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Türkei: Was hinter der Absetzung von drei Bürgermeistern steckt

In der Türkei wurden drei gewählte Bürgermeister*innen der säkularen CHP und der prokurdischen DEM durch Zwangsverwalter ersetzt. Dabei hatte Erdogans Bündnis erst kürzlich Hoffnung auf einen Friedensprozess mit der kurdischen PKK gemacht. Was steckt hinter dem Manöver?

von Kristina Karasu · 6. November 2024
Proteste in der Türkei

Nach der Entlassung der Bürgermeister*innen in den Städten Mardin, Batman und Halfeti kam es in der Türkei zu Demonstrationen

Türkischen Bürger*innen, die die Nachrichten der letzten Wochen verfolgten, wurde schwindelig – so viele waghalsige Manöver absolvierte die heimische Politik. Mitte Oktober schlug ausgerechnet Präsident Erdogans ultrarechter Bündnispartner Devlet Bahceli von der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) aus heiterem Himmel einen neuen Friedensprozess mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor. Er plädierte gar dafür, dass der seit 1999 inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan vor der türkischen Nationalversammlung sprechen solle. Nur einen Tag darauf sorgte ein Terroranschlag auf Fabrik der türkischen Luft- und Raumfahrtindustrie (Tusas) in der Region Ankara mit vier Todesopfern für Entsetzen. Die Terroristen seien PKK-Mitglieder gewesen, erklärte die Regierung und startete neue Angriffe auf PKK-Stellungen in Syrien und im Irak.

Demonstration gegen Zwangsverwaltung

Eine Woche später wurde der kurdische Bürgermeister des Istanbuler Stadtteils Esenyurt wegen angeblicher Terror-Vorwürfe abgesetzt und durch einen Zwangsverwalter ersetzt, er gehört zur Republikanischen Volkspartei CHP. Damit nicht genug, folgte am Montag die Absetzung der Bürgermeister*innen der drei kurdisch geprägten Städte Mardin, Batman und Halfeti. Das Innenministerium erklärte, gegen sie liefen Prozesse wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Terrorpropaganda. 

Alle drei gehören der prokurdischen Partei für Gleichheit und Demokratie des Volkes (DEM) an, wurden erst in diesem Frühjahr mit überwältigender Mehrheit gewählt. In ihrem Städten regieren nun ebenfalls Zwangsverwalter. In Istanbul ebenso wie im Südosten gingen tausende Menschen dagegen auf die Straße. Özgür Özel reiste prompt nach Mardin, CHP und DEM protestierten gemeinsam gegen die Zwangsverwalter-Politik. Zugleich wiederholte MHP-Chef Bahceli seinen Vorschlag, Öcalan freizulassen. Und Erdogan? Er schweigt bisher zu den jüngsten Vorkommnissen.

Alles Taktik zum Machterhalt? 

In türkischen Teehäusern, Wohnzimmern und Uni-Campus rätseln die Menschen nun, was das alles bedeuten soll. Möglich sind mehrere Szenarien: zum einen könnte es sein, dass verschiedene Kräfte in Regierung und Staat gegeneinander arbeiten und die Friedensbemühungen der einen Seite von anderen Mächten torpediert werden. Möglich aber auch, dass hinter den Ereignissen eine wohl organisierte Zuckerbrot- und Peitschen-Taktik steckt, wie der Journalist Murat Yetkin auf seinem Blog Yetkin Report vermutet.

Erdogan strebt eine neue Verfassung an, die ihm eine erneute Wiederwahl ermöglicht. Bisher fehlt ihm jedoch im Parlament die dazu nötige Zweidrittelmehrheit. Mit der Aussicht auf einen neuen Friedensprozess scheint er nun die Zustimmung von Kurdenpolitiker*innen zu erlangen. Zugleich kann man die Absetzung der gewählten Bürgermeister*innen als Drohung an die DEM lesen, Erdogans Bedingungen zu akzeptieren.

Friedensprozess nicht in Aussicht

Im Nebeneffekt beabsichtigt die Erdogan-Regierung offensichtlich die Opposition zu spalten. Regierungsnahe Medien versuchen derzeit alles, um die CHP in die Nähe der DEM-Partei zu rücken. Das soll offensichtlich nationalistisch gesinnte CHP-Parteimitglieder*innen und Wähler*innen verärgern. Ebenso scheint man einen Keil zwischen dem eher sozialdemokratisch orientierten Parteiführer Özgür Özel, dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu und dem eher nationalistischen Bürgermeister von Ankara, Masur Yavas schlagen zu wollen. Bisher ging die Rechnung nicht auf, alle drei verurteilten die Zwangsverwalter-Politik. 

Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass der Vorschlag eines neuen Friedensprozesses wenig demokratischen Unterbau hat. Würde die Regierung ernsthaft die Kurdenfrage lösen wollen, müsste zuerst eine Freilassung des seit acht Jahren inhaftierten Ex-Co-Vorsitzenden der Kurdenpartei, Selahattin Demirtas, auf der Tagesordnung stehen. Gesprächspartner wäre weniger Öcalan, sondern vielmehr die DEM-Partei. Vor allem aber würde man dann keine demokratisch gewählten Bürgermeister*innen absetzen und den Willen des Volkes so mit Füßen treten. In den vergangenen Jahren hatte man diese Methode schon zigfach angewendet. Trotzdem siegten im Südosten der Türkei anschließend immer wieder DEM-Politiker*innen.

Von einer politischen „Normalisierung“, wie sie Erdogan nach den Kommunalwahlen im Frühling versprach, kann keine Rede mehr sein. Dabei hätte die Türkei sie so dringend nötig – ebenso wie einen transparenten, fairen und wirklich demokratischen Friedensprozess. 

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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