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Geflüchtete in der Türkei: „Die Situation spitzt sich zu“

Etwa 3,4 Millionen Geflüchtete aus Syrien leben in der Türkei, nach dem schweren Erdbeben im vergangenen Jahr noch immer vielfach in Containern und Zelten. Die SPD-Abgeordnete Daniela De Ridder war für die OSZE vor Ort. Im Interview berichtet sie von ihren Eindrücken.

von Kai Doering · 20. Juni 2024
Nach dem Erbeben im Februar 2023 kamen viele Geflüchtete in Zelten unter. Noch immer haben nicht alle ein festes Dach über dem Kopf.

Nach dem Erbeben im Februar 2023 kamen viele Geflüchtete in Zelten unter. Noch immer haben nicht alle ein festes Dach über dem Kopf.

Anfang Februar 2023 erschütterten heftige Erdbeben den Südosten der Türkei und den Nordwesten Syriens. In der Türkei waren rund 15 Millionen Menschen unmittelbar vom Beben und seinen Folgen betroffen, darunter etwa zwei Millionen Geflüchtete. 

Ende Mai hat die SPD-Bundestagsabgeordnete Daniela De Ridder als Vorsitzende des Ad-hoc-Komitees für Migration der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Türkei mit einer Delegation der Parlamentarischen Versammlung der OSZE besucht, um sich ein Bild von der Situation der Geflüchteten und Asylsuchenden im Land zu machen.

Wie ist die Situation in der Türkei knapp eineinhalb Jahre nach dem verheerenden Erdbeben?

Die Situation ist immer noch angespannt. Wir haben ein riesiges Container-Dorf in der Nähe von Adana besucht. Eine Familie erhält vom Staat pro Kopf 30 Euro im Monat als Unterstützung. Damit müssen sie für ihr Auskommen sorgen. Wer keine Arbeit hat – und das sind im Erdbebengebiet leider recht viele – hat kaum eine Chance, in eine der neu errichteten Wohnungen zu ziehen und muss im Container oder sogar im Zelt bleiben. Hinzu kommt die Langeweile, besonders für die Kinder. Sie werden zwar beschult, aber nur drei Stunden am Tag. Sonst haben sie nur sehr wenig, was sie machen können.

Präsident Erdogan hatte direkt nach dem Erdbeben versprochen, die zerstörten Gebäude innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen. Dieses Versprechen hat er also nicht erfüllt?

Zum Teil doch. Wir waren bei unserem Besuch auch in Gaziantep, mitten im damaligen Erdbebengebiet. Auch mithilfe der Entwicklungsgelder ist es dort gelungen, innerhalb eines Jahres neue Siedlungen hochzuziehen. Die Wohnungen dort werden zunächst an die Bedürftigsten vergeben, häufig auch unter diesen verlost. Entscheidend wird sein, ob das Geld reicht, um in diesem Tempo weiterzumachen. Als OSZE werden wir ein Auge darauf haben, dass nicht die Schwächsten am Enden hinten runterfallen. Das sind eindeutig die Flüchtlingsfamilien.

In der Türkei leben etwa 3,4 Millionen Bürgerkriegs-Geflüchtete aus Syrien, zum Teil seit vielen Jahren. Wie ist ihre Lage?

Leider ziemlich prekär. Die Türkei würde gern Geflüchtete nach Syrien zurückführen, aber das ist kaum möglich bei einem derart kriegsgebeutelten Land. Es ziehen immer noch Geflüchtete nach, wenn auch in geringer Zahl. 

Hinzu kommt, dass in einem Streifen direkt hinter der türkisch-syrischen Grenze viele Kurden leben, zu denen die Türkei ja nicht das beste Verhältnis hat. Das macht die Situation zusätzlich kompliziert. 

Viele Syrer haben aber auch keinen Ort mehr, an den sie zurückkehren könnten, weil ihre Häuser zerstört worden sind und ihre Verwandten und Freunde entweder getötet wurden oder selbst auf der Flucht sind. Gründe für eine Rückkehr gibt es also kaum. In der Türkei haben sie immerhin ein soziales Netz aufbauen können, auch wenn sie in sehr beengten Verhältnissen leben.

Haben sie denn eine Perspektive in der Türkei?

Das hängt vor allem davon ab, ob sie eine Arbeit finden. Nur wer eine Arbeit hat, kann auch eine Wohnung finden. Die türkische Regierung unterstützt die Arbeitsaufnahme der Syrerinnen und Syrer aktiv. Die andauernde Wirtschaftskrise und der notwendige Wiederaufbau in den Erdbebengebieten erschweren die Situation aber zunehmend.

Im Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr schlugen Politiker*innen aller Parteien harte Töne gegenüber den Geflüchteten an. Hat sich die Stimmung inzwischen wieder abgekühlt?

Nein. Die Situation spitzt sich eher noch zu – und das nicht nur vonseiten der AKP, sondern auch von der CHP. Mit dem Argument, die sozial schwächeren Gruppen in der Türkei schützen zu wollen, macht sie gegen die Geflüchteten aus Syrien Stimmung. Die Hyperinflation und der enge Wohnungsmarkt treiben die Preise ja weiterhin nach oben.

Seit 2016 gibt es eine Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei, die dafür sorgen soll, dass weniger Geflüchtete in die EU einreisen. Brüssel hat dafür bisher sechs Milliarden Euro gezahlt. 2027 läuft der Vertrag aus. Wird es eine Fortsetzung geben?

Solange es keinen Frieden in Syrien gibt, bleibt die Frage einer Vereinbarung akut. Die Zahlung der Gelder nimmt ja von Jahr zu Jahr ab. So ist es vertraglich geregelt. Die Türkei hat zudem ein Interesse daran, ihr Image in der EU zu verbessern. Auch dazu kann diese Abmachung beitragen. 

Sollte der Vertrag verlängert werden, müssten die Verhandlungen bald beginnen, was ich sehr begrüße. Dass Geflüchtete aus Syrien seit mehr als zehn Jahren in Containern leben, ist keine gute Situation. Wenn jetzt aber die Wirtschaftskrise in der Türkei dazu führt, dass sie nach Griechenland oder Bulgarien weiterziehen, verschärft sich auch die Situation in der EU – angesichts populistischer Debatten um Migration ist das höchst problematisch.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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