Meinung

Zu neuer Stärke: Warum sich die SPD mehr auf ihre Wurzeln besinnen sollte

In den Umfragen steht die SPD nicht gut da. Das liegt auch daran, dass viele Wähler*innen nicht mehr wissen, wofür die SPD genau steht. Um das zu ändern, sollte sich die Partei auf ihre Wurzeln besinnen.

von Jeremias Thiel · 11. Oktober 2024
Wofür steht die SPD? Eine Rückbesinnung auf ihre Wurzeln könnte das deutlicher machen, meint Jeremias Thiel.

Wofür steht die SPD? Eine Rückbesinnung auf ihre Wurzeln könnte das deutlicher machen, meint Jeremias Thiel.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wurde 1863 gegründet und ist daher die älteste Partei im deutschen Parteiensystem. Im Laufe ihrer Existenz überlebte sie vier politische Systeme, zwei Weltkriege und zahlreiche Wirtschaftskrisen. Auch im 161. Jahr ihres Bestehens spielt sie weiterhin eine entscheidende Rolle in der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Doch es ist offensichtlich, dass es einen graduellen Rückgang in der Popularität der Partei gegeben hat.

Während die SPD 1969 noch 42,7 Prozent der Stimmen erhielt, begann dieser Anteil um die Jahrtausendwende herum allmählich zu sinken. Zwischen 1998 und 2017 ging der Stimmenanteil von 40,9 auf 20,5 Prozent zurück, und in aktuellen Umfragen liegt die bundespolitische SPD bei 15 bis 16 Prozent. Woran liegt das?

Die Sozialdemokratie und der „Dritte Weg“

Gleich vorweg: Der Rückgang sozialdemokratischer Parteien in Europa ist ein Thema, das viele Politikwissenschaftler*innen beschäftigt. In der internationalen wissenschaftlichen Literatur, insbesondere außerhalb Deutschlands, stößt man häufig auf den Begriff des sogenannten „Dritten Weges“ (englisch: third way approach). Dieser hat nichts mit der rechtsextremen Partei „III. Weg“ zu tun.

Der Dritte Weg, auch bekannt als modernisierte Sozialdemokratie, ist eine vorwiegend zentristische politische Position, die versucht, die Politik von Mitte-Rechts und Mitte-Links miteinander zu vereinbaren, indem sie eine Kombination aus wirtschaftsliberaler und sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik mit der Sozialpolitik von Mitte-Links verbindet (Colin Hay). Am bekanntesten wurde er durch den Soziologen Anthony Giddens. Giddens prägte den Begriff, um eine neue Mitte zwischen Neoliberalismus und traditioneller Sozialdemokratie zu beschreiben, die auf die Herausforderungen einer sich rasant globalisierenden Welt reagiert.

Neoliberal oder Bestandteil der Erneuerung?

Die Prinzipien des Dritten Weges wurden erstmals aktiv von Tony Blair übernommen, als er von 1998 bis 2007 Premierminister des Vereinigten Königreichs war. Gleichzeitig werden diese Prinzipien auch im Zusammenhang mit anderen Mitte-links-Regierungen genannt, wie der Clinton-Administration in den USA, die von 1993 bis 2001 regierte, sowie der deutschen Regierung des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD), die von 1998 bis 2005 im Amt war. In der aktuellen Forschung wird der Dritte Weg häufig als Erklärungsansatz für den graduellen Abschwung sozialdemokratischer Parteien in Europa herangezogen.

Während einige Wissenschaftler den Dritten Weg als „reinen Neoliberalismus“ kritisieren (etwa der Politikwissenschaftlicher Colin Crouch), argumentieren andere, dass die Suche nach einem Dritten Weg zu einem zentralen Bestandteil des Erneuerungsprozesses der Sozialdemokratie in Deutschland geworden sei (Uwe Jun). Dieser Ansatz förderte zunehmend die Idee der individuellen Verantwortung für den eigenen gesellschaftlichen Aufstieg (ebenfalls Jun).

Der deutsche Dritte-Weg-Ansatz, der von Gerhard Schröder umgesetzt wurde, manifestierte sich in der „Agenda 2010“ – einer Arbeitsmarktreform, die darauf abzielte, Arbeitssuchende zu ermutigen, eine Beschäftigung zu finden, indem die persönliche Verantwortung betont wurde und Sanktionsmechanismen im Sinne des „Förderns und Forderns“ implementiert wurde.

