Lage in der Türkei: Was Ekrem İmamoğlu so gefährlich für Erdoğan macht
Auch im Gefängnis ist Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu eine große Gefahr für den türkischen Präsidenten Erdoğan. Davon ist Macit Karaahmetoğlu überzeugt. Im Interview sagt der SPD-Abgeordnete, warum Erdoğan İmamoğlu fürchten muss und wie es um die Demokratie in der Türkei steht.
IMAGO/Middle East Images
Demonstrant mit İmamoğlu-Maske in Izmir: ein Altraum für Erdoğan
Am Mittwoch ist Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu verhaftet worden. Am Sonntag hat ihn seine Partei, die CHP, als Kandidat für die türkische Präsidentschaftswahl 2028 nominiert. Millionen Türk*innen haben zudem symbolisch ihre Stimme abgegeben. Wie bewerten Sie diese Nominierung?
Die Nominierung von Ekrem İmamoğlu hat eine große symbolische Wirkung und wird ihn und seine Rolle für die türkische Opposition noch weiter stärken. Erdoğan hat ja mit allen Möglichkeiten des Staates versucht, Druck auf İmamoğlu auszuüben. Er hat versucht, ihn zu diskreditieren. Kurz vor seiner Verhaftung hat er ihm noch seinen Universitätsabschluss aberkannt und ihn dann ins Gefängnis werfen lassen. Und trotzdem hat es Erdoğan nicht geschafft, İmamoğlus Popularität zu bremsen. Dass sich nun so viele Menschen an der Wahl des CHP-Kandidaten beteiligt haben, trotz aller Repressalien, ist ein extrem starkes Zeichen. İmamoğlu hat sich zu einem Albtraum für Erdoğan entwickelt.
Erdoğan hat schon früher die Opposition unter Druck gesetzt, schien aber zuletzt eher gesprächsbereit zu sein. Haben Sie damit gerechnet, dass er zu derart drastischen Maßnahmen gegen İmamoğlu greift?
Nein, damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe ja Kontakte zu verschiedenen Abgeordneten der Oppositionsparteien, der CHP aber auch zu anderen Parteien. Und ich tausche mich auch mit Mitgliedern von Erdoğans AKP aus. Niemand hat damit gerechnet, dass Erdoğan zu diesen Mitteln greift. Er geht damit ja durchaus auch ein großes Risiko ein, was die Proteste überall im Land zeigen.
Macit
Karaahmetoğlu
Ekrem İmamoğlu ist jemand, der alle Gruppierungen in der Türkei vereinen kann.
Wie gefährlich können die Erdoğan werden?
Erdoğan hat mit seinem Vorgehen eine Situation geschaffen, in der er eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten hat. Entweder, er lässt die Proteste gewaltsam niederschlagen oder er läutet das Ende seiner Ära. Erdoğan weiß, dass es sein politisches Ende ist, wenn er İmamoğlu freilässt. Wenn er ihn weiter gefangen hält, werden auch die Proteste weitergehen und sich möglicherweise noch ausweiten. Dann könnte ihm nur noch die Möglichkeit bleiben, die blutig niederzuschlagen. Das ist eine höchst gefährliche Situation, die uns allen große Sorge macht.
Welche Rolle spielt Ekrem İmamoğlu für die CHP und die Opposition in der Türkei?
Er ist die Identifikationsfigur schlechthin. Ekrem İmamoğlu ist jemand, der alle Gruppierungen in der Türkei vereinen kann. Angefangen von den Religiösen, die eigentlich dem Erdoğan -Lager angehören, bis hin zu liberalen Türken und verschiedenen Ethnien, wie zum Beispiel den Kurden in der Türkei. Er spricht auch unterschiedliche religiöse Strömungen an, Aleviten wie Sunniten. Diese breite Ansprache ist das, was İmamoğlu so gefährlich für Erdoğan macht.
Macit
Karaahmetoğlu
Die Bundesregierung und auch die EU müssen ganz klar machen, dass sie ein solches Vorgehen gegen die Opposition nicht tolerieren.
Erdoğan lässt Oppositionelle ins Gefängnis werfen und schränkt die Medien ein. Gleichzeitig gehen Hunderttausende trotz Verbots auf die Straße, um zu demonstrieren. In welchem Zustand ist die Demokratie zurzeit in der Türkei?
Die türkische Demokratie hat ja immer gewisse Mängel gehabt, auch schon vor der Zeit von Erdoğan. Aber sie hat allgemein funktioniert. Die Machtwechsel haben durch Wahlen stattgefunden. Und die Wahlen waren auch im Großen und Ganzen fair. Erdoğan hat ein System in der Türkei aufgebaut, in dem er die Möglichkeiten des Staates als eine Waffe gegen die Opposition einsetzt, indem er zum Beispiel die Justiz instrumentalisiert hat für seine Zwecke. Das war im Fall des früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş der Fall, der seit 2016 in Haft ist, und dasselbe passiert jetzt bei Ekrem İmamoğlu. Seine Verhaftung hat aber nochmal eine andere Qualität und ist eine echte Zäsur.
Inwiefern?
Wenn der Oberbürgermeister der mit Abstand größten Stadt in der Türkei mit 16 Millionen Einwohnern, der ganz klar und eindeutig gewählt worden ist, abgesetzt wird, und wenn der große Hoffnungsträger der Opposition, der in allen Umfragen vor Erdoğan liegt, kaltgestellt wird, dann geht es nicht nur um Mängel in der Demokratie. Dann stellt sich vielmehr die Frage, ob die Türkei überhaupt noch eine Demokratie ist.
Was bedeutet das für das künftige Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland und zwischen der Türkei und der Europäischen Union?
Da wird man einen Balanceakt hinkriegen müssen. Die Bundesregierung und auch die EU müssen ganz klar machen, dass sie ein solches Vorgehen gegen die Opposition nicht tolerieren. Dinge wie die Zollunion oder Visa-Erleichterungen kann es nur geben, wenn die Türkei sich zumindest an rudimentäre demokratische Grundsätze hält. Gleichzeitig haben die EU und die Türkei im Bereich der Sicherheitspolitik aber dieselben Interessen. Russland etwa ist eine Bedrohung nicht nur für Europa, sondern auch für die Türkei. Und ein starkes Russland würde fundamentalen Interessen der Türkei widersprechen, auch über die Ukraine hinaus. Das heißt, die EU muss Wege finden, in diesen Bereichen weiter mit der Türkei zusammenzuarbeiten, auch wenn es unter den neuen Vorzeichen sicher deutlich schwieriger wird.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.