Kultur

Kinofilm „Schatten der Nacht“: Zwei Brüder in einer gespaltenen Türkei

Auf dem Weg ins Militärgefängnis stellen sich Sinan und Kenan schmerzhaften Wahrheiten. Anhand der Geschichte zweier Brüder skizziert das Kinodrama „Schatten der Nacht“ den Alltag in einer von Polarisierung gezeichneten Türkei. Ein Film von hoher Aktualität.

 

von Nils Michaelis · 28. März 2025
Szene aus dem Film "Schatten der Nacht"

Nicht nur optisch eine kafkaeske Szene: Der Karriereoffizier Sinan (Ahmet Rifat Sungar, Bildmitte) erhält von seinem Vorgesetzten einen herausfordernden Auftrag.

Eigentlich hatte man schon lange erwartet, dass irgendwann offen Gewalt ausbricht. Als es dann tatsächlich dazu kommt, ist die Überraschung trotzdem groß. Die Szene in „Schatten der Nacht“ zeigt einen Busbahnhof im Südosten der Türkei: Ein aggressiver Mob tobt, in seinen Fängen befinden sich zwei Männer, die einer Institution angehören, die seit der vergangenen Nacht unter Generalverdacht steht. Gemeint ist die türkische Armee. Teile von ihr haben versucht, gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zu putschen. Die wütende Meute zwischen den Bussen macht deutlich, dass sie auf Erdoğans Seite steht.

Eine beispiellose Welle der Repression 

Die reale Chaos-Situation im Juli 2016 bildet den großen Rahmen des Kinodramas, das bei den letztjährigen Filmfestspielen in Venedig seine Premiere feierte. Im Mittelpunkt steht allerdings nicht der Putschversuch selbst, der nach einigen blutigen Zusammenstößen von Armee und Polizei (Schätzungen gehen von 249 Toten aus) scheiterte, eine beispiellose Welle der Repression in der Türkei nach sich zog und dafür gesorgt hat, dass Erdoğan und seine Fans bis heute vom Freund-Feind-Schema besessen sind. Letzteres drückt sich auch in der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu aus

Das Zentrum der Handlung ist dagegen eine persönliche, wenngleich von äußeren Einflüssen geprägte  Geschichte. Es geht um zwei Brüder, die gemeinsam mehrere Grenzsituationen durchleben und dabei ihrem beiderseitigen Verhältnis und der Geschichte ihrer Familie auf den Grund gehen. Kurz vor dem Militärputsch erhält Sinan einen merkwürdigen Auftrag: Der junge Offizier soll seinen Bruder Kenan in eine Haftanstalt der Streitkräfte bringen. Dort soll ihm wegen staatskritischer Äußerungen der Prozess gemacht werden. Während der Reise durch das von angespannter Stille erfasste Land wird deutlich, wie unterschiedlich die Brüder gelagert sind. 

Der karriereorientierte Sinan gibt sich loyal gegenüber der Armee und dem Staat, dem sie dient. Sein Bruder, der einem niederen Dienstgrad angehört, verkörpert das genaue Gegenteil. Der ebenso stoische wie aggressive Kenan konfrontiert ihn mit kritischen Fragen. Er sorgt dafür, dass sich in dem auch äußerlich makellosen, auf Karriere getrimmten Bruder Zweifel regen. Erst recht, als sie auf den Tod des von beiden betrauerten Vaters zu sprechen kommen, der ebenfalls ein Gewächs des Militärs war. Sinan wird dabei einer unbequemen Wahrheit gewahr, die er wohl verdrängt hat. 

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Als sich in der Nacht des Putsches die Meldungen über gewaltsame Aktionen verdichten, erleben auch die Brüder einen Showdown: Sie müssen sich entscheiden, für wen sie Partei ergreifen. Was ihnen ihre politischen wie moralischen Überzeugungen Wert sind. Und ob die familiäre Bindung stärker ist als das, was sie trennt. Die Familie wird zu einem Brennglas von Dynamiken, die schon vor dem Putschversuch das Land erfasst hatten und nach der Niederschlagung weiter eskalierten. Damit knüpft Regisseur Türker Süer gewissermaßen an seinen Kurzfilm „Brüder“ an, der ebenfalls auf internationalen Festivals gezeigt wurde.

Reise durch eine feindselige und undurchsichtige Welt des Übergangs

Dieser schmerzhafte Klärungsprozess vollzieht sich innerhalb einer kafkaesken Szenerie, die Sinan und Kenan als einsame Reisende in einer feindseligen und undurchsichtigen Welt des Übergangs erscheinen lässt, in der jederzeit alles möglich ist. Überdeutlich wird dies, wenn Sinan durch die ramponierten Flure einer weitgehend leerstehenden Kaserne läuft.

Keine Frage: Das Langfilmdebüt von Türker Süer bietet wegen der subtilen Bildsprache reichlich Atmosphäre. Weil die Dialoge meist karg und kryptisch bleiben, entfaltet sich das Drama der beiden Brüder erst nach und nach. 

Vieles, wenn nicht gar zu vieles, bleibt in der Schwebe, und zwar bis zum Schluss. Das ist schade. Denn auch die eindrücklichste Optik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Film eine schlüssige, die gesamte Spielzeit tragende und letztlich zumindest auf ungefähre Klarheit abzielende Dramaturgie fehlt. Die bereits im Großen unübersichtliche politische Situation auch auf der Mikroebene in Unklarheit zu lassen, ist zu wenig. 

Gesellschaften auf der Kippe

Wer dieses Vorgehen hingegen als eine konsequente Form von Realismus betrachtet, dürfte an „Schatten der Nacht“ Vergnügen finden. Seine guten Momente hat dieser Versuch einer Innenansicht eines gespaltenen Landes so oder so. Türker Süer, ein in Deutschland geborener Filmemacher mit Wurzeln in der Türkei, möchte den Film als Parabel auch auf andere Gesellschaften, die auf der Kippe stehen, verstanden wissen.

„Schatten der Nacht“ (Deutschland/Türkei 2024), ein Film von Türker Süer, mit Ahmet Rifat Sungar, Berk Hakman und anderen, 85 Minuten, OmU.

Im Kino. Weitere Infos unter realfictionfilme.de

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