Kultur

Literaturnobelpreis für Louise Glück: Überraschung und ein demokratisches Signal

Bereits vor der Bekanntgabe stand fest: Der diesjährige Literaturnobelpreis soll an eine Autorin gehen. Die Auszeichung der us-amerikanischen Lyrikerin Louise Glück ist auch ein Zeichen kurz vor der schicksalshaften Präsidentenwahl in den USA.
von Klaus-Jürgen Scherer · 8. Oktober 2020
Ausgezeichnet „für ihre unverkennbare poetische Stimme“: Louise Glück ist Trägerin des Literaturnobelpreises 2020.
Ausgezeichnet „für ihre unverkennbare poetische Stimme“: Louise Glück ist Trägerin des Literaturnobelpreises 2020.

Nichts war mehr normal. Zuerst der große Skandal in der altehrwürdigen Schwedischen Akademie: Im November 2017 wurden im Zuge der #MeToo-Debatte Enthüllungen bekannt, zahlreiche Frauen brachten öffentlich Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe gegen Jean-Claude Arnault vom Vergabekomitee vor, führende Akademie-Mitglieder mussten ihre Ämter niederlegen, Arnault wurde wegen Vergewaltigung Ende 2018 sogar zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Zudem warf die Akademie Katarina Frostenson und Arnault u.a. vor, gegen ihre Geheimhaltungspflicht verstoßen zu haben und Preisträgernamen verraten zu haben. Am Ende wurde 2018 zunächst gar kein Literaturnobelpreis mehr vergeben. Der wichtigste der Nobelpreise schien am Ende.

Der Nobelpreis-Skandal aus dem vergangenen Jahr

Dann gab es nach einer Neuaufstellung des Nobelpreiskomitees im vergangenen Jahr eine Doppelvergabe der Literaturnobelpreise für 2018 und 2019. Doch geriet damit nichts in ruhigeres Fahrwasser, sondern es entstand das nächste große Ärgernis. Denn neben der viel gelobten Entscheidung für die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk (u.a. „Gesang der Fledermäuse“, „Die Jakobsbücher“), die für die Freiheit des Wortes und der Kultur in Polen steht, wurde für 2019 der umstrittene Peter Handke als Preisträger ausgezeichnet.

Damit war der nächste weltweite Skandal da. Gegen den Österreicher Handke gab es zahlreiche Proteste und eine intensive Debatte darüber, wie stark das „geniale“ künstlerische Werk von Ansichten, Charakter und Unmoralität der Person des Autors trennbar ist, oder eben nicht. Dabei wird immer das gesamte Lebenswerk ausgezeichnet – es geht nicht nur um einzelne Schriften. Doch Handke hatte sich im Jugoslawien-Konflikt auf die serbische Seite geschlagen und – so der Vorwurf – die von Serben begangenen Kriegsverbrechen bagatellisiert oder geleugnet, bis dahin, dass er für Slobodan Milosevic eine Grabrede hielt.

In Deutschland war es vor allem die Kritik des Schriftstellerkollegen Saša Stanišić, Träger des Deutschen Buchpreises von 2019, die viele überzeugte. Stanišić thematisierte in seinem preisgekrönten Erfolgsroman „Herkunft“ die Besetzung seiner Heimat durch bosnisch-serbische Truppen, wurde zum Gegenspieler von Handke: „Ich hatte das Glück, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt…Mich erschüttert, dass so etwas prämiert wird“.

In Deutschland vor allem einem Fachpublikum bekannt

Nun also die diesjährige Entscheidung des diesmal mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (rund 950.000 Euro) bestens dotierten Nobelpreises. Klar war, eine Frau sollte es diesmal sein, deshalb waren u.a. Margaret Atwood und Annie Ernaux von den Buchmachern hoch gehandelt worden. Es wurde nun die 1943 in New York City geborene Lyrikerin und Essayistin Louise Glück.

Bereits im Jahr 1968 erschien ihr erstes Gedichtbuch Firstborn. 1971 nahm Louise Glück eine Dozentur am Goddard College (Vermont) an. Anschließend hatte sie 20 Jahre lang eine Professur am Williams College inne. Von 1999 bis 2003 war sie Kanzlerin der Academy of American Poets. Seit 2004 ist sie Rosenkranz Writer in Residence und Professorin für Englisch an der Yale University.

In Deutschland wurde sie zumindest einem Fachpublikum, den Interessent*innen amerikanischer Lyrik bekannt. Denn immerhin zwei ihrer Gedichtbände wurden ins Deutsche übersetzt und sind im Luchterhand Literaturverlag erschienen: Averno. Gedichte (München 2007) und Wilde Iris. Gedichte (München 2008). 1993 erhielt sie den Pulitzer Prize, 2014 den National Book Award.

Ein Streben nach Klarheit

Die 77-Jährige werde „für ihre unverkennbare poetische Stimme“ ausgezeichnet, mit der sie „mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell“ mache, sagte der Ständige Sekretär der Königlich-Schwedischen Akademie, Mats Malm. Ihr Werk sei gekennzeichnet durch ein Streben nach Klarheit. Bei Wikipedia stand bereits vor der Preisverleihung: „Ein Themenschwerpunkt der im freien Rhythmus einer natürlich dahinfließenden Sprache verfassten, komplex strukturierten Gedichte mit pulsierenden Versen ist die Auseinandersetzung des Menschen mit den Unwägbarkeiten der Natur.“

Diese Wahl ist sicher auch, wie früher so oft, ein politisches Signal des Nobelpreiskomitees. Die gute Nachricht ist: Handke wurde nicht zum Auftakt weiterer Grenzüberschreitungen, mit Rechts- oder Linkspopulismus hat die Akademie nichts (mehr) zu tun. Die Wahl ist auch ein Appell an die Welt, vor lauter Trump nicht die demokratische Normalität der großartigen amerikanischen Nation aus den Augen zu verlieren.

Eben ein Zeichen kurz vor der schicksalshaften Präsidentenwahl, dass es ein anderes Amerika gibt als das von Twitter, Fake News, wüster Polarisierung, Machogehabe und Großmäuligkeit. Eben das von bester Bildung, von Spitzenuniversitäten, von Frauen in Führungspositionen, von feinem Sprachgefühl und besonderer Sprachästhetik. Wir sind neugierig, bald werden wir sicher mehr auf Deutsch von Louise Glück lesen können.

Autor*in
Klaus-Jürgen Scherer

ist Redakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

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