Wie die Migrationsdebatte in Deutschland ausländische Fachkräfte abschreckt
Nicht erst im beginnenden Bundestagswahlkampf läuft ein Überbietungswettbewerb für die härteste Zuwanderungspolitik. Dringend benötigte Fachkräfte gehen deshalb inzwischen in andere Länder, wie das Beispiel Marokko zeigt. Notwendig wäre eine ganz andere Debatte.
IMAGO / Zoonar
400.000 Fachkräfte aus dem Ausland braucht Deutschland pro Jahr. Von immer drastischeren Forderungen in der Migrationspolitik werden sie zunehmend abgeschreckt.
Marokko ist für Deutschland in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Partner: Ob Klimakooperation, ökonomische Entwicklung Afrikas, Energiewende, Terrorbekämpfung oder auch Migration, überall hat die Zusammenarbeit zwischen dem nordafrikanischen Königreich und der Bundesrepublik konkrete Fortschritte gemacht. Eine gute Zusammenarbeit, besonders im Bereich Fachkräftemigration, ist wiederum im zentralen Interesse Deutschlands. Denn in unserer alternden Gesellschaft fehlt es an allen Ecken und Enden an Arbeitskräften.
Deutschlands Ansehen ist im freien Fall
Die Vertrauensbasis für diese Zusammenarbeit wird durch die aktuelle hysterische Migrationsdebatte in Deutschland jedoch beschädigt, das angekratzte Image ziert mittlerweile tiefe Beulen. Seit den Anschlägen des 11. September 2001 ist das Gefühl, Menschen aus Nordafrika würden pauschal als Terrorist*innen beziehungsweise Terrorunterstützende stigmatisiert, eine Achillesferse – und der „Nafri“-Diskurs nach der Kölner Silvesternacht 2016/2017 ist in Marokko noch nicht verziehen. Die deutsche Position im Nahostkonflikt war schon vor dem 7. Oktober 2023 in der Region schwer zu vermitteln. Das internationale Ansehen in der arabischen Welt ist jedoch seit dem darauffolgenden Krieg Israels in Gaza, gelinde gesagt, im freien Fall.
Deutschland befindet sich international in einem harten Konkurrenzkampf mit anderen Zielländern marokkanischer Arbeitskräftemigration. Damit die Beschäftigung in den kommenden Jahrzehnten in etwa konstant bleibt, braucht die Bundesrepublik eine Nettozuwanderung von 400.000 Personen jährlich. Ohne Zuwanderung sinkt die Zahl der Arbeitskräfte in Deutschland bis 2040 um zehn Prozent.
Wir leisten uns eine zutiefst narzisstische Diskussion, in der Deutschland um sich selbst kreist und den Blick für sachorientierte Politik verliert. Wer Migrantinnen und Migranten statt der sozialen Probleme als Grundlage für islamistische Radikalisierung bekämpft, der betreibt das Geschäft der Terrorist*innen. Man sollte innehalten, wenn junge Menschen in Marokko den Aufstieg der AfD und die damit einhergehende Diskursverschiebung genauestens kennen und für sich bereits No-go-Areas in Deutschland definieren.
Soziale Probleme brauche soziale Antworten
So sieht es auch die Journalistin Dounia Z. Mseffer, die Teil des marokkanischen Netzwerks von Migrationsjournalist*innen ist. Sie schreibt: „Der Angriff in Solingen ist ein tragisches Ereignis, das leider als Katalysator für eine Intensivierung der Migrationsdebatte in Deutschland und Europa gedient hat. (…) Die einwanderungsfeindliche Rhetorik, die Migrantinnen und Migranten systematisch mit Kriminalität und Gefahr in Verbindung bringt, schafft ein Klima der Angst und des Misstrauens, das eine zunehmend repressive Sicherheitspolitik zu rechtfertigen sucht und in ihrer Konsequenz Prekaritäten und Vulnerabilitäten verschärft.“
Dabei ist längst bekannt, dass soziale Probleme soziale Antworten brauchen. Die Sicherheitsspirale muss auch rein objektiv nicht immer weiter nach oben gesponnen werden. Der Rechtsstaat ist funktional, jetzige Gesetze sind, wenn mit den entsprechenden Exekutivmitteln hinterlegt, wirkungsvoll. Das islamistische Gefährdungspotenzial in Deutschland blieb in den vergangenen Jahren stabil.
Auch der Ruf nach einem besseren Schutz der EU-Außengrenzen hält dem Faktencheck nicht stand: Die Gesamtzahl der irregulären Einreisen in die EU ist von 1,04 Millionen im Jahr 2015 auf 280.000 im Jahr 2023 gesunken. Die Bundespolizei zählte in den ersten sieben Monaten des Jahres 2024 rund 49.400 „unerlaubte Einreisen“ an den Grenzen. Das sind circa zwölf Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Gefordert sind smarte Lösungen, die die Interessen beider Länder berücksichtigen. Die immer wieder in der unsäglichen Debatte angepriesenen „Ankerzentren“ in Drittstaaten, so beispielsweise in Marokko, erfüllen diese Bedingung nicht, denn sie könnten wiederum für Marokko ein Pull-Faktor für innerafrikanische Migration sein. Damit wird also kein Problem gelöst, sondern lediglich geografisch verschoben.
