Dietmar Nietan: Im Dauereinsatz für den Wandel nach dem Kohleausstieg
Dirk Bleicker
Wenn er auf der Goltsteinkuppe, oben auf dem 36 Meter hohen Aussichtsturm „Indemann“ steht, hat der SPD-Schatzmeister und Bundestagsabgeordneten Dietmar Nietan den beeindruckenden Panorama-Blick auf den Braunkohletagebau Inden: eine riesige Kraterfläche von knapp 1300 Hektar Größe. Der Tagebau gehört zu Nietans Wahlkreis. Hier wie auch anderswo in der Region, wird seit Jahrzehnten Braunkohle gefördert. Das eigens geschaffene Ausflugsziel unterstreicht die Bedeutung dieser Industrie. Aber spätestens 2038 soll im Rheinischen Revier wie auch in anderen Kohlerevieren damit endgültig Schluss sein, um den CO2-Ausstoß zugunsten des Klimas spürbar zu reduzieren. Die Bundesregierung folgte damit der Empfehlung der Kohlekommission.
Vom Helden zum „Klimazerstörer“
Die Menschen in Nietans Wahlkreis akzeptieren die Entscheidung, sehen auch deren Notwendigkeit, dennoch bedeutet der beschlossene Strukturwandel Unsicherheit und die Aufgabe von Lebenskonzepten. Nietan, der sich seit 2010 intensiv mit dem Transformationsprozess in seiner Heimat beschäftigt, versteht das: „Die Leute waren stolz auf ihre Arbeit, haben jahrelang Opfer gebracht und jetzt kommt alles weg“, sagt er und erzählt beispielhaft von einem Arbeiter im Tagebau: Früher sei der nach der Arbeit mit stolz geschwellter Brust im RWE-Blaumann einkaufen gegangen. Heute traue er sich das nicht mehr, denn er „wird dabei nur noch als Klimazerstörer beschimpft“. Diese Entwicklung bestätigt auch der Ortsvorsteher von Pier, Ludwig Leonards, der 2006 mit seiner Gemeinde als Neu-Pier umgesiedelt ist: „Es war immer ein gutes Miteinander, auch mit dem Tagebau-Unternehmen, der RWE.“
Der Riss, der heute durch die Region geht, ist spürbar. Bundesweites Symbol dafür waren die harten Auseinandersetzungen im Hambacher Forst 2018, als die schwarz-gelbe Landesregierung von Armin Laschet anfing, den Wald räumen zu lassen und Baumbesetzer*innen und Unterstützer*innen sich wehrten. Das Verwaltungsgericht Köln hat die von der Laschet-Regierung angeordnete Räumung am 8. September 2021 als rechtswidrig erklärt.
Gespräch statt Konfrontation
Dietmar Nietan sucht in dieser schwierigen Gemengelage aber sowieso nicht die Konfrontation, sondern das Gespräch. Er will vermitteln, nicht spalten und mithelfen, den Strukturwandel voran zu bringen. „Großkonflikte zu produzieren bringt nichts. Das ist nicht nachhaltig. Ich will die Leute mitnehmen“, sagt er bei der Fahrt durch das Rheinische Revier. Das gilt auch im Bundestagswahlkampf. Nietan nimmt sich auch jetzt viel Zeit und diskutiert frühmorgens mit Vertretern der erkennbar unionsnahen Kreisbauernschaft genauso wie mit Unternehmen, kommunalen Spitzenvertreter*innen der verschiedensten Parteien und selbstverständlich auch den betroffenen Betriebsrät*innen.
Gerade bei letzteren sorgte die Forderung der Grünen Spitzenkandidatin Annalena Baerbock, den Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen, für Irritationen: „Wir sind sehr froh, dass Olaf Scholz dagegen gehalten hat“, sagt der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrates RWE Power, Harald Louis, zuständig für 10.000 Beschäftigte, bei strömendem Regen zu Nietan auf dem „Indemann“. Sein Kollege, Matthias Dürbaum, Betriebsratsvorsitzender vom Tagebau Hambach, unterstreicht, „wie wichtig ein belastbarer Kompromiss ist“. Denn die Gewerkschaften hätten mit anderen Akteur*innen aus Kommunen und Industrie längst einen Organisationsprozess begonnen, um den Ausstieg sozial verträglich und mit Perspektiven für Arbeitnehmer*innen zu gestalten. Ein Ausstieg 2038, vielleicht noch 2035 sei machbar. 2030 nicht, ist da die klare Ansage der Arbeitnehmervertreter*innen.
