Festnahme von Oppositionsführer İmamoğlu: „ziviler Putsch“ in der Türkei
Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wurde festgenommen. Er gilt als der größte Konkurrent Erdogans, sollte am nächsten Wochenende zum Präsidentschaftskandidaten der CHP gewählt werden. Politiker*innen sprechen nun von einem „zivilen Putsch“.
IMAGO/Depo Photos
Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu ist am Mittwoch verhaftet worden.
Istanbul gleicht an diesem Mittwochmorgen einem Hochsicherheitstrakt. Tausende von Polizist*innen haben die Straßen von İmamoğlus Haus, der Polizeihauptwache, dem Istanbuler Rathaus oder dem zentralen Taksimplatz weiträumig abgeriegelt. Der Gouverneur hat ein viertägiges Demonstrationsverbot verhängt, zentrale Metrostationen wurden geschlossen, das Internet verlangsamt, der Zugang zu sozialen Medien und Plattformen wie X und Youtube gedrosselt. Kein Mucks soll sich regen gegen das, was türkische Oppositionspolitiker*innen bereits jetzt einen „zivilen Putsch“ nennen.
106 weitere Menschen festgenommen
Im Morgengrauen fuhren 20 Polizeiwagen zum Haus des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu. Beamte durchsuchten sein Haus, nahmen İmamoğlu fest. Zeitgleich ließ man 106 weitere Menschen festgenehmen, darunter Bezirksbürgermeister von İmamoğlus Partei CHP, aber auch Journalist*innen, Bürokrat*innen, Geschäftsleute, İmamoğlus engste Vertraute. Seit Wochen und Monaten warnte İmamoğlu davor, dass genau das passieren würde.
Die Staatsanwaltschaft wirft İmamoğlu in mehreren Verfahren vor, Anführer einer kriminellen Organisation zu sein, außerdem Bestechung, Ausschreibungsmanipulation, Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Verbindungen zur PKK. Die Liste ist lang und unübersichtlich.
Schon am Dienstag wurde İmamoğlus Diplom annulliert
Der wahre Grund für all diese Verfahren dürfte ein anderer sein: Am kommenden Sonntag soll İmamoğlu eigentlich von seiner Partei CHP zum Präsidentschaftskandidaten gewählt werden. Zwar stehen keine regulären Wahlen an, doch vorgezogene Neuwahlen sind seit längerem im Gespräch.
Die Opposition fordert Neuwahlen wegen der kritischen Wirtschaftslage und nicht enden wollenden Hyperinflation; Erdogan bräuchte sie, um noch einmal antreten zu können. Umfragen zeigen İmamoğlu deutlich vor Erdogan, er gilt seit langem als Erdogans gefährlichster Gegner. Am Dienstagabend hatte die Universität Istanbul bereits İmamoğlus Universitätsdiplom annulliert – ohne Diplom darf İmamoğlu nicht als Präsident kandidieren. Ihm wird ein angeblich unrechtmäßiger Universitätswechsel vor mehr als 30 Jahren vorgeworfen. İmamoğlu bestreitet das, Jurist*innen sehen die Annullierung als rechtlich ungültig und politisch motiviert.
İmamoğlu will sich nicht entmutigen lassen
Vor seiner Verhaftung veröffentlichte İmamoğlu ein Video auf X und erklärte: „Wir stehen einer großen Tyrannei gegenüber, aber ich möchte, dass Sie wissen, dass ich mich nicht entmutigen lasse.“ CHP-Chef Özgür Özel verkündete am Morgen, seine Partei werde an der Kandidatur İmamoğlus festhalten. „İmamoğlu wird Erdogan schlagen“, erklärte Özel im türkischen Fernsehen und fügte hinzu: „Die Türkei steht vor einem Putschversuch.“ Weitere Oppositionsparteien schlossen sich dieser Sicht an.
Die republikanische CHP, Schwesterpartei der SPD, hatte noch vor einem Jahr die landesweiten Kommunalwahlen gewonnen, regiert nun die wichtigsten Städte des Landes. Erdogans AKP war seit Jahrzehnten zum ersten Mal auf Platz zwei gelandet. Erdogan räumte damals seine Niederlage ein, lud die Opposition zu einer „Normalisierung“ der Beziehungen ein. Viele Türk*innen zweifelten schon damals an der Aufrichtigkeit von Erdogans Absichten.
Türkische Börse stürzt ab
Nach İmamoğlus Festnahme ist die türkische Bevölkerung nun wie paralysiert, ermüdet von Jahren der Hyperinflation und politischem Druck. Fraglich ist, ob und wie sie gegen die Festnahme demonstrieren wird, nachdem jegliche Protestform verboten wurde. Die türkische Börse stürzte in den Stunden nach İmamoğlus Festnahme ab, die türkische Lira verlor gegenüber Dollar und Euro immens an Wert. Das Vertrauen in den türkischen Rechtsstaat ist erneut erschüttert.
Dabei geht die Türkei derzeit durch eine kritische Phase: Der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan hatte vor kurzem seine Kämpfer aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen und die PKK aufzulösen. Das weckte bei vielen Menschen Hoffnung auf Frieden und mehr Demokratie. Die heutigen Entwicklungen lassen das Gegenteil befürchten.
Reaktionen aus der SPD auf die Verhaftung İmamoğlus lesen Sie hier.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.
Ziviler Putsch
Natürlich war dies wieder einmal ein Putsch seitens des widerlichen Despoten Erdogan, der sich in einer Reihe ähnlicher Diktatoren wie Trump, Putin, Netanjahu oder Orban wohlzufühlen scheint.
Denn auch der Putsch im Sommer 2016 war von Erdogan inszeniert, um politische Gegner absetzen und einsperren lassen zu können.
Hier sollte die Bundesregierung nicht weiter wie früher unter Merkel, diesem Despoten mit Geldern und Zugeständnissen willfährig sein, sondern eine gleiche Linie fahren wie gegenüber Putin.