Europa verspielt seine Glaubwürdigkeit
Die Migrationsjournalistin Mseffer verweist zudem auf zu erwartende Menschenrechtsverletzungen: „Durch die Auslagerung des Asyl- und Migrationsmanagements versucht Europa, seine Verantwortung auf Drittländer abzuwälzen, in denen die Menschenrechte oftmals weniger oder gar nicht respektiert werden. Dadurch entstehen rechtsfreie Räume, in denen Migranten der Verletzung ihrer Grundrechte ausgesetzt sind.“ Es bleibt schleierhaft, wie sich diese Idee angesichts der breiten Ablehnung potenziell betroffener Länder in der Diskussion halten kann. Europa ist dabei, seine Werte und Glaubwürdigkeit zu verspielen.
Die Migrationspartnerschaft, die Marokko und die Bundesrepublik Anfang 2024 beschlossen haben, hält zwar diesem holistischen Anspruch stand. Sie will zugleich legale Migrationswege ausbauen sowie Sicherheitsfragen effektiver partnerschaftlich bearbeiten. Bisher ist es ihr jedoch weder gelungen, den entglittenen Diskurs in Deutschland zu rationalisieren, noch den Imageschaden Deutschlands als Zielland in Marokko auszubügeln.
Das liegt auch daran, dass das gewählte Format der mündlichen „partnerschaftlichen“ Absprachen in Arbeitsgruppen, statt eines ausgehandelten Abkommens, eine öffentliche Debatte über die strategischen Ziele einer sinnhaften Migrationspolitik umgeht. Dabei wäre die Debatte darüber, wie wir die so dringend benötigte Migration am besten steuern, bitter nötig.
Die Konkurrenz schläft nicht
Die aktuellen Abschreckungsmaßnahmen vergraulen vor allem diejenigen, die aufgrund ihrer Ausbildung und ihres sozio-ökonomischen Status auch andere Optionen als Europa haben. Spricht man mit Researchern „on the ground“, so entsteht aktuell der Eindruck, dass es vor allem für die hochqualifizierten Marokkanerinnen und Marokkaner absurderweise einfacher erscheint, ein Visum für die USA oder Kanada als für den Schengenraum zu bekommen. Die marokkanische Mittel- und Oberschicht verfügt über akademische Abschlüsse aus nationalen, europäischen und internationalen Eliteuniversitäten, ihre Bildungsabschlüsse sind oftmals hochwertiger als die des deutschen öffentlichen Bildungssystems.
Kanada hat daher 2015 das „Express Entry“-System eingeführt, das bedürfnisorientierte Einwanderung nach einem Punktesystem evaluiert und fördert, und bei dem akademisch hochqualifizierte Einwanderungsinteressierte innerhalb von nur zwölf Monaten Antwort und eventuell den Aufenthaltstitel erhalten. Das hat ganz konkrete Auswirkungen auf die Fachkräftemigration nach Deutschland. Denn es sind dann gerade die sehr gut ausgebildeten und aufgrund westlicher Bildung und Orientierung leichter integrierbaren Menschen, die sich von Europa abwenden.
Wenig deutet gleichzeitig darauf hin, dass die Repressionen an den europäischen Außengrenzen diejenigen abschrecken, die vor Krieg und Hunger fliehen und ohnehin wenig bis nichts zu verlieren haben. Die repressive Migrationspolitik der Europäer konterkariert also die notwendigen Zuwanderungsbemühungen gleich mehrfach. Ohne eine konsequente Verbesserung, Vereinfachung und Ausweitung legaler Migrationswege wird kein einziges Problem gelöst. Dafür brauchen wir nichts weniger als eine Willkommenskultur 2.0, oder einfacher ausgedrückt: Mehr Anstand, weniger Anstellen.
ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Marokko. Zuvor war er für das Themengebiet Europäische Integration im Referat Internationale Politikanalyse zuständig.
ist Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Marokko. Zuvor war sie unter anderem Referentin für Nordafrika und Iran der Heinrich-Böll-Stiftung sowie Wissenschaftlcihe Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle des Vorderen Orients der Freien Universität Berlin.
endlich sagt dies mal jemand. Wir werden ja täglich, wenn
nicht stündlich der Mär ausgesetzt, es wären die Steuern und Sozialabgaben, die fehlenden Wohnungen sowie die hohen Mietpreise, die zuzugswillige Fachkräfte hindern, zu uns zu kommen. Nun ist es mal deutlich gesagt, es ist nur die Migrationsdebatte. Wenn wir die endlich mal beenden würden, dann ginge es auch voran mit dem Zuzug weiterer Fachkräfte. Danke VORWÄRTS, für dieses klare und überfällige Statement
Fachkräftemangel
Wie wäre es denn mit der Idee Fachkräfte selbst auszubilden (stammt von Helmut Schmidt) anstatt sie aus Ländern abzuwerben die selbst dringen Fachkräfte brauchen. Solange es einen Nummerus Clausus auf das Studium der Medizin gibt will ich mir ein Gejaule von Lauterbach + Co. zum Ärztemangel nicht antun.
Auch in der Politik fehlen Fachkräfte und ein (abgebrochenes) Studium der Politologie ist da ganz und gar nicht qualifizierend, genausowenig wie BWL, Juristerei oder ähnliches.
Alle meinen zum "Klima" quatschen zu müssen und in der Schule hatten sie Naturwissenschaft abgewählt, aber nicht kapiert daß die Naturgesetze trotzdem gültig bleiben.