„2038 ist realistisch, 2030 illusorisch“
Das bestätigt Nietan auch Stefan Röder von „Quirinus Control“ in dem kleinen Ort Heppendorf. „Der Kohleausstieg 2038 für ein Industrieland wie Deutschland ist realistisch, 2030 ist illusorisch“, so das nüchterne Urteil des Energienetz-Experten. Quirinus Control hat sich am Rande des Tagebaugebietes angesiedelt und berät Industriekund*innen, Netzbetreiber*innen, Energieversorger*innen und Kommunen beim notwendigen Umbau der Stromversorgung und bei konkreten Fragen, wie zum Beispiel, wie die Sicherheit der Energienetze während der Energiewende gewährleistet werden kann.
Quirinus Control gehört zu den zukunftsweisenden Firmen, mit denen Nietan im Interesse seines Rheinischen Reviers in stetem und engem Austausch steht. „Solche Unternehmen fördern die Energiewende, schaffen neue Arbeitsplätze und sichern den nachhaltigen Strukturwandel in der Region“, betont er. Ein weiteres Projekt dieser Art ist der Brainergy-Park Jülich. In dem nachhaltigen interkommunalen Gewerbepark sollen mit einem Gründerzentrum und einem Start-up-Village bis 2035 rund 2.000 neue Arbeitsplätze für einen gelungen Strukturwandel sorgen.
„Wir wollen hier Forschung- und Industrietransfer zusammenbringen und ein nachhaltiges Netzwerk schaffen“, beschreibt der Geschäftsführer Bernhard Hoffschmidt das Ziel. Nietan unterstützt das Vorhaben: „Das ist ein gutes Beispiel, wie man Kräfte für Nachhaltigkeit zusammenbringen kann.“ So könne das Rheinische Revier ein Leuchtturm in Sachen Energiewirtschaft bleiben. Nur eben nachhaltig.
Die Bürokratie bremst den Strukturwandel
Vieles läuft gut. Wo es hakt, hört Nietan immer wieder von den kommunalen Spitzenvertreter*innen. 20 von ihnen haben sich über Parteigrenzen hinweg „zusammengerauft“ und – auch mit der Unterstützung von Dietmar Nietan – eine Anrainer*innenkonferenz gegründet. So wollen sie dafür sorgen, dass die Lebenssituation für alle Bewohner*innen nach der Energiewende genauso gut wie jetzt ist. Richtig weiter kommen sie nicht, weil die Vergabe der Fördermittel durch Bund und Länder nicht wirklich funktioniert.
Dietmar Nietan macht das wütend: „Es ist absolut destruktiv, dass die Ministerialbürokratien in Bund und Ländern es nicht schaffen, neue Förderrichtlinien zu entwickeln, um den Strukturwandel wirklich voranzutreiben“, schimpft er in einem Gespräch mit zwei federführenden Kommunalen, dem Bürgermeister von Bedburg, Sascha Solbach, und dem Ersten Beigeordneten der Stadt Düren, Thomas Hissel.
Die beiden SPD-Politiker machen in dem Gespräch deutlich, „dass der Kohleausstieg rapide voranschreitet, der Strukturwandel aber noch nicht stattfindet“, so Hissel. Auch Solbach sieht das große Problem auf der Zeitschiene: „Wir wollen mit aller Macht nach vorne, aber die Förderprogramme kommen nicht voran und die Kommunen verlieren unnötig Zeit“, beschreibt er die spürbare Ohnmacht. Aus dem vorhandenen Topf der Fördermittel würden Gelder freigegeben für Projekte, die auch ohne Strukturwandel gefördert worden wären. Hissel fordert deshalb, es müssten ein Kompass und ein Zielkatalog für die Förderung des Strukturwandels definiert werden und die zuständigen Ministerien in Bund und Ländern müssten entsprechend nachweisen, dass tatsächlich der Strukturwandel von dem für ihn bereitgestellten Geld profitiere.
Bei Dietmar Nietan rennen die beiden Genossen mit ihren Forderungen offene Türen ein. Er will sich auch nach der Bundestagwahl weiter und intensiv für den Strukturwandel im Rheinischen Revier einsetzen. „Um die Klimaneutralität zu erreichen, ist es wie mit Mannschaftszeitfahren im Radsport: In der Mannschaft müssen alle ins Ziel kommen, wenn das nicht der Fall ist, verliert man.“
ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.