Die Verlagerung der Wähler*innenschaft

Die Suche nach einem Alternativmodell zur klassischen Sozialdemokratie, verstärkt durch die zunehmende Globalisierung, prägte im Wesentlichen die Entwicklung der SPD in den vergangenen Jahrzehnten. Dies zeigt sich unter anderem in der Argumentation des Politologen Colin Crouch, der feststellt, dass der Dritte Weg zu einer stärkeren Betonung von Bildung als Qualifikationstreiber geführt habe. Bildung als Mittel der sozialen Mobilität wurde zum Grundpfeiler des eigenen Aufstiegs in einer marktliberalisierten Gesellschaft, und wichtiges Merkmal sozialdemokratischer Politik in den 60er Jahren.

Dieser (absolut richtige!) Fokus auf Bildung führte zwangsläufig zu einem tiefgreifenden Wandel in der Wählerstruktur der SPD. Während die Partei traditionell stark von der Arbeiterklasse unterstützt wurde, verlagerte sich ihre Wähler*innenschaft zunehmend hin zur gut ausgebildeten Mittelschicht. Diese Verschiebung brachte auch eine grundlegende Veränderung in der politischen Ausrichtung der SPD mit sich, da die Interessen der breiten, bürgerlichen Mitte stärker in den Vordergrund rückten und die Partei sich zunehmend an den Bedürfnissen dieser Wähler*innengruppe orientierte — nicht zuletzt auch um in dieser Zeit des Umbruchs auch weiterhin mehrheitsfähig, und damit regierungsrelevant bleiben zu können.

Die Verbourgeoisierung der SPD

Shiraz Hanyani, Harvard-Doktorand im Jahr 1999, analysierte ausführlich den Einfluss der Verbourgeoisierung auf die SPD und zeigte besonderes Interesse an den Nachkriegsgenerationen, die er als „wohlhabende postindustrielle Gesellschaft“ bezeichnet. Er kommt zu dem Schluss, dass diese neue Wohlstandsgesellschaft von einer „neuen Mittelschicht“ dominiert wird, die er als anti-autoritär und anti-technokratisch beschreibt. Diese neue Mittelschicht lehnt traditionelle Werte ab und folgt materialistischen, leistungsorientierten Werten der modernen bürokratischen und kapitalistischen Gesellschaften.

Hanyani folgert, dass der Dritte Weg, der zur Verbourgeoisierung führte, den Aufstieg einer Neuen Linken in der SPD ermöglichte, die sich stark von der konservativen Arbeiterklasse und der kulturell konservativen Alten Linken unterscheidet. Diese ideologische Spaltung zwischen der Neuen Linken, die mit dem linken Libertarismus assoziiert wird, und der Alten Linken führte seiner Ansicht nach zu internen Konflikten, die bis heute anhalten. Des weiteren hat die zunehmende Fixierung auf die sogenannten Leistungsträger*innen innerhalb der Gesellschaft, die durch die Bildungsöffnung der 1960er Jahre stark profitierten, gleichzeitig zu einem Entfremdungsprozess jener Menschen geführt, die ursprünglich die Sozialdemokraten unterstützten .

Andere Wissenschaftler*innen bieten alternative Erklärungen für die Verschiebung des Wählerblocks an. So stellt René Cuperus fest, dass die Mitte-links-Sozialdemokraten markante Merkmale ihres Profils und ihrer Identität verloren haben, möglicherweise auch, weil die Sozialdemokratie in unserer komplexen Welt nicht mehr eindimensionale, leicht fassbare Themen behandelt. Dieser Verlust prägnanter Merkmale führte dazu, dass die Sozialdemokraten sich zunehmend an einer Mitte-rechts und neoliberal geprägten Politik in den 2000er-Jahren orientierten.

Gesellschaftliche Veränderungen machen auch der SPD zu schaffen

Natürlich greift die SPD auch heute wichtige Themen auf, wie den Arbeitsschutz von Brief- und Paketzusteller*innen, die Situation von Pfleger*innen, die Erhöhung des Mindestlohns, kostenfreie Kitas oder kostenfreie Bildung. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Menschen in Deutschland SPD-Politik vielleicht auch deshalb weniger wahrnehmen, weil sich durch die Bewegung hin zur „neuen Mitte“ auch der „Geist“ der Partei sowie wesentliche Identifikationsmerkmale für viele frühere Wähler*innen verändert haben oder sogar verloren gingen. Diese Entwicklung könnte erklären, warum die SPD heute für einige ihrer ehemaligen Unterstützer*innen nicht mehr als die Partei wahrgenommen wird, mit der sie sich traditionell verbunden fühlten.

Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, wie Cuperus auch betont, dass große politische Parteien – sowohl im Mitte-links- als auch im Mitte-rechts-Spektrum – generell mit den Auswirkungen des Mitgliederrückgangs, der sinkenden Gewerkschaftsdichte und der abnehmenden Parteibindung zu kämpfen haben. Diese strukturellen Herausforderungen sind nicht auf die SPD allein beschränkt, sondern betreffen weite Teile des politischen Spektrums in fortgeschrittenen postindustriellen Gesellschaften.

Kernwähler*innen sind notwendig

Kennedy und Manwaring beschreiben in ihrer Arbeit „The dilemmas of social democracy“ genau diese Herausforderungen, die eine sich wandelnde Demografie und neue soziale Strukturen für Mitte-links-Parteien mit sich bringen. Eine zentrale Herausforderung ist die Notwendigkeit, einen stabilen Kernwähler*innenblock aufrechtzuerhalten, um auch weiterhin starke Allianzen bilden zu können, die für den Aufbau und Erhalt einer Regierung erforderlich sind. Beide Autoren betonen, dass diese Verschiebung der Wähler*innenbasis möglicherweise auch durch das Empfinden verursacht wurde, dass Mitte-links-Parteien, wie die SPD, keine wirksamen Maßnahmen zur Kontrolle der Migration ergreifen könnten.

Zudem wird den Mitte-links-Parteien vorgeworfen, den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt – wie der Gig-Economy und der Leiharbeit – nicht mehr gerecht zu werden und grundlegende Verteilungsfragen nicht mehr konsequent in den politischen Fokus zu nehmen.

Die bisherige Forschung hat klar gezeigt, dass der Dritte Weg zu einer signifikanten Verschiebung der Wähler*innenblöcke geführt hat. Es gibt genügend Beweise dafür, dass die Suche nach einer Alternative zur klassischen Sozialdemokratie zu einem Rückgang der Wähler*innenbasis führte – insbesondere durch die Verbourgeoisierung, die als Konsequenz der Bildungsöffnung gesehen werden kann, welche an sich eine absolut positive Entwicklung war. Dennoch bleibt eine Lücke in der Erklärung, wie sich die Idee der Leistung allmählich und systematisch im Parteiprogramm der SPD manifestierte

Ein Blick in die Grundsatzprogramme der SPD

Während die aktuelle Forschung weitgehend die Auswirkungen einer meritokratiebasierten Gesellschaft auf den Niedergang der Sozialdemokratie untersucht, bleibt eine konzeptanalytische Betrachtung unerlässlich. Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der Meritokratie und die damit verbundenen Leistungsbegriffe. Meritokratie ist eine Herrschaftsform, in der Personen aufgrund ihrer gesellschaftlich bzw. institutionell anerkannten, individuellen „Leistungen“ oder „besonderer Verdienste“ ausgewählt werden, um führende Positionen als Herrscher, sonstige Amtsträger und Vorgesetzte zu besetzen.

Basierend auf dieser Analyse schauen wir uns nun die Grundsatzprogramme der SPD an — und fangen an mit dem Görlitzer Parteiprogramm von 1921, das kurz nach dem Ersten Weltkrieg verfasst wurde. Es folgt das Heidelberger Parteiprogramm von 1925. Als drittes wird das Godesberger Parteiprogramm von 1959 untersucht, das in Zeiten des Kalten Krieges, der Ost-West-Spaltung und des atomaren Wettrüstens entstand. Zusätzlich wird das Berliner Parteiprogramm von 1989, das nach dem Fall der Berliner Mauer verabschiedet wurde, sowie das Hamburger Programm von 2007, das bis 2022 galt, analysiert.

Görlitzer Programm: die Arbeit des Einzelnen

Das Görlitzer Parteiprogramm wurde in der Zeit der ersten deutschen Republik (Weimarer Republik) verfasst, als Deutschland seine erste funktionierende Demokratie aufgebaut hatte – eine Demokratie, die aufgrund des Ersten Weltkriegs jung und fragil war; das Parteiprogramm muss daher auch in diesem Kontext gesehen werden. Im Görlitzer Parteiprogramm von 1921 gibt es in der Einleitung eine starke Betonung auf die Arbeit jedes Einzelnen, unabhängig davon, ob es sich um körperliche oder geistige Arbeit handelt und ob die Menschen aus ländlichen oder städtischen Gebieten stammen.

