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Türkei-Wahl: Die Kurd*innen könnten über Erdogans Zukunft entscheiden

Spätestens im Juni finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Erdogan und seine Partei dürften nur schwer die nötige Mehrheit erreichen können. Das Zünglein an der Waage sind die kurdischen Wähler*innen.
von Kristina Karasu · 9. Januar 2023
Der türkische Prasident Recep Tayyip Erdogan: Er will mit allen Mitteln die Präsidentschaftswahl in diesem Jahr gewinnen.
Der türkische Prasident Recep Tayyip Erdogan: Er will mit allen Mitteln die Präsidentschaftswahl in diesem Jahr gewinnen.

Seit wenigen Wochen ist der kurdischstämmige Lebensmittelingenieur Azat Artut arbeitslos. Die Istanbuler Fabrik mit 300 Angestellten, in der er beschäftigt war, musste schließen. Zugleich plagt den 30-jährigen die enorme Inflation in der Türkei, die offiziell bei 65 Prozent, aber in Wirklichkeit wohl um ein Vielfaches höher liegt. Artut hält die Wirtschaftskrise für das Symptom eines viel tiefer liegenden Problems: „Unser größtes Problem ist die Ungerechtigkeit im Land. Weil niemand mehr Vertrauen in das Justizsystem, den Staat hat, kommen auch keine Investoren mehr“, sagt er.

Viele Kurd*innen in der Türkei sehen es ähnlich, haben sie doch die wachsende Ungerechtigkeit im Land am heftigsten zu spüren bekommen. Über 60 Bürgermeister*innen der kurdennahen HDP wurden in den letzten Jahren abgesetzt und durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt, ihr Ex-Co-Vorsitzender Selahattin Demirtas und viele andere kurdische Politiker*innen sitzen seit Jahren in Haft. Gegen die HDP läuft derzeit ein Verbotsverfahren, am vergangenen Freitag wurde per Gerichtsbeschluss das Parteikonto für Hilfszahlungen vorübergehend eingefroren.

12 bis 15 Millionen Kurd*innen wählen

Das Timing ist nicht überraschend. Die Türkei erwartet ein wichtiges Wahljahr: Spätestens in Juni werden gleichzeitig ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt. Und jeder im Land weiß: Die geschätzt 12-15 Millionen Kurd*innen im Land werden dabei das Zünglein an der Waage sein.

Viele Kurden gaben Erdogan zu Beginn seiner Regentschaft ihre Stimme, auch der von ihm initiierte Friedensprozess mit der PKK ab 2013 brachte ihm große Zustimmung. Doch spätestens seit dem Ende des Friedensprozesses 2015 fährt Erdogan einen harten Kurs gegen die HDP, das hat ihn für viele Kurd*innen unwählbar gemacht. Eine Umkehr dieses Kurses ist für Erdogan kaum noch möglich, denn er befindet sich in einem Bündnis mit der ultranationalistischen MHP, die seither in der Kurdenpolitik indirekt den Ton angibt.

„Erdogan wird fürchterliche Dinge tun“

„Erdogan weiß nicht mehr was er tut. Ich fürchte er wird fürchterliche Dinge tun, bloß um zu gewinnen“ meint Ingenieur Artut. „Seine Zeit ist abgelaufen“, urteilt der kurdische Textilunternehmer Mehmet Aksoy. Der 35-jährige Angestellte im Öffentlichen Dienst Emrah aus Istanbul erklärt: „Ich will nicht mehr ständig Angst haben müssen. Damit unser Land eine Zukunft hat ist das Wichtigste, das Erdogan abgewählt wird. Alles andere wird sich finden.“

Ein Teil der Opposition hat sich zu einem „Sechsertisch“ zusammengeschlossen, könnte bei der Wahl zusammen die Mehrheit erreichen. Die kurdennahe HDP sitzt nicht mit am Tisch, wurde nie eingeladen. Zum einen aus Angst der sechs Parteiführer, von Erdogan als Terrorunterstützer gebrandmarkt zu werden. Zum anderen durch die nationalistische Agenda einiger Parteien am Tisch.

Im Gegenzug hat die HDP im Sommer ein eigenes „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ zusammen mit fünf linken Parteien gegründet. Am Wochenende verkündete außerdem die Co-Vorsitzende der HDP Pervin Buldan, ihre Partei werde wohl einen eigenen Kandidaten oder eine eigene Kandidatin für die Präsidentschaftswahl aufstellen. Zugleich ließ sie ein Hintertürchen für Verhandlungen über einen gemeinsamen Kandidaten mit dem Rest der Opposition offen.

Opposition ignorierte die Kurd*innen

Der Sechsertisch hat bisher noch keinen Kandidaten aufgestellt. Die Aussage von Bulvan kann daher auch als Appell an den Oppositionstisch gelesen werden, einen Kandidaten aufzustellen, der für die Kurden wählbar ist. Das wären vor allem zwei Politiker: zum einen Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, zum anderen der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Der kam 2019 auch durch viele Stimmen der kurdischen Wählerschaft an die Macht. Dass Imamoglu nun durch ein Gerichtsurteil ein Politikverbot droht, überrascht viele Kurden nicht: „Weite Teile der Opposition haben gegen das Unrecht, dass der HDP angetan wurde, nicht protestiert. Nun sind sie selbst an der Reihe“, meint etwa Ingenieur Artut.

Viele Kurd*innen klagen darüber, dass die Opposition ihre Stimmen wolle, aber sich kaum für ihre Belange einsetze. „Der grenzenlose Kredit, den wir dem Sechsertisch gegeben haben, ist allmählich aufgebraucht“, mahnte der stellvertretende HDP-Vorsitzende Tayip Temel am Sonntag.

Gewinnt der „Sechsertisch“ die Kurd*innen?

Tatsächlich ist die Kurdenfrage für den Sechsertisch nur ein Randthema. Immerhin verspricht Ali Babacan, Ex-AKP-Gründer und heutiger Führer der DEVA-Partei, muttersprachlichen Unterricht für Minderheiten – eine der wichtigsten Forderungen der kurdischen Bevölkerung. Außerdem erklärt der Sechsertisch, er wolle das Urteil des Europäischen Menschengerichtshofes umsetzen, das eine Freilassung von Selahattin Demirtas fordert. Doch einen Plan für einen erneuten Friedensprozess oder mehr politische Selbstbestimmung der kurdisch geprägten Regionen lässt das Programm des Sechsertisches bisher vermissen. Nur wenn das Bündnis den Mut aufbringt, daran noch etwas zu ändern und wirklich auf die Kurden zuzugehen, hat es echte Chancen, diese Wahlen zu gewinnen.  

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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