Kultur

Warum Kafkas 100. Todestag Anstoß für eine neue Kulturpolitik sein sollte

Er schrieb deutsch, hatte aber nie die deutsche Staatsbürgerschaft. Das führt heute bei der Verlegung von Franz Kafkas Werk zu Problemen. Sein 100. Todestag sollte ein Anlass zum Umdenken sein.

von Klaus Wettig · 3. Juni 2024
Straßenbahn mit Kafka-Porträt in Prag: Zu seinem 100. Todestag ist der Schriftsteller in der tschechischen Hauptstadt sehr präsent.

Straßenbahn mit Kafka-Porträt in Prag: Zu seinem 100. Todestag ist der Schriftsteller in der tschechischen Hauptstadt sehr präsent.

Zu den deutschsprachigen Weltstars der Literatur des 20. Jahrhunderts gehören Bertolt Brecht und Franz Kafka. Beide haben zwar den Nobelpreis für Literatur nie erhalten, überragen jedoch in weltweiter Verbreitung und Übernahme ihres Stils die deutschen Nobelpreisträger*innen. Während Bertolt Brecht, trotz deutscher Teilung, eine sorgfältige Pflege seines Werkes erfuhr, ist dieses bei Franz Kafka nicht der Fall.

Kafkas Wiederentdeckung begann zögerlich

Die Fluchtgeschichte des Kafka-Editors Max Brod, dessen erste Editionen, sowie 
die Verteilung der Schriften auf Archive und Bibliotheken, führten zu der bisher unvollkommenen Edition des Gesamtwerkes. Als erschwerend erwies sich zudem, dass die Botschaft des Werkes von Kafka in der NS-Zeit als „entartet“ bezeichnet wurde, und dass diese Auffassung in der Bundesrepublik zunächst fortwirkte, sodass die Wiederentdeckung von Kafka und anderen von den Nazis verfolgten Autor*innen nur zögerlich begann. In der DDR blieb Kafka lange ein nicht verlegter Autor, weil sein Werk mit der kommunistischen Doktrin des „sozialistischen Realismus“ als unvereinbar galt.

Der 1883 geborene Franz Kafka war zunächst Staatsbürger der K.u.K.-Monarchie Österreich-Ungarn und dann der 1919 gegründeten Republik der Tschechoslowakei. Staatsbürger des Deutschen Reiches war er nie. Die 1945 wiederentstandene Tschechoslowakei – nun als tschechoslowakisch-sozialistischer Staat (CSSR) – nahm sich der Pflege seines Werkes nicht an. Dafür gab es zwei Gründe: Kafka schrieb Deutsch und nicht Tschechisch, was gegen die nationaltschechische Sprachenpolitik verstieß; außerdem galt auch in der CSSR die Doktrin des sozialistischen Realismus. 

Erst in den 1960er Jahren begann dort eine begrenzte Kafka-Renaissance unter dem Einfluss von Eduard Goldstücker. Verdeckt wirkte gegen die Kafka-Renaissance, dass Kafka und Goldstücker Juden waren. Trotz gegenteiliger Erklärungen war der Antisemitismus im real existierenden Sozialismus nicht verschwunden.

Eine Wanderung von Verlag zu Verlag

Nach der Wende bemühten sich deutsche Literaturwissenschaftler*innen um die notwendige historisch-kritische Edition des Werkes von Kafka. Nachdem es gelungen war, Widerstände der Bodleian-Bibliothek in Oxford, wo große Teile des Werkes liegen, zu überwinden, konnte die Neu-Edition im Verlag Stroemfeld/Roter Stern beginnen, der sich mit Qualitäts-Editionen einen Namen gemacht hatte. Roland Reuß und Peter Staengle übernahmen diese Arbeit. Leider musste dieser Verlag 2020 Insolvenz anmelden, was bei interessanten Autor*innen und Editionen zum Übergang auf andere Verlage führte. 

Die Kafka-Edition wanderte zum Göttinger Wallstein Verlag, der sich in den vorangegangenen Jahrzehnten einen Ruf als Editions-Verlag erworben hatte. Seine Editionen der ebenfalls von den Nazis als entartet bezeichneten Autoren Ernst Toller und Irmgard Keun gelten als mustergültig. Die neue Zusammenarbeit brachte die historisch-kritische Edition jedoch infolge fehlender öffentlicher Förderung nicht voran, sodass die Editoren inzwischen zum Verlag Vittorio Klostermann wechselten. 

Die Förderungszusagen für die historisch-kritische Edition sahen bisher so aus:

  • Die Tschechische Republik wollte begrenzt fördern, sah aber die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich zunächst gefordert. Schließlich habe Kafka Deutsch geschrieben, Tschechisch beherrschte er nur als Zweitsprache. Immerhin waren Verhandlungen auf der Ministerebene mit dem damaligen Außenminister Karel Schwarzenberg geführt worden, was aber später wenig wirksam war, zumal die tschechische Kafka-Gesellschaft ins Visier der Strafverfolgung geriet.