Die SPD stellt fest, dass alle, die sowohl geistig als auch körperlich arbeiten, auf ein gutes Einkommen „aus eigener Arbeit angewiesen sind [...] das dem Gemeinwohl gewidmet ist und für Demokratie und Sozialismus kämpft“. Es wird die Notwendigkeit betont, „kapitalistische Systeme“ zu überwinden, um wahre Gleichheit zu erreichen und neue „Zerstörungen durch Krieg“ zu verhindern. Zwei zentrale Punkte stehen im Vordergrund der folgenden Untersuchung der Leistung im Hinblick auf Sozial- und Bildungspolitik: erstens die Verhinderung von Kriegen, die durch solide Sozial- und Bildungspolitik unterstützt wird, und zweitens das Erreichen einer Rechtsordnung und einer „gerechten Gesellschaft“, wie in der Einleitung festgehalten.

Sozialpolitik als Schutz der Arbeiter*innen

In Bezug auf die Sozialpolitik des Parteiprogramms wird deutlich, dass die Arbeitsbedingungen für die Arbeiterklasse katastrophal waren; daher wurde ein größeres Augenmerk auf den Schutz von Arbeiter*innen gelegt. Es gibt eine Reihe von politischen Forderungen, die den Arbeitsschutz betreffen, darunter die Begrenzung der Arbeitszeit auf weniger als acht Stunden, das Verbot von Nachtschichten für Kinder und Frauen sowie ein vollständiges Verbot der Kinderarbeit in gesundheitsgefährdenden Bereichen, die Forderung nach bezahltem Urlaub und geplanten demografischen Maßnahmen (Bevölkerungspolitik), die auf die Bedürfnisse der Arbeiterklasse abgestimmt sind. 

Sozialpolitische Maßnahmen wurden also eher als Schutzmechanismus für Arbeiter*innen verstanden, um die schlechten Arbeitsbedingungen zu verbessern, als als Mittel, um die Förderung von Leistung zu betonen. Doch im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik waren die Ziele erheblich andere. Die politischen Forderungen beinhalten das Recht jedes Einzelnen auf Zugang zu kulturellen Gütern, was impliziert, dass kulturelles Wissen für alle zugänglich sein sollte. Damals war Bildung nicht kostenlos, und Männer und Frauen wurden getrennt unterrichtet.

Daher wurde vorgeschlagen, Bildung gebührenfrei zu machen und beide Geschlechter gemeinsam zu unterrichten. Die Idee, Bildung für alle zugänglich zu machen, zeigt, wie sich Leistung in der Bildungspolitik manifestiert, da Bildung im Jahr 1921 eher eine Frage des Privilegs war. Sie betonten jedoch nicht die individuellen Vorteile der Bildung oder die Fähigkeiten, die sie vermitteln kann, sondern vielmehr die Rolle der Bildung als Nährboden für das Gemeinwohl.

Heidelberger Programm: Einbeziehung der Mittelschicht

Das Heidelberger Parteiprogramm von 1925 wurde vier Jahre später verfasst. In der Einleitung wird dargelegt, dass sich der Wohlstand zunehmend zugunsten der Reichen konzentrierte und eine neue Klasse von Proletariern entstand, die „ohne Besitz und Gewinn“ zurückblieb. Das Programm stellt fest, dass auch die Mittelschicht ihren Anteil am „materiellen und kulturellen Fortschritt“ nicht in vollem Umfang erhielt, den die neue Industrie mit sich brachte, die von einigen wenigen dominiert wurde.

In Bezug auf die Sozialpolitik ähneln die Forderungen denen des Görlitzer Programms, allerdings mit einigen Ergänzungen, wie beispielsweise der Einrichtung eines Gerichts, das ausschließlich für arbeitsrechtliche Fragen zuständig ist. Auch wurden Forderungen nach einer staatlichen Überwachung von Unternehmen zur Einhaltung von Arbeitsstandards laut, sowie nach Sozialversicherungen und weiteren staatlichen Unterstützungen zur Förderung von Gesundheit und wirtschaftlichem. Die Forderungen konzentrierten sich also auch hier eher auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen als auf die Förderung einer Leistungsgesellschaft.

