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SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan: Ein Polenversteher verlässt den Bundestag

1998 wurde Dietmar Nietan erstmals in den Bundestag gewählt. In wenigen Wochen soll Schluss sein. Dann hat er mehr Zeit für seine Familie. Mit seiner SPD hat er aber noch viel vor.

von Jonas Jordan · 23. Dezember 2024
Dietmar Nietan im alten Bonner Plenarsaal

Dietmar Nietan im alten Bonner Plenarsaal

25 Jahre lang war er nicht mehr hier. Ein Vierteljahrhundert. So lange ist es her, dass der Bundestag von Bonn nach Berlin umzog. So lange gehört Dietmar Nietan auch fast schon dem Parlament an. Von 1998 bis 2005 war er Abgeordneter, seit 2009 ist er es wieder. Bei der vorgezogenen Neuwahl des Bundestages Ende Februar tritt Nietan nicht wieder an. Zum Abschied ist der Sozialdemokrat noch einmal an den Ort zurückgekehrt, an dem alles anfing: Bonn, alte Hauptstadt, alter Bundestag.

An alter Wirkungsstätte

Hier fing 1998 alles an. In Bonn erlebte Dietmar Nietan sein erstes Jahr als Bundestagsabgeordneter, bevor das Parlament nach Berlin umzog.

Dietmar Nietan an alter Wirkungsstätte in Bonn

„Ich habe meiner Tochter gerade schon ein Bild geschickt von der Stelle, wo wir immer zum Rhein runterspaziert sind, als sie mich besucht hat. Damals war sie drei Jahre alt“, berichtet Nietan am „Bundesbüdchen“, dem legendären Kiosk aus Bonner Regierungszeiten. Von dort sind es nur wenige hundert Meter zum alten Plenarsaal, heute ein Konferenzzentrum. 

1998 triumphiert Nietan mit 34 Jahren im eigentlich tiefschwarzen Wahlkreis Düren und zieht ins Parlament ein. Dort erlebt er noch Kohl als Bundeskanzler, Peter Struck als Fraktionsvorsitzenden und in seiner ersten Sitzung die Wahl von Wolfgang Thierse zum Bundestagspräsidenten. „Ein Intellektueller, ein Ostdeutscher, einer von uns. Das war bewegend für mich“, erinnert sich Nietan 25 Jahre später im alten Bonner Plenarsaal.

Was sein Opa ihm ins Stammbuch schrieb

Seine Familie mütterlicherseits stammt aus Thüringen, ein Teil der Familie väterlicherseits aus Ostpreußen. Der Sozialdemokrat erzählt von den Worten seines Großvaters, der ihm damals, frisch in den Bundestag eingezogen, ins Stammbuch schreibt: „Wir haben die Heimat nicht verloren wegen der Polen, auch nicht wegen der Roten Armee, sondern wegen der Faschisten, die ihre Nachbarn überfallen haben. Deshalb ist meine Bitte an dich, dass du deine Privilegien als Abgeordneter dafür nutzt, alles dafür zu tun, dass es zu einer deutsch-polnischen Versöhnung kommt.“

Kurz danach kommt die SPD-Bundestagsfraktion im Sommer 1999 zu einer Sitzung in Bonn zusammen. Der damalige Vorsitzende Peter Struck hat mit Blick auf die im Jahr 2004 anstehende EU-Osterweiterung einen Vorschlag: Pro Land soll es einen SPD-Abgeordneten geben, der sich federführend um Kontakte zu dortigen Sozialdemokrat*innen und anderen Entscheidungsträger*innen kümmert. Für Polen meldet sich Dietmar Nietan. Gelächter. Ausgerechnet ein Neuling, ein Juso, ein Hinterbänkler soll in der fast 300 Abgeordnete zählenden SPD-Fraktion für das größte der 14 Kandidatenländer zuständig sein? Peter Struck sorgt für Ruhe: „Die müssen sehen, dass es auch junge Sozialdemokraten gibt, dass es in der SPD mit der Aussöhnung weitergeht. Der Dietmar macht das jetzt...“

Dietmar 
Nietan

Ich bin kein Besser-Wessi mehr. Der Blick nach Osten und die Empathie dafür, was die Menschen dort geleistet haben, ist einer der Pfeiler meiner politischen Arbeit.

Nietan reist daraufhin manchmal jeden Monat nach Polen, knüpft enge Kontakte und ist heute Polen-Beauftragter der Bundesregierung. „Ich habe das Land und die Menschen lieben gelernt. Wie ich heute auf Europa und die europäische Einigung schaue, hängt eng damit zusammen. Ich bin kein Besser-Wessi mehr. Der Blick nach Osten und die Empathie dafür, was die Menschen dort geleistet haben, ist einer der Pfeiler meiner politischen Arbeit.“

Der SPD-Außenpolitiker erinnert sich an eine Grundsatzdebatte in der SPD-Fraktion über Russland vor zwölf Jahren: „Ich fand schon North Stream I falsch, North Stream II umso mehr. Spätestens als Putin zum zweiten Mal Präsident wurde, war für mich klar: Der Mann ist auf dem Weg, aus dem Land ein faschistoides, imperialistisches Land zu machen und es wird wieder Krieg in Europa geben.“ Ohne die polnische Perspektive wäre ihm das nicht klar gewesen, sagt Nietan. In der damaligen Debatte redet sich Nietan in Rage und macht „die Russlandversteher in der Fraktion zur Schnecke“, erzählt er. „Auf einmal höre ich, wie hinter mir jemand ruft: Du redest ja wie ein Pole. Das war das schönste Kompliment für mich.“