    Die Beziehung der tschechischen Kulturpolitik zu Kafka ist weiterhin zwiespältig. Am Kafka-Tourismus verdient die Stadt Prag, jedenfalls suchen die internationalen Tourist*innen nach Kafkas Spuren. Am tschechischen Buchmarkt ist Kafka nur begrenzt vorhanden, denn nach wie vor fehlen Übersetzungen.
     
  • Die Republik Österreich war zu größeren Beiträgen bereit, erwartete aber, dass die Bundesrepublik den höheren Zuschuss leistet.
     
  • Das Land Hessen sah sich nur zu einer begrenzten Förderung in der Lage, obwohl der Verlag in Frankfurt a.M. saß: Kein Hessen-Bezug; kein hessischer Autor hieß die Begründung. Auch in Hessen engagierte sich die Politik für die Förderung. Das Wohlwollen von Ministerpräsident Volker Bouffier reichte nicht über seine Amtszeit hinaus, wieder einmal bewährte sich die Erkenntnis: Minister kommen und gehen, das Ministerium bleibt bestehen. Das zuständige Referat blieb der hessischen Provinz verpflichtet. – Kein Landesbezug hieß die Referentenantwort.
     
  • Auch eine Anfrage bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier führte nicht zum Erfolg. Das Bundespräsidialamt fand keinen Fördertopf. 

Die europäische Geschichte hatte den vor 100 Jahren am 3. Juni 1924 verstorbenen Franz Kafka zu einem literarisch staatenlosen Autor gemacht.

Die von den Nazis erzeugte Distanz wirkt nach

Die Erzählung über die eine historisch-kritische Edition der Werke Franz Kafkas und die damit verbundene Suche nach einer angemessenen Förderung, die nach Schätzungen rund eine Million Euro betragen müsste, klingt wie von Kafka erdacht. Tatsächlich spiegelt sich in diesem Werkschicksal die Kulturpolitik der Bundesrepublik sowie der DDR, wo aus unterschiedlichen politischen Gründen die Rückkehr der von Vertreibung und Vernichtung erfassten künstlerischen Moderne nur zögerlich betrieben oder sogar nicht erwünscht war. Was nicht nur die Literatur betraf, auch die Bildende Kunst, die Musik, den Film, die Architektur – sogar das Design – überwanden nur langsam oder gar nicht die Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nazis.

In der Bundesrepublik der ersten Nachkriegsjahrzehnte wirkte die von den Nazis erzeugte Distanz zur vertriebenen Moderne fort, und die DDR sah sich nur dem sozialistischen Teil verpflichtet. So bestimmten einzelne Initiativen die Rückkehrpolitik. Einige Verlage nutzen die Rechte ihrer vertriebenen Autoren, wie S. Fischer, Rowohlt und andere. Privates Engagement führte zur ersten „documenta“ 1955 und mutige Unternehmer griffen auf das Bauhaus-Design zurück, wie Braun und Rosenthal.

Als Hindernis für eine gesamtstaatliche Politik erwies sich der Kulturföderalismus, der bei fehlendem Landesbezug Handeln verhinderte oder ausschloss. Mit diesem Problem kämpft die gesamtstaatliche Kulturpolitik bis zum heutigen Tage, obwohl seit dem Tag der deutschen Einheit 1990 gesamtstaatliches Handeln unabweisbar ist. Die aktuelle Diskussion über ein Gedenkstättenkonzept belegt erneut eine unbefriedigende Kulturpolitik.

Ein fortdauerndes Versäumnis gesamtstaatlicher Kulturpolitik

Bezogen auf die Literaturpolitik scheint ein Konzept zu fehlen, sonst wäre der „Fall Kafka“ nicht entstanden. Auffällig sind dabei die Autor*innen betroffen, die Deutsch geschrieben haben, aber keine deutschen Staatsbürger*innen waren, wie z.B. Franz Werfel. Dass deren Wiederentdeckung und Werkpflege dem Spürsinn einiger Verlage überlassen bleibt, zeigt ein fortdauerndes Versäumnis gesamtstaatlicher Kulturpolitik. Als jüngstes Beispiel für diese Suche nach Vertriebenen und Vergessenen ist die Arbeit des Schöffling-Verlages zu loben, der Gabriele Tergit wiederentdeckt hat.

Der 100. Todestag von Franz Kafka sollte Anstoß für eine neue Kulturpolitik als Teil einer Erinnerungspolitik sein, die Werkpflege, Sicherung von Rechten, historisch-kritische Editionen, Suche und Ankauf von Skripten, Übersetzungsförderung im nächsten Jahrzehnt in das gesamtstaatliche Handeln aufnimmt.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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