Godesberger Programm: Wendepunkt in der SPD-Geschichte

Das Godesberger Parteiprogramm von 1959 markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der SPD. Es spiegelt die Zeit des Kalten Krieges und der Ost-West-Spaltung wider und betont die Notwendigkeit einer neuen Grundlage des demokratischen Sozialismus, die „Wohlstand für alle“ schaffen soll. Es legt großen Wert auf die individuelle Freiheit und die Entwicklung der Persönlichkeit in einer freien Gesellschaft.

In diesem Programm wird deutlich, dass die Förderung der individuellen Verantwortung und der persönlichen Entfaltung zunehmend an Bedeutung gewann. Diese Grundsätze wurden auch in der Sozial- und Bildungspolitik der Partei verankert. Bildung wird hier nicht nur als Mittel zur Chancengleichheit, sondern auch als Instrument zur Förderung individueller Fähigkeiten und zur Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt betrachtet. Der freie Zugang zur Bildung wurde als grundlegendes Menschenrecht definiert, das jedem Bürger zusteht.

Berliner Programm: ein neuer Wert der Arbeit

Das Berliner Parteiprogramm von 1989 wurde kurz nach dem Fall der Berliner Mauer verfasst und reflektiert die veränderten politischen Realitäten in Deutschland und Europa. Die Bedeutung der Arbeit wurde neu definiert: Arbeit wurde nicht mehr nur als Mittel zum Überleben betrachtet, sondern als „Dimension menschlicher Existenz“. Auch die Bildungsreformen der SPD verlagerten sich in dieser Zeit von einem Fokus auf Chancengleichheit hin zu einer verstärkten Betonung der individuellen Leistungsfähigkeit. Es wurde zunehmend anerkannt, dass Bildung und kontinuierliches Lernen notwendig sind, um in einer sich rasch verändernden Welt bestehen zu können.

Hamburger Programm: Bildung im Mittelpunkt

Das Hamburger Programm von 2007 galt bis in das Jahr 2021, und war in puncto Bildung die bislang letzte große Reform der SPD. Hier wird Bildung als entscheidender Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt gesehen. Es wird die Notwendigkeit betont, dass der Staat Programme zur beruflichen Weiterbildung finanziert, um sicherzustellen, dass die Bürger*innen die Fähigkeiten entwickeln, die für den Erfolg in einer sich verändernden Wirtschaft erforderlich sind.

Die Idee der Meritokratie, dass der Erfolg eines Einzelnen von seiner Leistung abhängt, ist in diesem Programm tief verwurzelt. Besonders bemerkenswert ist auch die Betonung der Notwendigkeit einer „Kultur der zweiten und dritten Chancen“, in der Menschen, die einen Rückschlag erlitten haben, die Möglichkeit erhalten sollen, ihre Ausbildung nachzuholen. Diese Maßnahmen verdeutlichen, dass die Idee der Leistung immer mehr in den Vordergrund rückt und ein fester Bestandteil der sozialdemokratischen Politik geworden ist.

Jedoch ist auch von Relevanz, dass der sozialdemokratische Händedruck hier das Recht auf Entfaltung vordergründig ist, und die Aufgabe des Staates ist, den notwendigen Rahmen für Selbstentfaltung- und Selbstwirksamkeit zu legen.

Modernisierung als Entfremdung

Was lernen wir nun zusammenfassend daraus? Zum einen, dass die Parteiprogramme der SPD im Laufe des letzten Jahrhunderts eine schrittweise, aber dennoch klare Verschiebung hin zu einer Betonung von Leistung und Bildung zeigen. Während in den früheren Programmen der Schutz der Arbeiterklasse und die Förderung von Bildung als Nährboden für Frieden in Deutschland verstanden wurde, verschob sich der Fokus in den späteren Jahrzehnten zunehmend auf individuelle Leistung und Bildung.

Diese Veränderung hat zweifellos zur Modernisierung der Partei beigetragen und insgesamt positive gesellschaftliche Entwicklungen angestoßen. Doch während diese Betonung von Leistung und Bildung neue Wählergruppen, insbesondere die gut ausgebildete Mittelschicht, ansprach, führte sie gleichzeitig zu einer Entfremdung von den traditionellen Wurzeln der SPD.

Die SPD wird mehr denn je gebraucht

Diese Herausforderung – die Balance zwischen Modernisierung und dem Erhalt der eigenen Identität – bleibt eine der größten Aufgaben, vor denen die SPD heute steht. Und vielleicht muss sie diese Herausforderung mehr denn je adressieren, in sich selbst reinhören und Selbstehrlichkeit- und Offenheit bewahren. Grund allein dafür ist der Zuwachs populistischer und zutiefst antidemokratischer Parteien, aber auch die Verrohung der Sprache nicht nur weit außen rechts, sondern auch von profilierten Politikern im Mitte-Rechs-Spektrum, die am rechten Rand des politischen Spektrums nach Stimmen und Aufmerksamkeit fischen.

