gibt die Türkei, Erdogan und die Syrische Nationale Armee, die seit 13 Jahren kämpfen und dafür sogar die Einsamkeit in Kauf genommen haben. Die Zukunft Syriens ist zu wichtig, um sie allein der HTS und al-Dscholani zu überlassen“, so der Kolumnist.

Die Rolle der Kurdenfrage

Die ebenfalls regierungsnahe Journalistin Nagehan Alci schrieb aus Syrien, vor Ort würde nun die Syrische Nationale Armee die Geheimdienstarbeit übernehmen. Passend dazu war gleich am Donnerstag der türkische Geheimdienstchef Ibrahim Kalin in Damaskus eingetroffen – es soll wohl nichts dem Zufall überlassen werden. 

Ein weiterer Knackpunkt ist für Erdogan die Kurdenfrage. Die Türkei ist strikt gegen die autonomen kurdischen Gebiete im Nordosten von Syrien, sieht die dort operierenden Syrian Democratic Forces (SDF) als Ableger der PKK. Immer wieder attackiert die Türkei das Gebiet mit Drohnenangriffen, laut Menschenrechtsorganisationen starben dabei bislang auch Zivilisten. 

Erdogan: Syrien muss geeintes Land bleiben

Die von Ankara unterstützten Rebellen nutzten die Gunst der Stunde und rückten in den letzten Tagen immer weiter auf kurdisch gehaltene Städte vor allem westlich des Euphrats vor. Erdogan betonte in seinen Reden der letzten Tage immer wieder, Syrien müsse ein geeintes Land bleiben, er dulde dort keine Terrorist*innen, weder den IS noch die PKK. Hier droht ein neuer Dauerkonflikt.

Gestern ließ die autonome kurdische Selbstverwaltung die neuen syrischen Flaggen mit drei roten Sternen hissen – eine Geste, dass man sich als Teil des neuen Syriens begreife. Außerdem einigten sich HTS und SDF in den letzten Tagen auf einige Gebietsabtretungen. Im besten Fall dürfte es auf einen Kompromiss hinauslaufen, auch wenn sich Erdogan derzeit wenig kompromissbereit gibt. 

Kurd*innen  halten Gebiete mit den größten Ölvorkommen des Landes

Letztlich wird es vor allem ums Geld gehen: Die Kurd*innen  halten Gebiete mit den größten Ölvorkommen des Landes. Beim Besuch des US-Außenministers in Ankara stand das Thema syrische Kurden daher ganz oben auf der Tagesordnung. Die USA sind Verbündete der SDF im Kampf gegen den IS. Allerdings sind die Tage der jetzigen US-Regierung gezählt, und Trump erklärte jüngst, er wolle sich in Syrien nicht einmischen. Erdogan könnte das gelegen kommen.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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4 Kommentare

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Mo., 16.12.2024 - 11:04

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Nun ist Assad gestürzt und in Syrien ist m.E. ein Machtvacuum.
Wie schon gewohnt nach dem Sturz von Sadam Hussein oder Ghadafi hören wir Statements von westlichen Politikern zu rosigen Zukunft Syriens. Aber genau das, teilweise im gleichen Wortlaut, hörten wir auch zu Zukunft des Irak oder Libyens. Die Geopolitik gebietet natürlich die Rosafärbung, aber ist das auch alles gut für die Menschen dort ?
Also ich bleibe zuerst mal auf Distanz zu den weichgespühlten Islamisten.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Di., 17.12.2024 - 19:11

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Der unerwartete „Arabische Frühling“ zwang zur grenzenlosen Freude des Westens in Ägypten den langjährigen Staatspräsidenten Husni Mubarak zur Aufgabe seiner Macht. Als dann aber eine freie Wahl Ende 2011 und Mitte 2012 die Muslimbrüder an die Macht brachte und ihren Parteivorsitzender Mohammed Mursi zum Präsidenten machte, war der Westen heilfroh, dass ein Militärputsch dem unerwarteten, legalen Gottesstaat ein Ende machte. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass auch in Syrien ein Gottesstaat droht.

Alle engeren wie weiteren Nachbarn wollen Einfluss nehmen auf die Entwicklung in Syrien – das ist ein geopolitischer Imperativ. Für „große Akteure“ gilt gar, dass sie „die Fähigkeit und Bereitschaft zur Führung von Pazifizierungsoperationen in der Peripherie“ besitzen müssen (Herfried Münkler: „Blätter …“ 10(2021)66).
Kristina Karasu zeigt eindrucksvoll, dass sich dort derzeit viele „Weltpolitiker die Klinke in die Hand geben“, EU und BRD eingeschlossen.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Di., 17.12.2024 - 19:15

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Sie wollen den Iran und Russland beerben, die „geschlagen vom Platze ziehen“ und eine schwere strategische Niederlage hinnehmen mussten. Ein Akteur, den der Aufsatz nicht einmal erwähnt, versucht sogar ganz massiv seine Sicherheitsinteressen dauerhaft zu sichern, indem er die militärische Infrastruktur Syriens zerbombt und die strategisch wichtigen Golanhöhen zu besiedeln und damit zu annektieren versucht – die pflichtschuldig vorgebrachten Einwände seiner westlichen Werte-Partner ignorierend.

Die strategischen Interessen am Nachbarn haben immer eine allgemein-politische und eine sicherheitspolitische Dimension, nicht selten kommt noch das schnöde Interesse an, wie hier, Bodenschätzen hinzu. Da ein Staat meistens mehrere Nachbarn haben, können die Interessen zweier Nachbarn an einem dritten so gegensätzlich sein, dass sie sich zu einem Konfliktfeld auftürmen, das in einen Krieg mündet, wenn sich die Nachbarn nicht auf einen Ausgleich ihrer Interessen einigen können.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Di., 17.12.2024 - 19:17

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Der Gaza- und der Ukraine-Krieg sind akute Beispiele dafür. Demokratien sollten keine Interessen an anderen Staaten haben, die so unabdingbar sind, dass sie den Ausgleich mit den Interessen eines dritten erst in einem Krieg finden können.

Hoffentlich lässt sich das neue Syrien friedlich aufbauen.