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Jeremias Thiel: Wie ein junges SPD-Mitglied gegen Armut kämpft

Als Elfjähriger bittet er das Jugendamt, ihn von seinen Eltern zu trennen. Heute studiert Jeremias Thiel in den USA. Über seine Erlebnisse hat das SPD-Mitglied gerade ein Buch veröffentlicht. „Ich will zeigen, wie erschreckend normal Armut hierzulande ist“, sagt er.
von Kai Doering · 20. Juli 2020
„Die SPD sollte dafür sorgen, dass Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten in den Parlamenten sitzen“, findet Jeremias Thiel.
„Die SPD sollte dafür sorgen, dass Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten in den Parlamenten sitzen“, findet Jeremias Thiel.

Wie Armut riecht, kann ­Jeremias Thiel ziemlich genau sagen. Nach Käsefüßen. „Als Kind hatte ich nur ein Paar Schuhe, das ich ständig getragen habe“, erzählt der heute 19-Jährige. Schnell hätten sie angefangen zu müffeln. „Im Kommunionsunterricht war ich ziemlich verschossen in ein Mädchen und habe inständig gehofft, dass sie meine stinkenden Füße nicht riecht.

Die Mutter ist spielsüchtig, der Vater depressiv

Jeremias Thiel wird 2001 in Kaiserslautern geboren und wächst „auf dem Kotten“, dem alten Arbeiterviertel, auf. Die Mutter ist spielsüchtig, der Vater depressiv. „Beide waren nicht in der Lage zu arbeiten, hatten nie wirklich gearbeitet, lebten von Hartz IV und trieben haltlos durch einen chaotischen Alltag, der keine Struktur hatte“, erinnert sich Thiel.

Den Familienalltag managt er: geht einkaufen, füllt Formulare aus, hilft seinem Zwillingsbruder, der irgendwann in einer Spezialeinrichtung für Kinder mit besonderem Förder­bedarf untergebracht wird. Während Jeremias‘ Klassenkameraden ins Kino oder ins Freibad gehen, kümmert er sich um den Haushalt. Geld für Freizeitaktivitäten hatte er ohnehin nicht.

Mit elf geht er zum Jugendamt

An einem Abend im September 2012 bricht dieser Alltag auseinander. „Meine Mutter war psychisch in einer anderen Welt und hat meinen kranken Bruder, der gerade zu Besuch war, und mich ohne Essen in der Wohnung eingesperrt“, erzählt Jeremias Thiel. Nachbarn hören die Jungen rufen und alarmieren die Polizei. Noch bevor die eintrifft, befreit der Vater seine Söhne. Am nächsten Tag gehen die Brüder zum Jugendamt und Jeremias Thiel bittet darum, aus der ­Familie genommen zu werden. Er ist ­damals elf Jahre alt.

„Ich hatte wahnsinnige Angst und Schuldgefühle meinen Eltern gegenüber“, sagt Thiel. „Aber letztlich war es die beste Entscheidung meines Lebens.“ Das Jugendamt bringt ihn zunächst in dem Heim unter, in dem schon sein Bruder lebt. Nach einigen Tagen zieht er ins SOS-Kinderdorf in Kaiserlautern. „Dass man sich so sehr um mich kümmerte, dass ich mir um Essen, Wäsche und so weiter keine Gedanken machen musste, war fremd und gewöhnungsbedürftig, aber auch ein großer Luxus für mich“, erinnert sich Thiel. Im Kinderdorf geben sie ihm vor allem das, was er so dringend braucht: verlässliche Strukturen.

Vom SOS-Kinderdorf an die Privat-Uni

Obwohl ihn die Eltern zurückholen wollen – auch weil ihnen das Geld, das sie für ihn erhalten würden, fehlt – bleibt Jeremias Thiel fünf Jahre im Kinderdorf, wechselt in der Zeit auf eine Gesamtschule und bewirbt sich – heimlich – auf einen Platz am „United Word College“ in Freiburg, einer internationalen Internatsschule. Der Unterricht findet dort auf Englisch statt.

„Beim Auswahlverfahren der Deutschen Stiftung von UWC geht es ausschließlich nach Eignung und Begabung“, erzählt Thiel. „Wer das Schulgeld nicht aufbringen kann, erhält ein Vollstipendium.“ 2019 macht er am UWC seinen Abschluss und fliegt im August in die USA, um ein Studium am „St. Olaf College“ in Minnesota zu beginnen: Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre, wieder dank eines Stipendiums.

Armut in Deutschland – erschreckend normal

„Mein Leben, das ja noch gar nicht so lange dauert, zerfällt also in zwei Teile: die Zeit vor dem Verlassen meiner Familie und die Zeit danach“, blickt Jeremias Thiel in seinem Buch „Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance“ zurück. Es ist im Frühjahr erschienen und der 19-Jährige erzählt darin nicht nur, wie er sich aus dem Hartz-IV-Haushalt an die Privat-Uni kämpfte. Vor allem beschreibt er aus seinen eigenen Erfahrungen heraus, wie Armut in Deutschland entsteht und was sie für den Einzelnen bedeutet.

„Ich will die Stimme für die Ungehörten sein – und zeigen, wie erschreckend normal Armut hierzulande ist“, sagt Thiel. Die Schere zwischen Arm und Reich sei auch eine Schere zwischen unterschiedlichen Gesellschaften im selben Land. „Je weiter man auseinander ist, desto weniger betroffen fühlt man sich“, kritisiert er. Und Armut vererbt sich. Jedes vierte Kind in Deutschland wächst inzwischen in Armut auf. Das habe nicht nur finanzielle Auswirkungen, sondern auch emotionale. „In meinem Fall bedeutet das, dass es mir schwerfällt, Emotionen zuzulassen – weil ich das mit Schwäche zeigen verbinde“, sagt Jeremias Thiel.

Mitarbeit am SPD-Programm für die Landtagswahl

Er möchte, dass sich grundlegend etwas ändert. Auch deshalb ist er 2015 in die SPD eingetreten, im Alter von 14 Jahren. „Die SPD hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, für seine Werte und seine Geschichte, für Gerechtigkeit und für ein Mindestmaß an Respekt gegenüber jedem einzelnen Individuum einzutreten“, sagte er in einem Grußwort auf dem Landesparteitag der SPD Rheinland-Pfalz im November 2018. Zurzeit arbeitet er am Programm der Sozialdemokraten für die Landtagswahl im kommenden Jahr mit.

„Die SPD sollte dafür sorgen, dass Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten in den Parlamenten sitzen“, findet Jeremias Thiel. Auch er selbst kann sich gut vorstellen, eines Tages in die Politik zu gehen. Nach Deutschland zurückkehren möchte er auf jeden Fall. Zunächst aber will er 2023 seinen Bachelor-Abschluss am St. Olaf College machen und danach noch ein Master-Studium dranhängen. „Am liebsten in Harvard.“

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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