Diese Parteien bieten einfache Parolen und schaffen ein Gefühl von Kollektivität, indem sie die benachteiligten Gruppen miteinander ausspielen, und strukturelle Probleme schonungslos für sich instrumentalisieren. Besonders besorgniserregend ist, dass eine Partei wie die AfD eine ganze Gruppe vulnerabler Menschen, gegen ihre eigenen Interessen instrumentalisiert. Die AfD verfolgt eine zutiefst arbeitnehmerfeindliche Agenda: Sie ist gegen soziale Gerechtigkeit, befürwortet Leiharbeit, lehnt Erbschafts- und Vermögenssteuern ab und setzt sich für eine Niedrigbesteuerung von Spitzeneinkommen ein.

Während der COVID-Pandemie stimmte die AfD sogar gegen Sonderprämien für Beschäftigte in systemrelevanten Berufen. Kurzum: Wer AfD wählt, der wählt gegen seine eigene Interessen und schadet sich selbst. Das gilt es im Kern den Wählern zu vermitteln.

Für mich steht fest: Die SPD wird heute mehr denn je gebraucht. Sie muss sich entschlossen für eine vielfältigere und arbeiterzentrierte Repräsentanz stark machen, alte Wähler*innenschichten zurückgewinnen und sich wieder verstärkt auf ihre Wurzeln besinnen. Sie muss mutig in die Bezirke vordringen, die in der Vergangenheit an populistische oder rechtsgerichtete Parteien verloren gingen. Nur so wird es der SPD gelingen, nicht nur die Stimmen, sondern auch die Herzen der Menschen zurückzugewinnen und ihrer historischen Mission wieder gerecht zu werden.

Der Text erschien zuerst im Newsletter des Autors, der hier abonniert werden kann.

Autor*in
Jeremias Thiel

ist Aktivist gegen Kinderarmut und hat Umwelt- und Politikwissenschaft studiert.

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5 Kommentare

Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Fr., 11.10.2024 - 14:45

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"Der deutsche Dritte-Weg-Ansatz, der von Gerhard Schröder umgesetzt wurde, manifestierte sich in der „Agenda 2010“ – einer Arbeitsmarktreform, die darauf abzielte, Arbeitssuchende zu ermutigen, eine Beschäftigung zu finden, indem die persönliche Verantwortung betont wurde und Sanktionsmechanismen im Sinne des „Förderns und Forderns“ implementiert wurde."

Wunderbar verlogen wie immer. Die Arbeitslosen wurden nicht "ermutig" sondern GEZWUNGEN auch Arbeiten weit unter ihrer eigentlichen Qualifikation anzunehmen. Einer Ermutigung wäre z.B. die Auszahlung von 1000 Euro gewesen, wie sie heute für Menschen vorgesehen ist, die NICHT GEARBEITET haben.

Und heute stellt sich die selbe SPD als "Retter der Geringverdienenden" dar, obwohl es ohne Agende 2010 Geringverdiende in diesem Ausmaß gegeben gar nicht gegeben hätte. Ebenso hat es einen Mindestlohn, für dessen Erhöhung die SPD immer "kämpft", vor der Agenda 2010 gar nicht bedarft. Man könnte also sagen, die SPD kämpft im Prinzip gegen sich selbst und die, die sie vorgeben zu vertreten - die Arbeiter. Aber Schuld am eigenen Niedergang sind immer nur die anderen und die Wähler sind einfach zu "dumm" die Genialität des Zickzack-Kurses der SPD nachzuvollziehen.

Gespeichert von Chris Laarman (nicht überprüft) am Fr., 11.10.2024 - 20:22

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(Ich bin Niederländer. Ich habe zur Zeit meine Mitgliedschaft in der PvdA suspendiert.)

Es ist mir, als sagt kaum eine politische Partei (auf der Welt?) noch, was ihr Ziel ist. Stattdessen sagt man bloß "Wir wollen [diese Dinge]!" (Im Wahlkampf wird das wohl gemeinte "Wollen" irgendwie verstanden als "Versprechen" - und dann ist Enttäuschung fast vorprogrammiert.)