Martin Schulz und Franz Müntefering kämpfen für ihn

Dass Nietan zu dem Zeitpunkt der Fraktion wieder angehört, habe er Menschen wie Martin Schulz, Franz Müntefering und Peter Struck zu verdanken, die sich für ihn einsetzen. Denn 2005 heißt es zunächst Abschied vom Bundestag. Zwei Prozentpunkte fehlen, um den Wahlkreis ein drittes Mal direkt zu gewinnen. „Im Nachhinein war das mein Glück. Wäre ich damals nicht rausgeflogen, säße ich heute nicht mehr im Bundestag“, sagt der SPD-Abgeordnete. 

Während der folgenden vier Jahre arbeitet Nietan als außenpolitischer Berater für Martin Schulz in Brüssel, hält den Kontakt nach Berlin, nimmt als Gast an den dortigen Fraktionssitzungen teil und engagiert sich zu Hause in Düren mehr denn je. So wird er Vorsitzender der SPD-Region Mittelrhein innerhalb der NRWSPD, bekommt einen aussichtsreichen Listenplatz und zieht 2009 wieder in den Bundestag ein.

Dietmar
Nietan

Wenn die Partei das will, werde ich hier ein bisschen länger bleiben, weil ich Dinge verändern und reformieren will.

Ein Jahr später handelt er mit Hannelore Kraft, die er auch heute noch anerkennend „die Chefin“ nennt, erfolgreich die rot-grüne Minderheitsregierung auf Landesebene aus. Die „Chefin“ ist es auch, die ihn im Dezember 2013 während einer gemeinsamen Sitzung der Bundestagsfraktion mit der Parteispitze mal kurz vor die Tür bittet. Er solle als Schatzmeister kandidieren. Nietan sucht den Rat von zwei einflussreichen Freund*innen: Andrea Nahles und Martin Schulz. Beide raten ihm zu, also sagt er Ja. Mit dem Hinweis: „Ich mache das nicht als Karrieresprungbrett, um mal Staatssekretär oder Minister zu werden. Wenn die Partei das will, werde ich hier ein bisschen länger bleiben, weil ich Dinge verändern und reformieren will.

Das hat geklappt. Inzwischen sind es zehn Jahre. Damit ist er das dienstälteste Mitglied im SPD-Parteivorstand. „Als Schatzmeister dieser altehrwürdigen Partei dienen zu dürfen und bei all dem, was mein Opa mir gesagt hat, heute Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-polnischen Beziehungen zu sein, erfüllt mich mit gleichermaßen mit Freude und Stolz.“

Seit mehr als zehn Jahren Schatzmeister

Nun soll Schluss sein mit Sechs- oder Sieben-Tage-Wochen und bis zu 14 Stunden Arbeit pro Tag. Auch aus gesundheitlichen Gründen. Denn vor zwei Jahren erleidet er einen Riss in der Halsschlagader. „Das hätte sehr böse aus gehen können. Da wird dir schon klar, dass du deine Prioritäten im Leben vielleicht noch einmal neu sortieren solltest.“

Danach trifft er gemeinsam mit seiner Frau die Entscheidung, nicht noch einmal für den Bundestag zu kandidieren. Auch aus Rücksicht auf die Familie. Die Kinder, die inzwischen 25 und 29 Jahre alt sind, die er jahrelang sonntagabends ins Bett brachte und sich bis zum nächsten Wochenende verabschiedete. Seine Frau Dagmar, selbst SPD-Fraktionsvorsitzende im Dürener Stadtrat, die ihm all die Zeit den Rücken freihält. „Ohne meine Frau wäre ich nicht Abgeordneter geworden. Ohne die Unterstützung meiner Familie hätte ich nicht so lange in der Politik bestehen können und wäre heute nicht Schatzmeister der SPD“, sagt Nietan.

Am Bonner Rheinufer

Dietmar Nietan blickt am Bonner Rheinufer in die Ferne: Künftig hat er mehr Zeit für Hobbies.

Dietmar Nietan am Bonner Rheinufer

Schatzmeister der SPD will er bleiben. „Ich will nicht mit 60 Jahren in Rente gehen. Ich habe mir in den letzten zehn Jahren den Ruf aufgebaut, ein Reformer zu sein und habe noch ein paar Dinge auf der To-do-Liste. Die möchte ich gerne noch zu Ende bringen.“ Dennoch freut er sich auf eine neue Lebensphase mit neuen Freiheitsgraden, mehr Zeit für Ehrenämter und Hobbies. Unterhalb vom alten Bundestag steht Nietan am Rheinufer, legt die rechte Hand über die Augen und schaut in die Ferne. Sind das Nilgänse am Horizont? „Ornithologie ist ein großes Hobby von mir“, sagt Nietan.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Mo., 23.12.2024 - 15:04

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wir wir , mit wem wir die historische Schuld, die uns Polen gegenüber trifft, nun in den Blick nimmt. Leider ist es ja ungeachtet seiner vielen Bemühungen nicht gelungen, gerade die Frage der Reparationen in die zutreffende Richtung zu bewegen, geschweige denn zu lösen.

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