Aber "diese Dinge" sind nicht, was eine Partei beabsichtigt. Jederman oder jede Gruppe könnte eines oder mehr "dieser Dinge" verfolgen. (Irgendwie gleicht es Einkaufen - das klar auch einen Zweck hat!) Für eine politische Partei sollten "diese Dinge" Wegpunkte sein auf dem Weg zum "Punkt am Horizont" (zur idealen Gesellschaft, die sie also in einem Manifest ihrer Prinzipien beschreiben muß). Ja, vielleicht ist die Bildsprache der Navigation manchmal klarer. (Manchmal gerade nicht: soll man für Hannover nord-, süd-, ost- oder westwärts gehen? Das hängt eben ab von wo man ist. Oder frage mal einen Juristen den Weg nach Karlsruhe.)

Ein "hoher" Steuersatz (auf irgendwas) kann ein Wegpunkt sein, ein "niedriger" auch. Eine Partei kann (und soll) erklären, weshalb irgendein Steuersatz ein Wegpunkt zum "Punkt am Horizont" ist.

Wenn (stark vereinfacht!) eine Wahl geht zwischen "hohem" und "niedrigem Steuersatz", dann werden die Wähler (männlich/weiblich/sonstig) rechnen, und wohl das für sie Günstigste wählen. Aber wenn klar ist, daß diese Steuersätze Wegpunkte sind auf Wegen zu verschiedenen "Punkten am Horizont", dann werden sie (hoffentlich) ihr bevorzugtes Endziel verfolgen.

In Koalitionsverhandlungen sollte man sich auch fragen: wie weit sind unsere "Punkte am Horizont" voneinander entfernt, und welche Wegpunkte sollten daher keine Verhandlungen brauchen?
Da könnte man im Wahlkampf auch klar sein: wir sehen "jenen Steuersatz" als Wegpunkt, unser wahrscheinlicher Koalitionspartner sieht "jenen Steuersatz ± X%" als Wegpunkt zum fast gleichen "Punkt am Horizont". Wir werden uns überlegen, welcher Satz letztendlich am Besten unsere Koalitionsziele erfüllt.
Für ungewünschte Koalitionen könnte man wohl besser die Eisenbahn als Beispiel nehmen: es gibt (nicht nur in Deutschland) manche Bahnhöfe, aus die man nur in einer Richtung abfahren kann, bevor die Trasse sich spaltet. Vielleicht sollte man sich dann auf diesen gemeinsamen Streckenabschnitt konzentrieren. Das würden die Wähler doch verstehen?

Schon aus der Länge meiner Reaktion kann man schließen, daß ich ein Verwandter bin, oder?

Also. Wir sollten den Wählern klar machen, wo unser "Punkt am Horizont" ist (und erklären können, weshalb gerade dort), statt sie rechnen zu lassen, welche Wahl für sie kurzfristig die günstigste ist.
Klar, wir werden nie alle Stimmen bekommen. Das ist gut, denn auch diejenigen anderer Meinung oder anderer Interessen sollen mitreden und mitbestimmen können - und vielleicht haben sie auch mal Recht.

PS: Klarheit und Einfachheit sind nicht das Gleiche. Musiker wissen: 12/8 ist eben nicht 1,5. Ein Regenbogen ist nicht schwarz/weiß. Es gibt nicht nur ein "Frankfurt". Und es gibt Leute die sich entweder als Dame noch als Herr verstehen.

Gespeichert von Peter Boettel (nicht überprüft) am Sa., 12.10.2024 - 16:02

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Wie schön dies hier immer dargestellt ist, aber die Realität sieht leider anders aus. Bei den Programmen vermisse ich das Erfurter Programm, das m.E. neben dem heidelberger Programm das fortschrittlichste unserer Partei war.

Leider hat sich die Politik der Parteiführung häufig von diesen Programmen entfernt. In den Koalitionen geben die Regierungsmitglieder immer eher den kleinsten Parteien (CSU und FDP) nach als ihre eigene Zielrichtung zu verfolgen.

Und so sind viele enttäuscht, verlassen die Partei und viele Wähler sehen sich verraten, glauben daher, bei den Nazis ihr heil zu finden. Dies muss verhindert werden, indem die SPD tatsächlich zu ihren Wurzeln zurück findet!!!

Es fehlt in diesem Artikel nicht nur das Erfurter Programm sondern auch das Gothaer und das Eisenacher, und ganz und gar nicht zu vergessen: das Kommunistische Manifest.
Auch wenn es eine "Arbeiterklasse" im tradirionellen Sinne nicht mehr gibt, so gibt es immer noch die Habenichtse und Habewenige in schlecht bezahlten und/oder prekären Jobs deren Wählervotum weit weniger zählt als das von einigen Wenigen Superreichen. Arbeitseinkommen wird höher besteuert als Kapitalerträge ! Aus Bürgergeld wide dank Saktionen wiede Hartz IV. Auch wenn Sonne und Wind keine Rechnung stellen - die Netzbetreiber tun es. Die Übergriffigkeiten in SAchen Corona werden nicht aufgeklär, die Deals von der Frau vonderLaien mit der Pharmaindustrie auch nicht. Kann das sein, daß viele Menschen von dieser Regierung und von dieser SPD die Schnauze voll haben ? Und zu allem Übertruss will unser Herr Bundespräsident (auch SPD) dem Herrn Biden, der ankündigte UNSER Nordstream-Gas-Versorgung auszuschalten, noch das Bundesverdienstkreuz umhängen.
SPD besinne dich auf deine Wurzeln und für wen Du versprochen hast die Lebensumstände zu verbessern.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am So., 13.10.2024 - 18:19

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Dazu die Empfehlung: „Die SPD ... muss sich entschlossen für eine vielfältigere und arbeiterzentrierte Repräsentanz stark machen (und darum) ... wieder verstärkt auf ihre Wurzeln besinnen, (um) ... ihrer historischen Mission gerecht zu werden“.

Ja, hört sich gut an, aber was soll „arbeiterzentrierte Repräsentanz“ bedeuten? Jeremias Thiel
selbst spricht mit den Soziologen davon, dass das von der SPD geforderte und auch durchgesetzte Recht auf Bildung eine „neue Mittelschicht“ entstehen ließ, gar eine „`wohlhabende postindustrielle Gesellschaft`“ (Verbourgeoisierung), die den ehemaligen „Bedürfnissen der Arbeiterklasse“ existenziell entwachsen ist - eine „Arbeiterklasse“ gibt es nicht mehr. Darum wird es auch kaum helfen, sich auf deren „Wurzeln“ zu besinnen. Der, wie ich meine, einzig gangbare Weg für eine Wiederbelebung der SPD ist der der „konzeptanalytischen Betrachtung“. Die kann, nein muss, sich konzeptionell auf die Wurzeln der SPD berufen und z. B. das „`kapitalistische Systeme` überwinden“ und „neue `Zerstörungen durch Krieg` verhindern“ – etwas holzschnittartig formuliert.

Die „konzeptanalytische Betrachtung“ leistet Jeremias Thiel mit dem analytischen „Blick in die (ausgewählten) Grundsatzprogramme der SPD“, dem er den Hinweis auf Probleme der Migration hinzufügt. Die alte SPD-Wurzel, „Neue `Zerstörungen durch Krieg` verhindern“, hat er aber vergessen, übersehen auch die „Sozialdemokratischen Antworten auf eine Welt im Umbruch, Berlin, 20.01.2023“, die von Klingbeil in Auftrag gegebene (- und, soviel ich weiß, von der SPD verabschiedete -) „grundlegende Neupositionierung sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik (19.10.22) mit in der Tat zeitenwenderischen Positionen. Sie stellen mindestens ein Teil-Grundsatzprogramm dar. (Vielleicht aber hat Thiel das KIP-Papier nicht erwähnt, weil er es in weiten Teilen nicht für diskussionswürdig hält.)

Um die „historische Mission“ der SPD ist es schlecht bestellt:
Die Annahme, bei Konzeption und Implementierung „einer regelbasierten internationalen Ordnung kommt Deutschland eine ganz zentrale Rolle zu“ (Sozialdemokratische Antworten), ist Unsinn.
Die Position der BRD im Ukraine-Krieg zerbröselt ihr seit der Erklärung über mögliche Friedensbedingungen des ausgeschiedenen Nato-Generalsekretärs zwischen den Fingern.
Im akuten Gaza-Konflikt ist deutscher Rat nicht erwünscht.
Brasilien und China sprechen mit der deutschen Außenministerin nur noch niederrangig.
In der EU kann Deutschland die ihr angeblich angetragene, jedenfalls beanspruchte Führungsrolle nur noch wahrnehmen, wenn es um Ausgaben für das Militär geht.
Und Thiele trägt auch nichts dazu bei, die verschüttete „historische Mission“ der SPD wieder auszugraben.